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Aus: Prawda, Nr.144, 30. Juni 1923.
Nachgedruckt als Anhang 1 in L.D. Trotzki, Europa und Amerika: Zwei Reden, Neuer Deutscher Verlag, Berlin, 1926, S.92-100.
Nachgedruckt in Leo Trotzki, Wohin treibt England/Europa und Amerika, Verlag Neuer Kurs, Berlin 1972.
Die Rechtschreibung wurde der neuen Rechtschreibung angepasst.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.
Ich meine, dass es an der Zeit ist, neben der Parole „Arbeiter- und Bauernregierung“ eine andere aufzustellen: „Die Vereinigten Staaten von Europa“. Nur die Verbindung dieser beiden Parolen wird die brennendsten Fragen der europäischen Entwicklung in einer den Zeitumständen angemessenen Weise beantworten können.
Der letzte imperialistische Krieg war in seinen Grundzügen ein europäischer Krieg. Die vorübergehende Teilnahme Amerikas und Japans an den Kriegsereignissen ändert nichts an seinem Wesen. Nachdem Amerika erreicht hatte, was es wollte, zog es seine Hand aus dem europäischen Brandherd und ging nach Hause.
Die treibende Kraft an diesem Kriege waren kapitalistische Produktivkräfte, die über den Rahmen der europäischen Nationalstaaten hinausgewachsen sind. Deutschland stellte sich die Aufgabe, Europa zu „organisieren“, d.h. den europäischen Kontinent unter seiner Leitung wirtschaftlich zu vereinigen, um später den eigentlichen Kampf mit England um die Weltherrschaft zu beginnen. Frankreich machte sich zur Aufgabe, Deutschland zu zersplittern. Die geringe Bevölkerung Frankreichs, ihr vorwiegend agrarischer Charakter und der Konservatismus seiner Wirtschaftsformen machen es der französischen Bourgeoisie unmöglich, an das Problem – Europa zu organisieren – auch nur heranzutreten, dessen Lösungsversuch dem mit der Kriegsmaschine der Hohenzollern ausgerüsteten deutschen Kapitalismus das Rückgrat gebrochen hat. Das siegreiche Frankreich balkanisiert Europa, um seine Herrschaft zu stützen. Großbritannien provoziert und protegiert die französische Politik der Zergliederung und Aushungerung Europas, – es tut das nicht offen, sondern in der traditionellen englischen heuchlerischen Weise. Die Folge davon ist, dass unser unglückseliger Kontinent zerrissen, zersplittert, erschöpft, desorganisiert, balkanisiert – in ein Tollhaus verwandelt ist. Der Ruhrfeldzug ist ein Symptom eines Tobsuchtsanfalls, dem es nicht an scharfsinniger Berechnung fehlt (der endgültige Ruin Deutschlands) – eine Kombination, die die Psychiatrie häufig festgestellt hat.
Ebenso wie der Weltkrieg dem Bedürfnis entsprang, die Produktivkräfte auf eine breite, zollschrankenfreie Entwicklungsbahn zu bringen, ebenso ist auch die Europa und die ganze Menschheit zerstörende Ruhrbesetzung ein verzerrter Ausdruck des Strebens, die Ruhrkohle mit dem lothringischen Eisen zu verbinden. In jenen staatlichen Zollschranken, die Versailles Europa aufgezwungen hat, kann sich der Kontinent nicht entwickeln. Er muss diese Grenzen sprengen, wenn er dem ökonomischen Ruin entgehen will. Aber die Methoden, die die regierende Bourgeoisie anwendet, um die von ihr selbst geschaffenen Grenzen zu überwinden, vergrößern noch das Chaos und den Zerfall.
Die Unfähigkeit der Bourgeoisie, die Lösung der grundlegenden Fragen des wirtschaftlichen Wiederaufbaus Europas in die Hand zu nehmen, wird den werktätigen Massen immer deutlicher. Die Parole „Arbeiter- und Bauernregierung“ kommt diesem wachsenden Bedürfnis der Werktätigen, selbständig und aus eigener Kraft einen Ausweg zu finden, entgegen. Es ist an der Zeit, auf diesen Ausweg konkret hinzuweisen: er ist – enge wirtschaftliche Kooperation der europäischen Völker, als das einzige Mittel, unseren Kontinent vor der wirtschaftlichen Zersetzung und Unterjochung durch das überstarke amerikanische Kapital zu retten.
