Leo Trotzki

Terrorismus und Kommunismus

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Demokratie

„Entweder Demokratie oder Bürgerkrieg“

Kautsky hat einen klaren und einzigen Rettungsweg: Die Demokratie. Es sei nur nötig, daß alle sie anerkennen und sich ihr unterordnen. Die rechten Sozialisten müßten die blutigen Gewalttaten aufgeben, die sie dem Willen der Bourgeoisie gemäß ausführen. Die Bourgeoisie selbst müsse dem Gedanken entsagen, mit Hilfe ihrer Noske und Leutnant Vogel ihre privilegierte Stellung bis zu Ende zu verteidigen. Endlich müsse das Proletariat ein für alle Mal dem Gedanken entsagen, die Bourgeoisie durch andere Mittel zu stürzen als diejenigen, die von der Verfassung vorgesehen sind. Bei der Befolgung der aufgezählten Bedingungen werde die soziale Revolution sich schmerzlos in Demokratie auf lösen. Für den Erfolg genügt es, wie wir sehen, daß unsere stürmische Geschichte sich eine Nachtmütze auf den Kopf setzt und die Weisheit der Tabaksdose Kautskys entnimmt.

„Es gibt nur die beiden Möglichkeiten“: – prägt uns der Weise ein – „entweder Demokratie oder Bürgerkrieg.“ (S. 145) Aber in Deutschland, wo die formalen Elemente der Demokratie vorhanden sind, hört der Bürgerkrieg auch nicht für eine Stunde auf.

„Sicher“, gibt Kautsky zu, „kann unter der gegenwärtigen Nationalversammlung Deutschland nicht gesunden. Der Gesundungsprozeß wird aber nicht gefördert, sondern gehemmt, wenn man aus dem Kampf gegen die bestehende Versammlung einen Kampf gegen die Demokratie, das allgemeine Wahlrecht macht.“ (S. 152)

Als ob es sich in der Tat in Deutschland um die Form des Wahlrechts und nicht um den realen Besitz der Macht handelte.

Die gegenwärtige Nationalversammlung, gibt Kautsky zu, ist nicht fähig, das Land zur Gesundung zu bringen. Also? Also beginnen wir das Spiel von neuem. Werden aber die Partner einwilligen? Das ist zweifelhaft. Wenn die Partie unvorteilhaft für uns ist, so ist sie offenbar vorteilhaft für sie. Die Nationalversammlung, die nicht fähig ist, das Land der Genesung entgegenzuführen, ist durchaus fähig, durch die Zwischendiktatur Noskes die „ernste“ Diktatur Ludendorffs vorzubereiten. So war es mit der Konstituierenden Versammlung, die für Koltschak vorarbeitete. Die historische Bestimmung Kautskys besteht gerade darin, den Umsturz abzuwarten und dann seine n+1. Broschüre zu schreiben, die den Zusammenbruch der Revolution an Hand des ganzen Ganges der bisherigen Geschichte, vom Affen bis zu Noske und von Noske bis zu Ludendorff, erklären wird. Die Aufgabe einer revolutionären Partei ist eine andere: sie besteht darin, die Gefahren vorauszusehen und ihnen durch die Tat vorzubeugen. Dazu aber gibt es augenscheinlich keinen anderen Weg, als die Macht den Händen der wirklichen Machthaber, der Agrarier und Kapitalisten, zu entreißen, die sich nur hinter den Herren Ebert und Noske verstecken. Auf diese Weise teilt sich der historische Weg bei der gegenwärtigen Nationalversammlung in zwei Richtungen: er führt entweder zur Diktatur der imperialistischen Clique oder zur Diktatur des Proletariats. Zur „Demokratie“ führt er von keiner Seite. Kautsky sieht dies nicht. Mit vielen Worten erklärt er uns, daß die Demokratie für die politische Entwicklung und die organisatorische Erziehung der Massen von großer Bedeutung sei und daß das Proletariat durch sie zur vollen Befreiung gelangen könne. (S. 72) Man möchte annehmen, daß seit der Zeit des Erfurter Programms auf der Welt nichts geschehen sei, was der Aufmerksamkeit würdig wäre!

Indessen, im Laufe von Jahrzehnten kämpfte und entwickelte sich das Proletariat Frankreichs, Deutschlands und der anderen wichtigsten Länder, indem es die Institutionen der Demokratie ausnutzte und auf ihrer Grundlage machtvolle politische Organisationen schuf. Dieser Weg der Erziehung des Proletariats durch die Demokratie zum Sozialismus wurde jedoch durch ein nicht unwichtiges Ereignis – den imperialistischen Weltkrieg – unterbrochen. Dem Klassenstaat war es gelungen, im Augenblick, wo durch seine Schuld der Krieg ausbrach, das Proletariat mit Hilfe der leitenden Organisationen der sozialistischen Demokratie zu betrügen und auf seine Bahn zu ziehen. Auf diese Weise offenbarten die Methoden der Demokratie an und für sich, bei all den unbestreitbaren Vorteilen, die sie in einer gewissen Periode gewährten, eine beschränkte Aktionskraft, so daß die Erziehung zweier Generationen des Proletariats unter den Bedingungen der Demokratie durchaus nicht die notwendige politische Vorbereitung sicherte für die Abschätzung eines Ereignisses wie der imperialistische Krieg es war. Die Erfahrung gibt gar keine Veranlassung zu der Annahme, daß das Proletariat politisch besser vorbereitet gewesen wäre, wenn der Krieg zehn oder fünfzehn Jahre später ausgebrochen wäre. Der bürgerlich-demokratische Staat schafft nicht nur im Vergleich zum Absolutismus günstigere Bedingungen für die Entwicklung der Werktätigen, sondern er beschränkt auch diese Entwicklung durch die Grenzen der bürgerlichen Legalität, indem er in den Oberschichten des Proletariats opportunistische Gewohnheiten und legalistische Vorurteile künstlich anhäuft und befestigt. Die Schule der Demokratie erwies sich als vollständig unzureichend, um in dem Augenblick, als die Kriegskatastrophe drohte, das deutsche Proletariat zur Revolution anzuspornen. Dazu war die barbarische Schule des Krieges, der sozialimperialistischen Hoffnungen, der größten militärischen Erfolge und einer beispiellosen Niederlage nötig. Nach diesen Ereignissen, die in der ganzen Welt und sogar im Erfurter Programm manches verändert haben, mit Gemeinplätzen über die Bedeutung des demokratischen Parlamentarismus für die Erziehung des Proletariats zu kommen, heißt in politische Kindheit zurückfallen. Darin besteht eben das Unglück Kautskys.

