Leo Trotzki

 

Der Krieg und die Internationale

 

IV. Der Krieg gegen den Westen

Nach der Rückkehr seiner diplomatischen Reise aus Italien, schrieb Dr. Südekum im Vorwärts, dass die italienischen Genossen das Wesen des Zarismus nicht genügend verstünden. Wir sind mit Dr. Südekum ganz einverstanden, dass es einem Deutschen leichter ist, die Natur des Zarismus zu verstehen, da er doch täglich das Wesen des preußisch-deutschen Absolutismus am eigenen Leibe kennen lernt. Und diese beiden „Wesen“ sind einander sehr verwandt.

Der deutsche Absolutismus repräsentiert eine feudal-monarchische Organisation, für welche die Entwicklung des letzten halben Jahrhunderts ein mächtiges kapitalistisches Fundament schuf. Die Kraft der deutschen Armee, wie wir sie in ihrer blutigen Arbeit wiederum kennen lernen, besteht nicht nur in der materiell-technischen Machtfülle der Nation, in der Intelligenz und Exaktheit der Arbeitersoldaten, die die Schule der Industrie und der Klassenorganisationen durchgemacht haben, sondern auch in ihrem junkerlichen Offizierskorps, mit seinen Herrschaftstraditionen, der Unterdrückung dessen, was unten, der Unterordnung unter das, was oben ist. Die deutsche Armee, wie auch der deutsche Staat, repräsentieren eine feudal-monarchische Organisation mit unerschöpften kapitalistischen Ressourcen. Die bürgerlichen Skribenten können, so viel sie nur wollen, schwatzen von der Überlegenheit des Deutschen, des Pflichtmenschen, über den Franzosen, den Genussmenschen; der wirkliche Unterschied liegt nicht in den Eigenschaften der Rasse, sondern in den sozialen und politischen Verhältnissen. Das ständige Heer, dieser abgeschlossene, sich selbst genügende Staat im Staate, verbleibt, ungeachtet der allgemeinen Wehrpflicht, eine Kastenorganisation, die für ihr Aufblühen der künstlichen Standesauslese und der monarchischen Bekrönung der kommandierenden Hierarchie bedarf.

In seiner Schrift Die neue Armee wies Jaurès nach, dass Frankreich nur eine auf der Grundlage der Volksbewaffnung aufgebaute Verteidigungs-Armee haben kann, d.h. die Miliz. Die bürgerliche französische Republik büßt es jetzt, dass sie in ihrer Armee ein Gegengewicht zu den demokratischen Formen des Staates haben wollte. Sie schuf, nach Jaurès Worten, „ein Bastard-Regime, in welchem veraltete Formen mit Formen, die im Werden begriffen sind, zusammenstießen und sich gegenseitig neutralisierten.“ Dieses Missverhältnis zwischen dem ständigen Heer und dem republikanischen Regime ist die fundamentale Schwäche des militärischen Systems Frankreichs. Umgekehrt: die wahrhaft barbarische politische Rückständigkeit Deutschlands gibt ihm ein großes militärisches übergewicht. Die deutsche Bourgeoisie konnte von Zeit zu Zeit murren, wenn der prätorianische Kastengeist des Offizierskorps zu Ausbrüchen wie die von Zabern führte, sie konnte dem Kronprinzen und seiner Losung „Immer feste druff!“ ein schiefes Gesicht machen; die deutsche Sozialdemokratie konnte noch so sehr die systematische Misshandlung der Persönlichkeit des deutschen Soldaten brandmarken, die im Vergleich zu andern Ländern zu einer doppelten Zahl von Selbstmorden in den deutschen Kasernen führte, – die politische Charakterlosigkeit der Bourgeoisie und das Fehlen einer revolutionären Schulung beim deutschen Proletariat erlaubte dennoch der herrschenden Kaste, das ungeheuerliche Gebäude des Militarismus aufzurichten, welches die intelligenten und exakten deutschen Arbeiter unter das Kommando der Zabernschen Helden stellt, und unter ihre Losung „Immer feste druff!“

Hans Delbrück sucht mit voller Berechtigung die Quelle der militärischen Macht Deutschlands im Teutoburger Walde!