Amerika hat sich von Europa zurückgezogen, es wartet in aller Ruhe ab, bis die Agonie der europäischen Wirtschaft einen Grad erreicht, bei dem Europa – ebenso wie Österreich – um billiges Geld aufgekauft werden kann. Aber weder kann Frankreich sich von Deutschland zurückziehen, noch Deutschland Frankreich den Rücken kehren. Deutschland und Frankreich bilden zusammen den Grundkern Westeuropas. Hier steckt der Konflikt und die Lösung des europäischen Problems. Alles übrige ist nur Beiwerk. Dass die Balkanstaaten außerhalb der Föderation weder leben noch sich entwickeln können, das ist schon lange vor dem imperialistischen Kriege anerkannt worden. Das gilt auch von den Scherben des österreich-ungarischen Imperiums und von den westlichen, außerhalb der Sowjetunion gebliebenen Teilen des zaristischen Russland. Apenninen, Pyrenäen, Skandinavien – sind in den Ozean vorgeschobene Organe des europäischen Körpers. Sie sind nicht imstande, selbständig zu existieren. Der europäische Kontinent ist bei dem jetzigen Niveau der Produktivkräfte eine wenn auch nicht isolierte, aber innerlich eng verbundene wirtschaftliche Einheit – das zeigte sich in der furchtbaren Katastrophe des imperialistischen Krieges und auch heute wieder – bei der Ruhrbesetzung. Europa ist kein geographischer Terminus, sondern ein wirtschaftlicher, der, zumal unter den gegenwärtigen Nachkriegsverhältnissen etwas weit Konkreteres ist als der Terminus Weltmarkt. Wenn wir schon lange gewohnt sind, die Notwendigkeit einer Föderation der Balkanhalbinsel einzusehen, so wird es allmählich an der Zeit, auch das balkanisierte Europa im selben Lichte zu sehen.
Es bleibt die Frage nach der Sowjetunion einerseits und Großbritannien andererseits. Es versteht sich von selbst, dass die Sowjetunion einer föderativen Vereinigung Europas mit Europa nicht im Wege sein wird. Dadurch wird eine dauerhafte Brücke zwischen Europa und Asien geschlagen.
Die englische Frage wird unter gewissen Vorbehalten zu lösen sein, – je nach dem Tempo der revolutionären Entwicklung Englands. Wenn die „Arbeiter- und Bauernregierung“ den europäischen Kontinent vor dem Zusammenbruch des englischen Imperialismus erobern sollte – und das ist sehr wahrscheinlich –, so wird die europäische Arbeiter- und Bauernföderation sich automatisch gegen das englische Kapital richten. Es braucht nicht erwähnt zu werden, dass, wenn die englischen Inseln das Joch des Kapitals abgeschüttet haben, sie als erwünschtes Mitglied der europäischen Föderation beitreten werden.
Man könnte die Frage aufwerfen: warum europäische und keine Weltföderation? Diese Fragestellung dürfte jedoch zu abstrakt sein. Es ist klar, dass die internationale wirtschaftliche und politische Entwicklung nach einheitlicher Weltwirtschaft tendiert, deren Zentralisierungsgrad dem technischen Niveau entsprechen wird. Aber es handelt sich hier nicht um die künftige sozialistische Weltwirtschaft, sondern um die Frage, wie das gegenwärtige Europa aus der Sackgasse herauskommen könnte. Den Arbeiter und Bauern des zersplitterten und ruinierten Europas muss ein Ausweg gewiesen werden, unabhängig von dem, welches Tempo die Revolution in Amerika, Australien, Asien und Afrika einschlagen wird. Von diesem Gesichtspunkte aus steht die Parole „Vereinigte Staaten von Europa“ auf derselben historischen Ebene, wie auch die Parole „Arbeiter- und Bauernregierung“; es ist eine Übergangsparole, die Auswege weist, Aussichten auf de Rettung gibt, und eben dadurch die werktätigen Massen auf den revolutionären Weg bringt.
Es wäre unrichtig, wenn man die internationale revolutionäre Entwicklung über einen Kamm scheren wollte. Amerika ist nicht geschwächt, sondern gestärkt aus dem Kriege hervorgegangen. Die innere Stabilität der amerikanischen Bourgeoisie ist noch sehr groß. Seine Abhängigkeit vom europäischen Markt ist außerordentlich minimal. Wenn man von Europa absieht, – dann rücken die Aussichten für eine Revolution in Amerika in die Ferne von Jahrzehnten. Ist daraus der Schluss zu ziehen, dass die Revolution in Europa sich nach Amerika richten müsse? Gewiss nicht. Wenn das zurückgebliebene Russland auf die Revolution in Europa nicht gewartet hat (und auch nicht warten konnte), dann hat Europa um so weniger Ursache, auf die Revolution in Amerika zu warten. Das vom kapitalistischen Amerika, in der ersten Zeit vielleicht auch von England blockierte Arbeiter- und Bauerneuropa wird sich auf der Grundlage eines engen militärischen und wirtschaftlichen Bündnisses halten und entwickeln können.