„Ein tiefes Mißtrauen gegen den politischen Befreiungskampf des Proletariats, – schreibt er – gegen seine Teilnahme an der Politik beseelte den Proudhonismus. Heute kommen wieder ähnliche (!!) Gedankengänge auf und werden uns präsentiert als die neuesten Errungenschaften sozialistischen Denkens, als Produkte von Erfahrungen, die Marx nicht kannte und nicht kennen konnte. Und doch sind es nur neue Variationen von Gedanken, die über ein halbes Jahrhundert alt sind, und die Marx selbst bekämpfte und überwand.“ (S. 58)

Der Bolschewismus erweist sich als ... aufgewärmter Proudhonismus! In rein theoretischer Beziehung ist dies eine der schamlosesten Behauptungen der Broschüre.

Die Proudhonisten verwarfen die Demokratie aus demselben Grunde, aus dem sie den politischen Kampf überhaupt verwarfen. Sie waren für die wirtschaftliche Organisation der Arbeiter ohne Einmischung der Staatsgewalt, ohne revolutionäre Umwälzungen, für die Selbsthilfe der Arbeiter auf der Grundlage der Warenwirtschaft. Soweit sie durch den Gang der Ereignisse auf den Weg des politischen Kampfes gestoßen wurden, zogen sie, als kleinbürgerliche; Ideologen, die Demokratie nicht nur der Plutokratie, sondern auch der revolutionären Diktatur vor. Ist hier etwas Gemeinsames mit uns? Während wir die Demokratie im Namen der konzentrierten Macht des Proletariats ablehnen, waren die Proudhonisten im Gegenteil bereit, sich mit der durch das föderative Prinzip verdünnten Demokratie auszusöhnen, um die revolutionäre Alleinherrschaft der Arbeiterklasse zu vermeiden. Mit weit größerer Berechtigung könnte Kautsky uns mit den Gegnern der Proudhonisten, den Blanquisten, vergleichen, die die Bedeutung der revolutionären Macht begriffen und die Eroberung dieser Macht nicht abergläubisch in Abhängigkeit von formalen Merkmalen der Demokratie brachten. Um aber dem Vergleich der Kommunisten mit den Blanquisten den rechten Sinn zu geben, müßte man hinzufügen, daß wir in der Person der Arbeiter- und Soldatenräte über eine solche Organisation der Umwälzung verfügten, von der die Blanquisten nicht träumen konnten; in unserer Partei hatten und haben wir eine unersetzliche Organisation politischer Fühlung mit einem vollendeten Programm der sozialen Revolution; endlich waren und bleiben die Gewerkschaftsverbände, die voll und ganz unter der Fahne des Kommunismus stehen und die Sowjetmacht unterstützen, ein mächtiger Apparat wirtschaftlicher Umgestaltungen. Unter diesen Bedingungen davon sprechen, daß der Bolschewismus die Vorurteile des Proudhonismus wiederhergestellt habe, das kann nur, wer den letzten Rest theoretischer Gewissenhaftigkeit und historischer Einsicht verloren hat.
 

Die imperialistische Entartung der Demokratie

Nicht ohne Grund hat das Wort „Demokratie“ im politischen Wörterbuch eine doppelte Bedeutung. Einerseits bedeutet es das staatliche Regime, das sich auf das allgemeine Wahlrecht und andere Attribute der formalen „Selbstherrschaft des Volkes“ gründet. Andererseits versteht man unter Demokratie die Volksmassen selbst, soweit sie ein politisches Leben führen, wobei in diesem zweiten wie im ersten Sinne der Begriff der Demokratie sich über die Klassenunterschiede erhebt.

Diese Eigentümlichkeiten der Terminologie sind politisch tief begründet. Die Demokratie als politisches Regime ist desto widerstandsfähiger, vollkommener, unerschütterlicher, je mehr Platz im Leben des Landes die im Klassensinne wenig differenzierte Zwischenmasse der Bevölkerung, das Kleinbürgertum in Stadt und Land, einnimmt. Zu ihrer höchsten Blüte gelangte die Demokratie im 19. Jahrhundert in den Vereinigten Staaten Nordamerikas und der Schweiz. Jenseits des Ozeans stützte sich die staatliche Demokratie der föderativen Republik auf die Agrardemokratie der Farmer. In der kleinen helvetischen Republik bildeten das Kleinbürgertum der Städte und die starke Bauernschaft die Basis der konservativen Demokratie der vereinigten Kantone.

Der aus dem Kampf des dritten Standes gegen die Kräfte des Feudalismus hervorgegangene demokratische Staat wird sehr bald ein Werkzeug der Gegenwirkung auf die Klassengegensätze, die sich innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft entwickeln. Die bürgerliche Demokratie hat darin desto mehr Erfolg, je breiter unter ihr die Schicht des Kleinbürgertums, je größer die Bedeutung des letzteren im wirtschaftlichen Leben des Landes, je geringer also die Entwicklung der Klassengegensätze ist. Jedoch, je weiter desto hoffnungsloser blieben die Zwischenklassen hinter der historischen Entwicklung zurück und desto mehr wurden sie der Möglichkeit beraubt, im Namen der Nation zu sprechen. Freilich, kleinbürgerliche Doktrinäre (Bernstein u. Co.) bewiesen mit Genugtuung, daß das Verschwinden der kleinbürgerlichen Massen nicht mit der Schnelligkeit vor sich gehe, wie dies von der Schule von Marx vorausgesetzt worden ist. Man kann in der Tat dem zustimmen, daß die kleinbürgerlichen Elemente der Stadt und besonders des Dorfes ihrer Zahl nach noch immer einen außerordentlich großen Platz einnehmen. Aber der Hauptinhalt der Entwicklung zeigte sich darin, daß das Kleinbürgertum seine Bedeutung in der Produktion verlor: die Wertmenge, die diese Klasse in den Gesamtertrag der Nation bringt, sank ungleich schneller als die Quantität des Kleinbürgertums. Dementsprechend sank ihre soziale, politische und kulturelle Bedeutung. Die historische Entwicklung stützte sich immer mehr nicht auf diese von der Vergangenheit übernommenen konservativen Schichten, sondern auf die Polarklassen der Gesellschaft, d. h. auf die kapitalistische Bourgeoisie und auf das Proletariat.

Je mehr das Kleinbürgertum seine Bedeutung verlor, desto weniger war es fähig, die Rolle des Schiedsrichters in dem historischen Rechtsstreit zwischen Kapital und Arbeit zu spielen. Unterdessen fuhr eine bedeutende Menge des städtischen Bürgertums und besonders der Bauernschaft fort, ihren unmittelbaren Ausdruck in der Wahlstatistik des Parlamentarismus zu finden. Die formale Gleichheit aller Bürger als Wähler gab hierbei der Unfähigkeit des „demokratischen Parlamentarismus“, die fundamentalen Fragen der historischen Entwicklung zu lösen, nur offenen Ausdruck. Die „gleiche“ Stimme für den Proletarier, den Bauern und den Leiter des Trusts brachte den Bauer formell in die Lage des Vermittlers zwischen diesen beiden Antagonisten. In Wirklichkeit gab die sozial und kulturell rückständige, politisch hilflose Bauernschaft in allen Ländern die Stütze für die reaktionärsten, abenteuerlichsten, absurdesten und korruptesten Parteien ab, die letzten Endes immer das Kapital gegen die Arbeit unterstützten.