„Die älteste germanische Kriegsverfassung,“ sagt er, „beruhte auf der Gefolgschaft der Fürsten als ganz besonders auserwählter Krieger und einer kriegerischen Masse, die das ganze Volk umfasste. Das haben wir heute wieder. Wie anders sind die Formen geworden, wie wir heute kämpfen, als es im Teutoburger Wald unsere Vorfahren getan haben! Die wunderbare Technik der modernen Gewehre und Mörser und diese wunderbare Gliederung der ungeheuren Massen, und doch im Grunde dieselbe Kriegsverfassung: der kriegerische Geist aufs höchste potenziert, aufs höchste ausgebildet in einer Körperschaft, die damals klein war, heute viele Tausende umfasst, in Treue ihrem Kriegsherrn verpflichtet und von ihm, noch ähnlich, wie von den alten Fürsten, als seine Bankgenossen angesehen, und das ganze Volk unter ihrer Führung und von ihnen erzogen und in ihre Disziplin genommen. Hier haben wir das Geheimnis des kriegerischen Charakters des deutschen Volkes.

Der französische Major Driant sieht mit der verliebten Eifersucht eines Zwangrepublikaners auf den deutschen Kaiser in der Uniform der weißen Kürassiere – sicherlich die imposanteste und kriegerischste aller Uniformen – und ist entzückt, wie er seine Zeit „inmitten seiner Armee, dieser eigentlichen Familie der Hohenzollern“ zubringt.

Die feudale Kaste, für die schon längst die Zeit gekommen war, politisch und moralisch zu verfaulen, hat auf dem Boden des Imperialismus wieder ihre Verbindung mit der Nation gefunden. Und so weit reichte diese Verbindung mit der Nation, dass sich die vor einigen Jahren geschriebene Prophezeiung des Major Driant erfüllte, die bisher nur als die giftige Insinuation eines geheimen Bonapartisten oder Faselei eines Irrsinnigen erscheinen konnte.

„Der Kaiser ist der Feldherr ... und hinter ihm steht das ganze arbeitende Deutschland wie ein Mann ... Bebels Sozialdemokraten liegen mit in den Reihen, den Finger am Abzug, und auch sie denken an nichts anderes als an das Heil des Vaterlandes. Die zehn Milliarden Kriegskontribution, die Frankreich wird zahlen müssen, werden ihnen eine bessere Hilfe sein, als die sozialistischen Hirngespinste, mit denen sie sich noch am Tage vorher genährt haben.“

Ja, von dieser künftigen Kontribution – doch nicht von 10, sondern 20 oder 30 Milliarden, schreiben jetzt mit echt lumpenhafter Unverschämtheit auch schon einige sozialdemokratische ( ! ) Blätter.

Der Sieg Deutschlands über Frankreich – eine bedauerliche strategische Notwendigkeit, nach Einschätzung der deutschen Sozialdemokratie – würde in erster Linie nicht die Niederlage des stehenden Heeres im Regime der republikanischen Demokratie, sondern den Sieg der feudal-monarchischen Verfassung über die demokratisch-republikanische bedeuten.

Denn die alte Rasse der Hindenburg, Moltke und Kluck, die erblichen Spezialisten in Sachen der Massenmorde, sind ebenso sehr eine unumgängliche Bedingung deutscher Siege, wie Kanonen von 42 Zentimeter Durchmesser, der letzte Ausdruck des technischen Vermögens des Menschen!

Schon jetzt spricht die gesamte bürgerliche Presse, von der durch den Krieg gekräftigten Unerschütterlichkeit der deutschen Monarchie. Und auch jetzt schon erklären die deutschen Gelehrten – dieselben, welche Hindenburg zum Doktor aller Wissenschaften ausgerufen haben – politische Sklaverei als eine höhere Form des Gesellschaftslebens.

„Wie wenig“, schreiben sie, „haben sich die demokratische Republik und das vom parlamentarischen Regiment unterjochte Schattenkönigtum und all die anderen schönen Dinge, die man pries, im Sturm bewährt!“

Und ist es beleidigend und beschämend, die Aufsätze der französischen Sozialisten zu lesen, die sich viel zu schwach erwiesen, um das Bündnis Frankreichs mit Russland zu zerbrechen, oder wenigstens die Rückkehr zur dreijährigen Dienstzeit zu verhindern und die nichtsdestoweniger in ihren roten Hosen sich aufmachen, Deutschland zu befreien, so packt uns das Gefühl unaussprechlicher Entrüstung beim Lesen der deutschen Parteipresse, die in der Sprache exaltierter Sklaven die heldenmütige Kaste der erblichen Unterdrücker für ihre Waffentaten auf dem Territorium Frankreichs rühmt!