Man darf nicht den Umstand übersehen, dass die Gefahr seitens US-Amerikas, das den Verfall Europas mit allen Mitteln fördert und sich schon bereit macht, das europäische Erbe anzutreten, die Notwendigkeit eines Zusammenschlusses der einander entgegenarbeitenden europäischen Völker und die Bildung der „Vereinigten Staaten der europäischen Arbeiter und Bauer“ besonders dringlich macht. Diese Gegenüberstellung von Amerika und Europa ergibt sich aus der Verschiedenheit der objektiven Lage der europäischen Länder und der transozeanischen mächtigen Republik und richtet sich natürlich keineswegs gegen die internationale Solidarität des Proletariats oder gegen die Interessen der amerikanischen Revolution. Im Gegenteil. Eine der Ursachen für die langsame Entwicklung der Revolution in der ganzen Welt besteht in der banalen europäischen Hoffnung auf den guten amerikanischen Onkel (Wilsonismus, philanthropische Unterstützung der hungernden Europäer, amerikanischen „Anleihen“ usw. usw.), je schneller die Volksmassen das Vertrauen zu den eigenen Kräften zurückgewinnen, desto enger werden sie sich unter der Parole „Union der Arbeiter- und Bauernrepubliken Europas“ zusammenschließen, desto schneller wird das Entwicklungstempo der Revolution sein – diesseits und auch jenseits des Ozeans. Ebenso wie der Sieg des Proletariats in Russland einen gewaltigen Anstoß für die Entwicklung der Kommunistischen Parteien in Europa gegeben hat, wird auch der Sieg der europäischen Revolution – aber in einem unvergleichlich größeren Maße – ein Antrieb für die Revolution in Amerika und der ganzen Welt sein. Wenn wir oben die Aussichten für die amerikanische Revolution – unter Ausschluss europäischer Einflüsse – in die Ferne von Jahrzehnten gerückt sahen, so können wir, die Wechselwirkung der historischen Ereignisse berücksichtigend, mit Sicherheit behaupten, dass der revolutionäre Sieg in Europa die Machtstellung der amerikanischen Bourgeoisie in Amerika in wenigen Jahren erschüttern wird.
Nicht nur das Ruhrproblem, d.h. die Frage nach der Allianz der europäischen Kohle mit dem europäischen Metall, sondern auch das Reparationsproblem, passen sich vollkommen dem Schema „Vereinigte Staaten von Europa“ an. Die Reparationsfrage ist ein rein europäisches Problem, das in der bevorstehenden Periode nur mit europäischen Mitteln gelöst werden kann und wird. Das Europa der Arbeiter und Bauern wird ebenso sein Reparationsbudget haben, wie es sein Kriegsbudget haben wird – wenigstens so lange, als es von außen bedroht wird. Dieses Budget wird auf der progressiven Einkommensbesteuerung, auf Vermögenssteuern, auf der Konfiskation des Reichtums der Kriegsgewinnler usw. aufgebaut werden. Die Verteilung des Budgets wird von entsprechenden Organen der europäischen Arbeiter- und Bauernföderation geregelt werden.
Wir werden uns hier nicht mit Prophezeiungen darüber beschäftigen, in welchem Tempo sich die Vereinigung der europäischen Republiken vollziehen, welchen Zentralisationsgrad die europäische Wirtschaft in der ersten Periode des Arbeiter- und Bauernregimes erreichen wird. Aber das eine ist klar, dass die Zollschranken beseitigt werden müssen. Die europäischen Völker müssen in Europa eine Arena der vereinigten planmäßigen Wirtschaft erblicken.