Allen Prophezeiungen Bernsteins, Sombarts, Tugan-Baronowskys direkt zum Trotz hat die Zähigkeit der Zwischenklassen die revolutionäre Krisis der bürgerlichen Gesellschaft nicht gemildert, sondern bis aufs Aeußerste verschärft. Würde sich die Proletarisierung des Kleinbürgertums und der Bauernschaft in chemisch reiner Form vollziehen, so würde die friedliche Eroberung der Macht durch das Proletariat vermittelst des demokratisch parlamentarischen Apparats viel wahrscheinlicher sein, als es jetzt der Fall ist. Gerade die Tatsache, an die sich die Anhänger des Kleinbürgertums klammerten, – die Lebenskraft des Kleinbürgertums – erwies sich sogar für die äußeren Formen der politischen Demokratie, nachdem der Kapitalismus ihr Wesen untergraben hatte, als verhängnisvoll. Dadurch, daß das Kleinbürgertum in der parlamentarischen Politik die Stelle einnahm, die es in der Produktion verloren hatte, kompromittierte es den Parlamentarismus endgültig, nachdem es ihn in eine Institution verwirrten Geschwätzes und gesetzgeberischer Obstruktion verwandelt hatte. Schon daraus allein erwuchs dem Proletariat die Aufgabe, den Apparat der Staatsmacht in seine Gewalt zu bringen, unabhängig von dem Kleinbürgertum und sogar gegen dasselbe, – nicht gegen seine Interessen, sondern gegen seinen Stumpfsinn, gegen seine in ihrem kraftlosen Hin- und Herschwanken nicht zu erfassende Politik.

„Der Imperialismus – schrieb Marx über das Kaiserreich Napoleons III. – ist die prostituierteste und zugleich endgültige Form, der Staatsgewalt, die ... die zur vollen Entwicklung gelangte Bourgeoisie in ein Werkzeug zur Unterjochung der Arbeit durch das Kapital verwandelt hat.“

Diese Definition geht über das Regime des französischen Kaiserreichs hinaus und umfaßt den neuesten Imperialismus, der von den Weltansprüchen des nationalen Kapitals der Großmächte erzeugt ist. Auf wirtschaftlichem Gebiet setzte der Imperialismus den endgültigen Fall der Rolle des Kleinbürgertums voraus; auf politischem Gebiet bedeutete er die volle Vernichtung der Demokratie vermittelst ihrer innerlichen Molekularumarbeitung und allseitigen Unterordnung aller ihrer Mittel und Institutionen unter seine Ziele. Nachdem er alle Länder, unabhängig von ihrem vorhergehenden politischen Schicksal, umfaßt hatte, bewies der Kapitalismus, daß ihm irgendwelche politischen Vorurteile fremd sind, daß er in gleicher Weise bereit und fähig ist, nach vorheriger sozialer Umgestaltung und nach völliger Unterwerfung die Monarchie Nikolai Romanows oder Wilhelm Hohenzollerns, die Selbstherrschaft des Präsidenten der Nordamerikanischen Staaten und die Hilflosigkeit einiger Hundert Auch-Gesetzgeber des französischen Parlaments auszunutzen. Das letzte große Morden – das blutige Becken, in dem sich die bürgerliche Welt zu erneuern versuchte – zeigte uns das Bild einer in der Geschichte noch nie dagewesenen Mobilisierung aller Staatsformen, Verwaltungssysteme, politischen Richtungen, Religionen und philosophischen Schulen im Dienst des Imperialismus. Sogar viele von jenen Pedanten, die die vorbereitende Periode der imperialistischen Entwicklung der letzten Jahrzehnte verschlafen hatten und fortfuhren, sich zu den Begriffen der Demokratie, des allgemeinen Wahlrechts und dergl. ihrem überlieferten Sinne nach zu verhalten, begannen während des Krieges zu fühlen, daß die gewohnten Begriffe einen neuen Inhalt bekommen hatten. Absolutismus, parlamentarische Monarchie, Demokratie! Vor dem Antlitz des Imperialismus – folglich auch vor dem Antlitz der ihn ablösenden Revolution – sind alle Staatsformen der bürgerlichen Herrschaft, vom russischen Zarismus bis zum nordamerikanischen quasi-demokratischen Föderalismus gleichberechtigt und zu solchen Kombinationen verbunden, bei denen sie einander unteilbar ergänzen. Dem Imperialismus gelang es mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln, darunter auch durch das Parlament, unabhängig von der Wahlarithmetik der Stimmen, sich im kritischen Augenblick dies Kleinbürgertum der Städte und der Dörfer und sogar die Oberschichten des Proletariats vollständig unterzuordnen. Die nationale Idee, unter deren Zeichen sich der dritte Stand zur Macht erhoben hatte, fand im imperialistischen Kriege ihre Wiedergeburt in der Losung der nationalen Verteidigung. Mit unerwarteter Helle leuchtete zum letzten Male die nationale Ideologie auf Kosten der Klassenideologie auf. Der Zusammenbruch der imperialistischen Illusionen knickte nicht nur bei den Besiegten, sondern mit einiger Verspätung auch bei den Siegern, endgültig alles das, was einst nationale Demokratie war, und mit ihr – ihr Hauptwerkzeug, das demokratische Parlament. Die Welkheit, Erbärmlichkeit und Hilflosigkeit des Kleinbürgertums und seiner Parteien traten überall mit erschreckender Klarheit zutage. In allen Ländern wurde die Frage der Staatsgewalt in aller Schärfe gestellt als eine Frage der Kräftemessung zwischen der offen oder verhüllt herrschenden kapitalistischen Clique, der Hunderttausende dressierter, gestählter und vor nichts zurückschreckender Offiziere zur Verfügung stehen, und zwischen dem aufständischen revolutionären Proletariat – bei Schreck, Verwirrung und Ohnmacht der Zwischenklassen. Unter diesen Bedingungen ist das Gerede über die friedliche Eroberung der Macht durch das Proletariat vermittelst des demokratischen Parlamentarismus nichts als elendes Geschwätz.