Am 15. August.1870, als die siegreichen deutschen Armeen sich Paris näherten, schrieb Engels in einem Brief an Marx, in welchem er den wirren Zustand der französischen Verteidigung charakterisierte:

„Trotzdem braucht eine revolutionäre Regierung, wenn sie bald kommt, nicht zu verzweifeln. Sie muss aber Paris seinem Schicksal überlassen und den Krieg von Süden aus weiterführen. Es ist dann noch immer möglich, dass sie sich so lange halten kann, bis Waffen aufgekauft und neue Heere organisiert sind, mit denen der. Feind allmählich wieder bis an die Grenze zurückgedrückt wird. Das wäre eigentlich das wahre Ende des Krieges, dass beide Länder sich gegenseitig den Beweis ihrer Unbesiegbarkeit liefern.“

Und es gibt Leute, die mit der Stimme trunkener Heloten schreien: „Nach Paris!“ und die Dreistigkeit besitzen, sich zu gleicher Zeit auf Marx und Engels zu berufen. Inwiefern stehen sie denn höher als die dreifach verachteten russischen Liberalen, die vor dem erlauchten Oberkommandierenden auf dem Bauche kriechen, der die russische „Nagajka“ in Ostgalizien einführt. Wie eine feige Anmaßung klingen die Reden von dem rein „strategischen“ Charakter des Krieges an der Westgrenze! Wer rechnet damit? Jedenfalls nicht die deutschen regierenden Klassen. Sie reden die Sprache der Überzeugung und der Kraft. Sie nennen die Dinge beim richtigen Namen. Sie wissen was sie wollen und verstehen für ihre Aufgaben zu kämpfen.

Die Sozialdemokraten erzählen uns, dass der Krieg der Sache der nationalen Unabhängigkeit diene. „Das ist nicht wahr!“ antwortet ihnen Herr Arthur Dix:

„Wie die große Politik im vorigen Jahrhundert dem nationalen Gedanken einen besonders scharf geprägten Grundzug verdankte, so stehen die weltpolitischen Geschehnisse des laufenden Jahrhunderts unter dem Zeichen des imperialistischen Gedankens. Er ist berufen, dem Machtstreben der Großen Antrieb, Rahmen und Ziel zu geben.“ (Der Weltwirtschaftskrieg, 1914, S.3).

„Von erfreulichem Verständnis ...“, schreibt derselbe Herr Arthur Dix, „auf Seiten der Kreise, die den Krieg militärisch vorzubereiten gehabt, zeugte es, dass schon im ersten Stadium der Kriegsführung das Vordringen unseres Heeres gegen Frankreich und Russland sich gerade dort vollzog, wo es galt, besonders wertvolle deutsche Bodenschätze von feindlichem Eindringen frei zu halten und solche Teile des Feindeslandes zu besetzen, die unseren eigenen Besitz an unterirdischen Reichtümern ergänzen konnte.“ (a.a.O., S.38)

Die „Strategie“, von der jetzt die Sozialisten in ehrerbietigem Flüstertone sprechen, beginnt in Wirklichkeit ihre Tätigkeit mit dem Raub der Bodenschätze,

Die Sozialdemokraten sagen uns, dass der Krieg dem Werke der Volksverteidigung diene. Doch Herr Georg Irmer schreibt klar und deutlich:

„Man spreche doch nicht immer davon als von etwas Selbstverständlichem, dass das deutsche Volk im Wettbewerb um Weltwirtschaft und Weltmacht zu spät gekommen, dass die Welt verteilt sei. Ist denn die Erde nicht in allen Epochen der Geschichte immer wieder von neuem verteilt worden?“ (Los vom englischen Weltjoch, 1914, S.42)

Die Sozialisten trösten uns, dass Belgien nur zeitweilig erdrückt worden, und dass die Deutschen baldigst die belgischen Quartiere verlassen werden. Doch Herr Arthur Dix, der wohl weiß, was er will, und der das Recht und die Kraft hat, zu wollen, schreibt: „der deutsche Ausgang zum offenen Atlantischen Ozean – das sei es, was England ausgesprochenermaßen am meisten befürchtet. Eben deshalb aber dürfen wir weder Belgien aus der Hand lassen noch darauf verzichten, Sorge zu tragen, dass die Küste womöglich von Ostende bis zur Mündung der Somme nicht wieder in die Hand irgend eines Staatengebietes falle, das zum politischen Vasallen Englands werden könnte, sondern vielmehr in irgend einer Form deutschem Einfluss sichergestellt werde.“

Jetzt erfüllt in unaufhörlichen Kämpfen zwischen Ostende und Dünkirchen die heilige „Strategie“ auch diesen Programmpunkt der Berliner Börse.