Man könnte vielleicht einwenden dass wir eigentlich nur von einer europäischen sozialistischen Föderation als eines Bestandteils der künftigen Weltföderation sprechen, und dass dieses Regime nur unter der Diktatur des Proletariats realisierbar ist. Wir wollen jedoch diese Einwände hier unberücksichtigt lassen, da sie bei der internationalen Erörterung der Frage nach der Arbeiterregierung eingehend behandelt worden sind. Die „Vereinigten Staaten von Europa“ sind eine Parole, die derjenigen der „Arbeiter- (oder Arbeiter- und Bauern-)Regierung“ in jeder Hinsicht entspricht. Ist die „Arbeiterregierung“ ohne eine Diktatur des Proletariats realisierbar? Darauf kann man nur mit Vorbehalt antworten. Wir fassen „Arbeiterregierung“ jedenfalls als eine Etappe zur Diktatur des Proletariats auf. Darin erblicken wir den ungeheuren Wert der Parole. Aber auch die Parole „Vereinigte Staaten von Europa“ hat eine gleichwertige, parallel laufende Bedeutung. Ohne diese ergänzende Parole bleiben die europäischen Probleme in der Luft hängen.
Wird diese Parole nicht Wasser auf die Mühlen der Pazifisten sein? Ich glaube nicht, dass es auf der Welt solche linksradikalen Leute gibt, für die diese Gefahr genügen würde, um die Parole abzulehnen: wir alle leben im Jahre 1923 und haben manches zugelernt. Man braucht ebenso wenig eine pazifistische Missdeutung der „Vereinigten Staaten von Europa“ zu fürchten, wie die demokratischsozialrevolutionäre Auffassung der Parole „Arbeiter- und Bauernregierung“. Freilich, wenn man Vereinigte Staaten von Europa als ein selbständiges Programm, als ein Allheilmittel für die Befriedung und den Wiederaufbau Europa aufstellt und diese Parole von der Arbeiterregierung, von der Idee der Einheitsfront und des Klassenkampfes trennt, dann ist es nicht ausgeschlossen, dass man zu einem demokratischen Wilsonismus, d.h. zu Kautsky und noch tiefer (wenn das überhaupt möglich ist) hinabrollt. Aber ich wiederhole – wir leben immerhin im Jahre 1923 und haben manches dazugelernt. Die Kommunistische Internationale ist Wirklichkeit geworden, und Kautsky wird nicht damit beauftragt werden, die Verwirklichung unserer Parole zu beaufsichtigen. Unsere Problemstellung ist derjenigen Kautskys diametral entgegengesetzt. Pazifismus ist ein akademisches Programm, das die Aufgabe hat, die Anhänger dieser Idee vom revolutionären Wirken zu suspendieren. Unser Standpunkt dagegen drängt auf den Weg des Kampfes. Wir sagen den Arbeitern Deutschlands (nicht den Kommunisten, denn diese wissen es schon), wir sagen allen Arbeitern und vor allem den Sozialdemokraten unter ihnen, die die wirtschaftlichen Folgen des Kampfes um die Arbeiterregierung fürchten; wir sagen den Arbeitern Frankreichs, deren Denken noch von Reparationsfragen und Staatsschulden gefesselt ist; wir sagen den Arbeitern Deutschlands, Frankreichs und ganz Europas, die befürchten, dass die Einführung des Arbeiterregimes zu einer Isolierung ihrer Länder und wirtschaftlichem Verfall führen wird, wir sagen ihnen: sogar bei zeitweiliger Isolierung (und diese Isolierung wird angesichts der großen Sowjetbrücke nach dem Osten nicht leicht zu verwirklichen sein) wird Europa sich nicht nur halten, sondern auch steigern können, nachdem es die inneren Zollschranken vernichtet und seine Wirtschaft mit den unermesslichen natürlichen Reichtümern Russlands vereinigt hat. „Vereinigte Staaten von Europa“ – diese rein revolutionäre Perspektive – sind die nächste Etappe der revolutionären Bewegung in Europa, die sich aus dem schneidenden Gegensatz zwischen Europa und Amerika ergibt. Wer diesen für die gegenwärtige Periode grundlegenden Gegensatz und Unterschied ignoriert, der wird die realen revolutionären Perspektiven in historischen Abstraktionen versanden lassen. Es versteht sich von selbst, dass die Arbeiter- und Bauernföderation bei der europäischen Etappe ihrer Entwicklung nicht stehen bleiben wird. Unsere Sowjetunion wird ihr, wie gesagt, den Zugang nach Asien eröffnen und damit Asien den Weg nach Europa bahnen. Es handelt sich hier also nur um eine Etappe, aber um eine sehr bedeutsame historische Etappe, die wir vor allem erreichen müssen.
Zuletzt aktualisiert am 21.7.2008