Das Schema der politischen Lage im Weltumfange ist vollständig klar. Nachdem sie die verblutenden und erschöpften Völker an den Rand des Unterganges gebracht hatte, offenbarte die Bourgeoisie ihre volle Unfähigkeit, diese Völker aus der schrecklichen Lage zu befreien, wie ihre Unvereinbarkeit mit der weiteren Entwicklung der Menschheit. Alle politischen Zwischengruppierungen, in erster Linie die sozialpatriotischen Parteien, verfaulen bei lebendigem Leibe. Das von ihnen betrogene Proletariat wendet sich mit jedem Tage mehr gegen sie und befestigt sich in seinem revolutionären Beruf als einzige Kraft, die die Völker vor der Verwilderung und dem Untergang retten kann. Doch die Geschichte hatte für diesen Augenblick der Partei der sozialen Revolution die formelle parlamentarische Mehrheit durchaus nicht gesichert. Mit anderen Worten, die Geschichte hatte die Nation nicht in einen Diskutierklub verwandelt, der sittsam den Uebergang zur sozialen Revolution durch Stimmenmehrheit beschließt. Im Gegenteil, die gewaltsame Revolution wurde eben deshalb zur Notwendigkeit, weil die dringenden Bedürfnisse der Geschichte sich als machtlos erwiesen, sich den Weg vermittelst des Apparats der parlamentarischen Demokratie zu bahnen. Die kapitalistische Bourgeoisie kalkuliert: „Solange in meinen Händen der Grund und Boden, die Fabriken, Werke, Banken sind, solange ich die Zeitungen, Universitäten und Schulen beherrsche, solange – und dies ist die Hauptsache – in meinen Händen die Leitung der Armee liegt, solange wird der Apparat der Demokratie, wie ihr ihn auch umbauen mögt, meinem Willen untertan bleiben. Ich unterwerfe mir geistig das stumpfsinnige, konservative, willenlose Kleinbürgertum, wie es mir materiell untergeordnet ist. Ich unterdrücke es und werde seine Einbildungskraft durch die Macht meiner Gewinne, meiner Pläne und meiner Verbrechen bannen. In den Momenten seiner Unzufriedenheit werde ich Sicherheitsventile und Blitzableiter schaffen. Ich werde im nötigen Moment Oppositionsparteien schaffen, die morgen verschwinden, heute aber ihrer Aufgabe dadurch gerecht werden, daß sie dem Kleinbürgertum die Möglichkeit geben, seine Empörung ohne Schaden für den Kapitalismus zum Ausdruck zu bringen. Ich werde die Volksmassen bei dem Regime der allgemeinen Schulpflicht an der Grenze der vollständigen Unwissenheit erhalten und ihnen nicht erlauben, sich über die Stufe zu erheben, die meine Sachverständigen als ungefährlich für die geistige Sklaverei ansehen werden. Ich werde die privilegierten oder rückständigeren Schichten des Proletariats selbst demoralisieren, betrügen und einschüchtern. Durch die Gesamtheit aller dieser Maßnahmen werde ich dem Vortrupp der Arbeiterklasse nicht gestatten, das Bewußtsein der Mehrheit des Volkes zu beherrschen, solange die Unterdrückungs- und Einschüchterungswerkzeuge in meinen Händen bleiben werden.

Darauf antwortet das revolutionäre Proletariat:

„Folglich müssen als erste Bedingung zur Rettung den Händen der Bourgeoisie die Werkzeuge der Herrschaft entrissen werden. Aussichtslos ist der Gedanke, friedlich zur Macht zu gelangen, solange sich in den Händen der Bourgeoisie alle Werkzeuge der Herrschaft befinden. Doppelt aussichtslos ist der Gedanke, auf dem Wege zur Macht zu gelangen, den die Bourgeoisie selbst weist und den sie zu gleicher Zeit versperrt, – auf dem Wege der parlamentarischen Demokratie. Es gibt nur einen Weg: der Bourgeoisie die Macht, den materiellen Apparat der Herrschaft zu entreißen. Unabhängig von dem oberflächlichen Kräfteverhältnis im Parlament, werde ich die wichtigsten Produktionskräfte und -mittel in gesellschaftliche Verwaltung nehmen. Ich werde das Bewußtsein der kleinbürgerlichen Klassen von der kapitalistischen Hypnose befreien. Ich werde ihnen durch die Tat zeigen, was sozialistische Produktion bedeutet. Dann werden mich die rückständigsten, unwissendsten oder eingeschüchtertsten Schichten des Volkes unterstützen und sich freiwillig und bewußt der Arbeit des sozialistischen Aufbaues anschließen.“

Als die russische Sowjetregierung die Konstituierende Versammlung gesprengt hatte, erschien diese Tatsache den leitenden westeuropäischen Sozialdemokraten, wenn nicht als Anfang des Weltunterganges, so doch auf jeden Fall als grober und willkürlicher Bruch mit der ganzen vorhergegangenen Entwicklung des Sozialismus. Es war indessen nur die unvermeidliche Schlußfolgerung aus der neuen Lage, die der Imperialismus und der Krieg vorbereitet hatten.

Zog der russische Kommunismus als erster die theoretische und praktische Bilanz, so geschah das aus denselben historischen Gründen, aus denen das russische Proletariat als erstes gezwungen war, den Weg des Kampfes um die Macht zu betreten.

Alles, was sich nachher in Europa abspielte, beweist, daß der Schluß richtig gezogen war. Anzunehmen, daß es möglich sei, die Demokratie in ihrer Reinheit wiederherzustellen, heißt, sich von jämmerlichen Utopien nähren.
 

Die Metaphysik der Demokratie

Das Wanken des historischen Bodens in der Frage der Demokratie unter seinen Füßen fühlend, geht Kautsky auf den Boden der Normenphilosophie über. Anstatt zu untersuchen, was ist, stellt er Betrachtungen darüber an, was sein sollte.

Die Prinzipien der Demokratie – die Volkssouveränität, das allgemeine und gleiche Wahlrecht, die Freiheiten – treten bei ihm im Glorienschein des ethischen Soll auf. Sie werden von ihrem geschichtlichen Inhalt abstrahiert und werden als unerschütterlich und heilig an sich dargestellt. Dieser metaphysische Sündenfall ist nicht zufällig. Es ist höchst lehrreich, daß auch der verstorbene Plechanow, ein schonungsloser Gegner des Kantianertums im Lauf des besten Abschnitts seiner Tätigkeit, gegen Ende seines Lebens, als die Woge des Patriotismus über ihm zusammenschlug, sich an den Strohhalm des kategorischen Imperativs zu klammern versuchte.

Dieser realen Demokratie, mit der das deutsche Volk nun auf dem Wege der Erfahrung die Bekanntschaft macht, stellt Kautsky irgendeine ideelle Demokratie gegenüber, wie dem gemeinen Phänomen das Ding an sich gegenübergestellt wird. Kautsky weist mit Bestimmtheit auf kein einziges Land hin, dessen Demokratie wirklich imstande wäre, den schmerzlosen Uebergang zum Sozialismus zu sichern. Dafür weiß er aber ganz fest, daß es eine solche Demokratie geben muß. Der heutigen deutschen Nationalversammlung, diesem Organ der Hilflosigkeit, des reaktionären Ingrimms und des demütigen Kriechertums, stellt Kautsky eine andere, eine echte Nationalversammlung entgegen, die alle Vorzüge hat außer des kleinen – der Wirklichkeit.