Die Sozialisten erzählen uns, dass der Krieg zwischen Frankreich und Deutschland nur ein kleines Vorspiel zu einem dauerhaften Bündnis zwischen ihnen sei, aber Herr Arthur Dix deckt auch hier alle Karten auf. Nach ihm gibt es für uns „nur eine Antwort: das Streben nach Vernichtung des englischen Weltwirtschaftsanteils und nach tödlichen Schlägen gegen die englische Volkswirtschaft!“ „Der auswärtigen Politik des deutschen Reiches“, verkündet Prof. Franz von Liszt, „ist das Ziel für die nächsten Jahrzehnte deutlich vorgezeichnet. ‚Schutz gegen England‘, so muss unsere Parole lauten.“ (Ein mitteleuropäischer Staatenverband, 1914, S.24)

„Wir müssen,“ ruft ein Dritter, „den hinterhältigsten und bösartigsten unserer Feinde niederwerfen, wir müssen die Tyrannei brechen, die England in schnöder Selbstsucht und schamloser Rechtsverachtung über die Meere übt.“ Der Krieg wird nicht gegen den Zarismus geführt, sondern vor allem gegen Englands Überlegenheit zur See.

„Man kann wohl sagen,“ gesteht Prof. Schiemann, „dass kein Erfolg so sehr Freude erregte, wie die Niederlagen der Engländer bei Maubeuge und St. Quentin am 28. August.“

Die deutschen Sozialdemokraten sagen, dass das Hauptziel des Krieges die – „Abrechnung mit Russland“ sei. Doch der biedere Herr Rudolf Theuden will Galizien an Russland ausliefern und als Zugabe Nordpersien. Dann „hätte (Russland) so viel erreicht, dass es auf viele Jahrzehnte hinaus befriedigt sein könnte; man könnte sogar daran denken, es sich zum Freunde dadurch zu machen.“ Das wurde noch vor den russischen Erfolgen in Galizien geschrieben. „Was musste uns der Krieg bringen?“ fragte Herr Theuden und antwortete:

„Die Hauptsache hätte uns Frankreich zu zahlen ... Frankreich hätte an uns außer Belfort den von der Mosel, bei hartnäckigem Widerstand auch den von der Maas begrenzten Teil Lothringens abzutreten; wenn wir die Mosel und Maas zu deutschen Grenzflüssen machen, gewöhnen sich die Franzosen vielleicht einmal den Gedanken ab, den Rhein zum französischen Grenzfluss machen zu wollen.“

Die bürgerlichen Politiker und Professoren sagen uns, dass der Hauptfeind England ist, Belgien und Frankreich ein Weg zum atlantischen Ozean, dass die Hoffnungen auf eine russische Kontribution ja so wie so utopisch sind; dass Russland als Freund vorteilhafter sei denn als Feind; dass Frankreich an Geld und Boden wird zahlen müssen – und der Vorwärts ermahnt die deutschen Arbeiter, durchzuhalten „so lange, bis der Sieg endgültig unser ist“. Und dabei erklärt er uns, dass der Krieg um die Unabhängigkeit der deutschen Nation und um die Befreiung der Völker Russlands geführt wird. Was ist das nun am Ende? Man darf offenbar nicht Gedanken, Logik und Wahrheit dort suchen, wo sie nicht vorhanden sind; hier ist einfach ein Geschwür sklavischer Empfindungen aufgebrochen und schleichende Fäulnis kriecht auf den Seiten der Arbeiterpresse. Es ist offenbar, dass die unterdrückte Klasse, die gar langsam und träge der Freiheit entgegengeht, in letzter Stunde alle ihre Hoffnungen und Verheißungen durch Schmutz und Blut schleppen muss, bevor sich in ihrer Seele die unverfälschte Stimme erhebt – die Stimme der revolutionären Ehre.

 


Zuletzt aktualiziert am 13.3.2001