Als Doktrin der formalen Demokratie erscheint nicht der wissenschaftliche Sozialismus, sondern die Theorie des sogen. Naturrechts. Das Wesen der letzteren besteht in der Anerkennung von ewigen und unabänderlichen Rechtsnormen, die bei den verschiedenen Völkern und in den verschiedenen Epochen mehr oder weniger beschränkt und entstellt zum Ausdruck kommen. Das Naturrecht der neuen Geschichte, d. h. so wie es aus dem Mittelalter herüberkam, enthielt vor allem den Protest gegen Standesprivilege, Mißbräuche der despotischen Gesetzgebung und andere „künstliche Produkte“ des feudalen positiven Rechts. Die Ideologen des noch zu schwachen dritten Standes gaben seinen Klasseninteressen in einigen ideellen Normen Ausdruck, die in der weiteren Entwicklung sich zur Lehre von der Demokratie entfalteten und dabei einen individualistischen Charakter gewannen. Das Individuum ist das Ziel an sich, alle Menschen haben das Recht, ihre Gedanken in Wort und Schrift zu äußern, ein jeder Mensch muß sich eines gleichen Wahlrechts erfreuen. Als Kampfbanner im Kampf gegen den Feudalismus waren die Forderungen der Demokratie von fortschrittlicher Bedeutung. Je weiter aber, desto mehr kehrte die Metaphysik des Naturrechts (gleich der Theorie der formalen Demokratie) ihre reaktionäre Seite hervor: die Errichtung einer Kontrolle der idealen Norm über die realen Forderungen der Arbeitermassen und der revolutionären Parteien.

Wenn man auf die geschichtliche Aufeinanderfolge der Weltanschauungen zurückblickt, so wird die Theorie des Naturrechts als ein von der groben Mystik geläuterter Abklatsch des christlichen Spiritualismus erscheinen. Das neue Testament erklärte dem Sklaven, daß er dieselbe Seele habe, wie der Sklavenhalter und ordnete somit die Gleichheit aller Menschen vor dem himmlischen Tribunal an. In Wirklichkeit blieb aber der Sklave Sklave, und der Gehorsam wurde ihm zur religiösen Pflicht gemacht. In der Lehre des Christentums fand der Sklave den mystischen Ausdruck für seinen eigenen unklaren Protest gegen seine unterdrückte Lage. Neben dem Protest fand er auch den Trost. Das Christentum sagte ihm: „Du hast eine unsterbliche Seele, wenn du auch einem Lasttier ähnlich bist.“ Hier klang der Ton der Empörung heraus. Dasselbe Christentum sagte aber: „Magst du auch einem Lasttiere ähnlich sein, deiner unsterblichen Seele ist die ewige Belohnung vorbehalten.“ Es ist hier die Stimme des Trostes herauszuhören. Diese beiden Töne klangen im geschichtlichen Christentum in den verschiedenen Epochen und bei verschiedenen Klassen auf verschiedene Weise zusammen. Im allgemeinen aber wurde das Christentum ähnlich wie alle anderen Religionen zum Werkzeug der Einschläferung des Bewußtseins der geknechteten Massen.

Das Naturrecht, als es sich zur Theorie der Demokratie entwickelte, sagte dem Arbeiter: Alle Menschen sind gleich vor dem Gesetze, ganz abgesehen von ihrer Herkunft, ihrer Vermögenslage und der von ihnen gespielten Rolle, ein jeder hat das gleiche Stimmrecht bei der Entscheidung der Volksgeschicke. Diese ideelle Norm revolutionierte die Erkenntnis der Massen insofern, als sie die Verurteilung des Absolutismus, der aristokratischen Privilegien und der Vorrechte des Besitzes enthielt. Je weiter aber, desto mehr schläferte sie die Erkenntnis ein, indem sie die Not, die Sklaverei und die Demütigung legalisierte, denn wie konnte man sich gegen die Knechtung empören, wenn ein jeder das gleiche Stimmrecht in der Bestimmung der Volksgeschicke hat?

Rothschild, der das Blut und die Tränen der Welt in das Gold seiner Profite ummünzt, hat eine Stimme bei den Parlamentswählen. Der dunkle Erdarbeiter, der seinen Namen nicht zu zeichnen versteht, der sich sein Leben lang ohne sich auszukleiden schlafen legt und wie ein lichtscheuer Maulwurf unter den Menschen herumirrt, erscheint doch als Träger der Volkssouveränität und ist dem Rothschild vor Gericht und bei den Parlamentswahlen gleich. In den realen Lebensbedingungen, im wirtschaftlichen Prozeß, in den sozialen Verhältnissen, im Alltag wurden die Menschen immer mehr und mehr ungleich: die Anhäufung einer berückenden Pracht auf dem einen Pol, Elend und Hoffnungslosigkeit auf dem andern. Aber auf dem Gebiet des staatsrechtlichen Ueberbaues verschwanden diese klaffenden Gegensätze; dorthin gelangten bloß juristische Schatten ohne Fleisch und Blut. Der Junker, der Tagelöhner, der Kapitalist, der Proletarier, der Minister, der Stiefelputzer, – alle sind gleich, als „Bürger“, als „Gesetzgeber“. Die mystische Gleichheit des Christentums ist vom Himmel gestiegen in Form der naturrechtlichen Gleichheit der Demokratie. Sie ist aber nicht bis zur Erde gekommen, bis zur wirtschaftlichen Grundlage der Gesellschaft. Für den dunklen Tagelöhner, der sein Leben lang ein Lasttier im Dienste der Bourgeoisie geblieben ist, war das ideelle Recht, vermittelst der Parlamentswahlen auf die Volksgeschicke einzuwirken, nicht um vieles realer, als die Seligkeit, die ihm im Himmelreich in Aussicht gestellt wurde.

Die praktischen Interessen der Arbeiterklassen verfolgend, betrat die sozialistische Partei in einer gewissen Epoche den Weg des Parlamentarismus. Das bedeutete jedoch keineswegs, daß sie die metaphysische Theorie der Demokratie prinzipiell anerkannte, die auf den Grundlagen des überhistorischen, über den Klassen stehenden Rechts beruhte. Die proletarische Doktrin betrachtete die Demokratie als Hilfsinstrument der bürgerlichen Gesellschaft, das den Aufgaben und Bedürfnissen der herrschenden Klassen vollkommen angepaßt war. Da aber die bürgerliche Gesellschaft von der Arbeit des Proletariats lebte und es nicht vermochte, ihm die Legalisierung eines gewissen Teiles seines Klassenkampfes zu verweigern, ohne sich ins eigene Fleisch zu schneiden, so eröffnete sich für die sozialistische Partei die Möglichkeit, die Maschinerie der Demokratie in einer gewissen Periode und in gewissen Grenzen auszunutzen, ohne jedoch auf die Demokratie als unwandelbares Prinzip zu schwören.

Die Grundaufgabe der Partei in allen Epochen ihres Kampfes bestand darin, die Bedingungen einer realen, wirtschaftlichen, alltäglichen Gleichheit der Menschen, als Glieder eines solidarischen menschlichen Gemeinwesens, zu schaffen. Eben daher und eben dazu mußten die Theoretiker des Proletariats die Metaphysik der Demokratie, die philosophische Verschleierung politischer Mystifikationen entlarven.

Wenn die demokratische Partei, in der Epoche ihres revolutionären Aufstiegs die erdrückende und einschläfernde Lüge des kirchlichen Dogmas enthüllend, den Massen predigte: „Man lullt Euch durch das Versprechen ewiger Seligkeit im Jenseits ein, hier seid Ihr aber rechtlos und durch Ketten der Willkür gefesselt“, – so erklärte die sozialistische Partei einige Jahrzehnte darauf denselben Massen mit nicht geringerer Berechtigung:

„Man schläfert Euch durch den Schein der bürgerlichen Gleichheit und der bürgerlichen Rechte ein, es ist Euch jedoch die Möglichkeit genommen, diese Rechte zu verwirklichen; die bedingte und illusorische juristische Gleichheit ist in eine ideale Kette des Sträflings verwandelt, durch den ein jeder von Euch an den Wagen des Kapitals geschmiedet ist.“

Im Namen ihrer Grundaufgabe mobilisierte die sozialistische Partei die Massen auch auf der Grundlage des Parlamentarismus, aber nirgends und nie verpflichtete sich die Partei als solche, die Massen nicht anders zum Sozialismus zu führen als durch die Pforten der Demokratie. Uns dem Parlamentsregime anpassend, begnügten wir uns in der vorhergehenden Epoche mit der theoretischen Entlarvung der Demokratie, denn wir waren noch zu schwach, um sie praktisch zu überwinden. Aber der Ideenkreis des Sozialismus, der durch alle Abweichungen, Erniedrigungen und sogar Verrätereien zum Vorschein kam, bestimmte folgenden Ausweg: die Demokratie beiseitezuwerfen und sie durch einen Arbeitsmechanismus des Proletariats in dem Moment zu ersetzen, wo das Proletariat sich stark genug zeigen würde, die Ausführung einer derartigen Aufgabe auf sich zu nehmen.

Wir werden hier ein Zeugnis anführen, das kraß genug ist:

„Der Parlamentarismus – schrieb Paul Lafargue im russischen Sammelbuch Sozialdemokrat im Jahre 1888 – ist ein so geartetes Regierungssystem, daß bei dem Volke die Illusion entsteht, als verwalte es selbst das Land, während in Wirklichkeit die tatsächliche Macht sich in den Händen der Bourgeoisie konzentriert, und nicht einmal der gesamten Bourgeoisie, sondern nur einiger Schichten dieser Klasse. In der ersten Zeit ihrer Herrschaft sieht die Bourgeoisie nicht die Notwendigkeit, die Illusion der Selbstverwaltung für das Volk zu schaffen. Daher begannen alle parlamentarischen Länder Europas mit der beschränkten Stimmabgabe; überall gehörte das Recht, der Politik des Landes durch Wahl von Abgeordneten eine Richtung zu geben, anfangs nur den mehr oder weniger großen Eigentümern, und dann erst dehnte es sich allmählich auf die weniger besitzenden Bürger aus, bis es sich in einigen Ländern aus einem Vorrecht zu einem allgemeinen Recht eines jeden verwandelte.“

„Je bedeutender die Menge des gesellschaftlichen Reichtums in der bürgerlichen Gesellschaft, von einer desto geringeren Anzahl yon Personen wird sie angeeignet; dasselbe geschieht auch mit der Macht: je mehr die Zahl der Bürger, die über politische Rechte verfügen, wächst und die Zahl der wählbaren Herrscher sich vergrößert, desto mehr konzentriert sich die wirkliche Macht und wird zum Monopol einer immer kleineren und kleineren Gruppe von Personen.“

Das ist das Sakrament der Mehrheit.

Für den Marxisten Lafargue bleibt der Parlamentarismus so lange, wie die Herrschaft der Bourgeoisie unangetastet bleibt.

„An dem Tage, schreibt Lafargue, wo das Proletariat Europas und Amerikas sich des Staates bemächtigt, wird es die revolutionäre Regierung organisieren und über der Gesellschaft diktatorisch walten müssen, bis die Bourgeoisie als Klasse verschwindet.“

Kautsky kannte seinerseits diese marxistische Einschätzung des Parlamentarismus und wiederholte sie auch gar manches Mal selber, wenn auch nicht mit einer derartigen gallischen Klarheit und Schärfe. Das theoretische Renegatentum Kautskys besteht eben darin, daß er, das Prinzip der Demokratie als absolut und unwandelbar anerkennend, von der materialistischen Dialektik auf das Naturrecht zurückging. Das, was vom Marxismus als Bewegungsmechanismus der Bourgeoisie entlarvt wurde und nur vorübergehend zwecks Vorbereitung der Revolution des Proletariats politisch ausgenutzt werden sollte, ist von Kautsky wieder als höchstes, über den Klassen stehendes Grundgesetz sanktioniert worden, das alle Methoden des proletarischen Kampfes sich untertan machen müsse. Die gegenrevolutionäre Ausartung des Parlamentarismus fand ihren vollendetsten Ausdruck in der Vergötterung der Demokratie durch die Verfallstheoretiker der II. Internationale.
 

Die Konstituierende Versammlung

Allgemein gesprochen, ist die Erlangung der Mehrheit durch die Partei des Proletariats im demokratischen Parlament keine unbedingte Unmöglichkeit. Eine solche Tatsache aber würde, sogar wenn sie sich verwirklichte, nichts prinzipiell neues in die Entwicklung der Ereignisse hineinbringen. Die Zwischenelemente der Intelligenz würden vielleicht unter dem Einflüsse des parlamentarischen Sieges dem neuen Regime gegenüber weniger Widerstand leisten. Der Hauptwiderstand der Bourgeoisie aber würde durch solche Faktoren wie die Stimmung der Armee, den Umfang der Bewaffnung der Arbeiter, die Lage in den Nachbarstaaten bestimmt werden, und der Bürgerkrieg würde sich unter dem Druck dieser realsten Verhältnisse und nicht der schwankenden Arithmetik des Parlamentarismus entwickeln.

Unsere Partei weigerte sich nicht, der Diktatur des Proletariats den Weg durch die Pforte der Demokratie zu öffnen, denn sie war sich der gewissen agitatorisch-politischen Vorzüge eines solchen legalisierten Ueberganges zum neuen Regime klar bewußt. Hieraus folgte unser Versuch, die Konstituierende Versammlung einzuberufen. Dieser Versuch mißlang. Der russische Bauer, der erst von der Revolution zum politischen Leben erweckt worden war, stand von Angesicht zu Angesicht einem halben Dutzend Parteien gegenüber, von denen eine jede es sich gleichsam zum Ziel gesetzt hatte, ihn zu verwirren. Die Konstituierende Versammlung stand der revolutionären Bewegung im Wege und wurde hinweggefegt.

Die Kompromißlermehrheit der Konstituierenden Versammlung stellte nur den politischen Widerschein der geistigen Unreife und der Unentschlossenheit der städtischen und ländlichen Zwischenschichten und der rückständigen Teile des Proletariats dar. Stellt man sich auf den Standpunkt der abstrakten historischen Möglichkeiten, so kann man sagen, daß es weniger schmerzhaft gewesen wäre, wenn die Konstituierende Versammlung nach einer Arbeit von zwei Jahren die Sozialrevolutionäre und die Menschewiki durch deren Beziehungen zu den Kadetten endgültig diskreditiert und dadurch zum formalen Uebergewicht der Bolschewiki geführt hätte; sie hätte dann den Massen gezeigt, daß es nur zwei Klüfte gibt: das von den Kommunisten geführte revolutionäre Proletariat und die gegenrevolutionäre Demokratie mit den Generalen und Admiralen an der Spitze. Das Wesentliche aber ist, daß das Entwicklungstempo der Beziehungen der Revolution durchaus nicht mit dem Entwicklungsgang der internationalen Beziehungen Schritt hielt. Hätte unsere Partei die ganze Verantwortung der objektiven Pädagogik des „Ganges der Ereignisse“ aufgebürdet, so hätte die Entwicklung der militärischen Ereignisse uns überholen können. Der deutsche Imperialismus hätte von Petersburg Besitz ergreifen können, was zu träumen die Regierung Kerenskis eifrig begann. Der Verlust Petersburgs hätte dann für das Proletariat den Todesstoß bedeutet, denn alle besten Kräfte der Revolution waren dort in der Baltischen Flotte und in der roten Hauptstadt konzentriert.

Unsere Partei darf man folglich nicht dessen anklagen, daß sie der historischen Entwicklung zuwidergehandelt habe, sondern dessen, daß sie einige politische Stufen übersprungen hat. Sie schritt über den Kopf der Menschewiki und der Sozialrevolutionäre hinweg, um dem deutschen Militarismus die Möglichkeit zu nehmen, über den Kopf des russischen Proletariats hinwegzuschreiten und mit der Entente auf dem Rücken der Revolution Frieden zu schließen, ehe diese ihre Fittiche über die ganze Welt ausgebreitet hatte.

Nach dem Gesagten kann man leicht die Antworten auf jene beiden Fragen finden, die uns Kautsky immer wieder stellt. Erstens, warum wir die Konstituierende Versammlung einberiefen, wenn wir die Diktatur des Proletariats im Auge hatten. Zweitens, warum wir, als die erste Konstituierende Versammlung, die einzuberufen wir für nötig fanden, sich als rückständig und den Interessen der Revolution nicht entsprechend herausstellte, die Einberufung einer neuen Konstituierenden Versammlung ablehnten. Der Hintergedanke Kautskys ist der, daß wir die Demokratie nicht aus prinzipiellen Gründen, sondern deshalb verworfen haben, weil sie gegen uns gerichtet war. Um diese Verleumdung bei ihren langen Ohren zu fassen, wollen wir die Tatsachen wiederholen.

Die Losung „die ganze Macht den Räten“ war von unserer Partei seit Beginn der Revolution aufgestellt worden, d. h. nicht nur lange vor der Auflösung der Konstituierenden Versammlung, sondern auch lange vor dem Dekret über ihre Einberufung. Wir stellten freilich die Sowjets der zukünftigen Konstituierenden Versammlung nicht gegenüber, deren Einberufung von der Regierung Kerenskis immer wieder aufgeschoben und daher immer problematischer wurde; auf jeden Fall aber betrachteten wir die Konstituierende Versammlung nicht nach dem Vorbild der kleinbürgerlichen Demokraten als den zukünftigen Herrn des russischen Landes, der kommen und alles entscheiden werde. Wir klärten die Massen darüber auf, daß der wirkliche Herr nur die revolutionären Organisationen der werktätigen Massen selbst – die Sowjets – sind und sein können. Wenn wir die Konstituierende Versammlung nicht schon im voraus verwarfen, so geschah das nur deshalb, weil sie nicht der Macht der Räte, sondern der Macht Kerenskis selbst entgegengestellt wurde, der seinerseits nur ein Aushängeschild der Bourgeoisie war. Dabei hatten wir schon im voraus beschlossen, daß, wenn in der Konstituierenden Versammlung die Mehrheit auf unserer Seite sein würde, die Konstituierende Versammlung sich selbst aufzulösen und die Macht den Sowjets zu übergeben habe, wie dies später die Petersburger Stadtverordnetenversammlung getan hat, die auf Grund des demokratischen Wahlrechts gewählt worden war. In meinem Büchlein Die Oktoberrevolution habe ich mich bemüht, die Ursachen aufzudecken, aus welchen die Konstituierende Versammlung ein verspäteter Widerschein einer von der Revolution schon überholten Epoche war. Da wir die Organisation der revolutionären Macht nur in den Räten sahen, da zur Zeit der Einberufung der Konstituierenden Versammlung die Sowjets schon tatsächlich die Macht darstellten, so wurde die Frage für uns unvermeidlich durch die gewaltsame Auflösung der Konstituierenden Versammlung entschieden, die sich selbst zugunsten der Macht der Sowjets nicht aufzulösen wünschte.

Aber warum – fragt Kautsky – beruft Ihr keine neue Konstituierende Versammlung ein?

Darum, weil wir sie nicht für nötig erachten. Konnte die erste Konstituierende Versammlung noch durch eine für die kleinbürgerlichen Elemente überzeugende Sanktion des eben erst errichteten Sowjetregimes vorübergehend eine fortschrittliche Rolle spielen, so bedarf die Macht der Räte jetzt, nach zweijähriger siegreicher Diktatur des Proletariats und nach dem vollständigen Zusammenbruch aller demokratischen Versuche in Sibirien, an den Ufern des Weißen Meeres, in der Ukraine, im Kaukasus, nicht der Weihe durch die Autorität der Konstituierenden Versammlung.

„Haben wir in diesem Falle nicht das Recht zu folgern“, fragt Kautsky in Uebereinstimmung mit Lloyd George, „daß die Sowjetmacht kraft des Willens der Minderheit regiert, wenn sie die Kontrolle ihrer Herrschaft durch die allgemeine Abstimmung vermeidet?“

Wahrlich ein Schlag, der am Ziele vorbeitrifft.

Wenn das parlamentarische Regime sogar in der Epoche der „friedlichen“, normalen Entwicklung ein sehr unzuverlässiges Barometer der Stimmungen im Lande war und in der Epoche des revolutionären Sturmes vollständig die Fähigkeit verloren hat, mit dem Gang des Kampfes und der Entwicklung des politischen Bewußtseins Schritt zu halten, so sucht die Sowjetmacht, die mit der werktätigen Mehrheit des Volkes ungleich näher, organischer, ehrlicher verbunden ist, ihre Bedeutung nicht darin, die Mehrheit statisch widerzuspiegeln, sondern sie dynamisch zu bilden. Dadurch, daß die Arbeiterklasse den Weg der revolutionären Diktatur betreten hat, hat sie deutlich ausgedrückt, daß sie ihre Politik in der Uebergangsperiode nicht auf die illusorische Kunst baut, mit den chamäleonischen Parteien im Einfangen von Bauernstimmen zu wetteifern, sondern auf die tatsächliche Heranziehung der Bauernmassen Hand in Hand mit dem Proletariat zur Verwaltung des Landes im wirklichen Interesse der werktätigen Massen. Diese Demokratie ist etwas tiefer als der Parlamentarismus.

Nimmt Kautsky an, daß gegenwärtig, wo die Hauptaufgabe der Revolution – eine Frage von Sein oder Nichtsein – in der militärischen Abwehr des rasenden Andranges der weißgardistischen Banden liegt, irgend eine parlamentarische „Mehrheit“ fähig sei, eine energischere und selbstaufopferndere, siegreichere Organisation der revolutionären Verteidigung zu sichern? Die Bedingungen des Kampfes in einem revolutionären Lande, das vom schändlichen Ring der Blockade gewürgt wird, sind so deutlich, daß allen Zwischenklassen und Zwischengruppen nur die Wahl zwischen Denikin und der Sowjetmacht bleibt. Was für ein Beweis ist noch nötig, wenn sogar Parteien, die aus Prinzip Zwischenparteien sind, wie die Menschewiki und die Sozialrevolutionäre, sich in derselben Richtung gespalten haben? Wenn Kautsky uns Wahlen in die Konstituierende Versammlung vorschlägt, beabsichtigt er für die Zeit der Wahlen den Bürgerkrieg einzustellen? Kraft wessen Entscheidung? Wenn er dazu die Autorität der II. Internationale in Bewegung zu setzen gedenkt, so beeilen wir uns, ihn darauf aufmerksam zu machen, daß diese Institution bei Denikin nur sehr wenig mehr Autorität besitzt als bei uns. Soweit der Krieg zwischen der Arbeiter- und Bauernarmee und den imperialistischen Banden aber fortgesetzt und die Wahlen notgedrungen auf das Sowjetterritorium beschränkt werden müssen, will Kautsky verlangen, daß wir den Parteien, die Denikin gegen uns unterstützen, erlauben, offen aufzutreten? Leeres und verachtungswürdiges Geschwätz! Niemals und unter keinen Umständen kann eine Regierung dem gegen sie kämpfenden Gegner erlauben, im Rücken ihrer eigenen Armee feindliche Kräfte zu mobilisieren.

Nicht die letzte Stelle nimmt in dieser Frage die Tatsache ein, daß die Elite der werktätigen Bevölkerung sich gegenwärtig in der aktiven Armee befindet. Die vorgeschrittenen Proletarier und die aufgeklärtesten Bauern, die bei allen Wahlen, sowie bei allen politischen Massenaktionen an erster Stelle stehen und die öffentliche Meinung der Werktätigen leiten, sie alle ringen und sterben gegenwärtig in der Eigenschaft von Befehlshabern, Kommissaren oder einfachen Kämpfern der Roten Armee. Wenn selbst die „demokratischen“ Regierungen der bürgerlichen Staaten, deren Regime sich auf den Parlamentarismus gründet, es nicht für möglich hielten, während des Krieges Wahlen zum Parlament vorzunehmen, um wieviel sinnloser ist es, solche Wahlen während des Krieges von der Sowjetrepublik zu fordern, die in keiner Weise auf dem Parlamentarismus basiert. Es genügt durchaus, daß die revolutionäre Macht Rußlands ihren Wahlinstitutionen – den örtlichen Sowjets – in den schwersten Monaten und Tagen mit allen Mitteln die Möglichkeit gegeben hat, sich durch periodische Wahlen zu erneuern.

Endlich, als letzter Beweis – last but not least – muß Kautsky gesagt werden, daß sogar die russischen Kautskyaner, Menschewisten wie Martow und Dan, es nicht für möglich halten, gegenwärtig die Forderung der Konstituierenden Versammlung aufzustellen, und sie für eine bessere Zukunft aufsparen. Wird sie dann nötig sein? Wir erlauben uns, daran zu zweifeln. Wenn der Bürgerkrieg beendet sein wird, dann wird die Diktatur der Arbeiterklasse ihre ganze schöpferische Kraft entfalten und den rückständigen Massen durch die Tat zeigen, was sie ihnen geben kann. Durch die planmäßig durchgeführte Arbeitspflicht und durch die zentralisierte Organisation der Verteilung wird die ganze Bevölkerung des Landes in das allgemeine Wirtschaftssystem der Sowjets und der Selbstverwaltung hineingezogen werden. Die Sowjets selbst, gegenwärtig Machtorgane, werden sich in rein wirtschaftliche Organisationen verwandeln. Unter diesen Verhältnissen wird es wohl kaum jemandem in den Sinn kommen, dem realen Bau der sozialistischen Gesellschaft die altertümliche Krone der „Konstituierenden“ Versammlung aufzusetzen, die nur festzustellen hätte, daß alles Nötige schon vor ihr und ohne sie konstituiert worden ist. [1]

In diesem Geschreibsel sind einige Körnchen Wahrheit enthalten. Die Börse hat in der Tat die Regierung Koltschaks unterstützt, als dieser sich auf die Konstituierende Versammlung stützte. Sie hat Koltschak aber noch energischer unterstützt, nachdem er die Konstituierende Versammlung auseinandergejagt hatte. An der Erfahrung mit Koltschak festigte sich die Ueberzeugung der Börse, daß die Mechanik der bürgerlichen Demokratie zu kapitalistischen Zwecken ausgenutzt und darauf beiseitegeworfen werden könne, wie ein abgetragener Fußlappen. Es ist durchaus möglich, daß die Börse von neuem einigen Vorschuß auf die Konstituierende Versammlung geben wird, in der festen, durch die Erfahrung durchaus begründeten Ueberzeugung, daß die Konstituierende Versammlung nur eine Uebergangsstufe zur kapitalistischen Diktatur ist. Wir beabsichtigten nicht, das „Geschäftsvertrauen“ der Börse um einen solchen Preis zu erkaufen und ziehen entschieden das „Vertrauen“ vor, das die Waffe unserer Roten Armee der realistischen Börse einflößt.

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Anmerkung

1. Um uns für die Konstituierende Versammlung einzunehmen, fügt Kautsky den Beweisgründen des kategorischen Imperativs das Argument der Valuta hinzu.

„Rußland bedarf dringend – schreibt er – der Hilfe des ausländischen Kapitals. Aber sie wird der Sowjetrepublik nicht zuteil werden ... Nicht etwa, daß die Kapitalisten demokratische Idealisten wären. Sie haben dem Zarismus bedenkenlos viele Milliarden geborgt. Aber sie bringen einer revolutionären Regierung kein geschäftliches Vertrauen entgegen.“ (S. 144)


Zuletzt aktualisiert am 8. Februar 2020