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Der russische Zarismus repräsentiert unstreitig eine rohere, barbarischere staatliche Organisation als der gebrechlichere, durch Altersschwäche gemilderte österreichisch-ungarische Absolutismus. Doch Russland sogar als rein staatliche Organisation betrachtet, ist durchaus nicht mit dem Zarismus identisch. Die Vernichtung des Zarismus bedeutet nicht die Auslöschung Russlands, im Gegenteil, es bedeutet seine Befreiung und Stärkung. Aussprüche wie die, dass es nötig sei, Russland nach Asien zurückzuwerfen, übertrugen sich auch auf einen gewissen Teil der sozialdemokratischen Presse, beruhen aber auf schlechter Kenntnis der Geographie und Ethnographie. Wie sich auch das Schicksal einzelner Teile des jetzigen Russlands gestalten sollte – Russisch-Polens, Finnlands, der Ukraine oder Bessarabiens – das europäische Russland hört darum nicht auf zu existieren, als nationales Territorium eines Vielmillionenvolkes, das im letztem Viertel des Jahrhunderts sehr große Eroberungen auf der Bahn der kulturellen Entwicklung gemacht hat.
Ganz anders steht es mit Österreich-Ungarn: als staatliche Organisation ist es der habsburgischen Monarchie gleichbedeutend, mit der es steht und fällt, ähnlich der europäischen Türkei, die mit der osmanischen militärisch-feudalen Kaste identisch war und mit ihr auch gefallen ist. Als ein dynastisch erzwungenes Konglomerat zentrifugaler Nationensplitter repräsentiert Österreich-Ungarn das reaktionärste Gebilde im Zentrum Europas. Seine Erhaltung, nach der gegenwärtigen europäischen Katastrophe wird nicht nur die Entwicklung der Donau- und Balkanvölker für neue Jahrzehnte bremsen, wird nicht nur die Gewähr für eine Wiederholung des europäischen Krieges schaffen, sondern wird auch den Zarismus politisch stärken, indem sie ihm die Hauptquelle seiner idealen Nahrung lässt.
Wenn sich die deutsche Sozialdemokratie mit der Zertrümmerung Frankreichs, als einer Strafe für sein Bündnis mit dem Zarismus, aussöhnt, so muss man verlangen, dass sie dasselbe Kriterium auch auf das deutsch-österreichische Bündnis anwendet. Wenn sich die völkerbefreiende Bewertung des gegenwärtigen Krieges von Seiten der englischen und französischen Presse an dem Bündnis der beiden westlichen Demokratien mit dem völkerknechtenden Zarismus zerschlägt, so erscheint es als eine ebensolche, wenn nicht noch größere Anmaßung, das befreiende Panier, wie es die deutsche Sozialdemokratie tut, über die hohenzollernsche Armee auszubreiten, welche nicht nur gegen den Zarismus und seine Verbündeten kämpft, sondern auch für die Erhaltung und Befestigung der habsburgischen Monarchie.
Österreich-Ungarn ist Deutschland unentbehrlich, – dem herrschenden Deutschland, wie wir es kennen. Indem es Frankreich durch die gewaltsame Aneignung Elsass-Lothringens in die Arme des Zarismus stieß, die Beziehungen zu England durch rasche Rüstungen zur See systematisch verschärfte, alle Versuche einer Annäherung und Verständigung mit den beiden westlichen Demokratien zurückwies, da diese Verständigung die Demokratisierung Deutschlands vorausgesetzt hätte, war die herrschende Junkerkaste gezwungen, eine Stütze in der österreichisch-ungarischen Monarchie zu suchen, als dem Hilfsreservoir militärischer Kraft gegen die Feinde im Westen und Osten. Die Mission Österreich-Ungarns bestand vom deutschen Gesichtspunkt aus darin, in den Dienst der militaristisch-junkerdeutschen Politik ungarische, polnische, rumänische, tschechische, ruthenische, serbische und italienische Hilfskorps zu stellen. Das herrschende Deutschland hat sich leicht damit abgefunden, dass 10-12 Millionen Deutsche von ihrer nationalen Metropole abgerissen blieben, – haben doch diese zwölf Millionen den staatlichen Kern gebildet, um den die Habsburger mehr als 40 Millionen nichtdeutscher Bevölkerung vereinigt haben. Eine demokratische Föderation selbständiger Donauvölker hätte sie für den deutschen Militarismus als Bundesgenossen unbrauchbar gemacht. Nur eine militärisch erzwungene monarchische Organisation Österreich-Ungarns macht es dem Deutschland der Junker als Bundesgenossen brauchbar. Die unumgängliche Bedingung dieses Bündnisses, das durch die Nibelungentreue der Dynastien geheiligt ist, bildet die ständige Kriegsbereitschaft Österreich-Ungarns, die aber nur durch eine mechanische Niederhaltung der zentrifugalen nationalen Tendenzen bewahrt werden kann.
Für Österreich-Ungarn, das an allen seinen Grenzen von mit seinem eigenen Völkerbestand verwandten Nationen umgeben ist, steht die äußere Politik im innigsten und unmittelbarsten Zusammenhang mit der inneren Politik. Um 7 Millionen Serben und Südslawen in seinen staatlich-militärischen Rahmen einzwängen zu können, muss Österreich-Ungarn den Herd ihrer politischen Anziehung ersticken – das selbständige Königreich Serbien.
Das österreichische Ultimatum an Serbien war der entscheidende Schritt auf diesem Wege. „Österreich-Ungarn hat seinen Schritt unter dem Gebot der Notwendigkeit getan“, schreibt E. Bernstein in den Sozialistischen Monatsheften (16. Heft), – und das ist absolut richtig, wenn man die politischen Ereignisse aus dem Gesichtswinkel der dynastischen Notwendigkeiten betrachtet.
Die Politik der Habsburger mit dem Hinweis auf das tiefe moralische Niveau der Belgrader Machthaber verteidigen kann man nur, wenn man sich der Tatsache verschließt, dass die Habsburger sich nur mit einem Serbien befreunden konnten, an dessen Spitze eine österreichische Agentur stand, in Gestalt von Milan – die niederträchtigste Regierung, die die Geschichte der unglückseligen Balkanhalbinsel jemals kannte. Wenn die Abrechnung mit Serbien so spät kam, so nur darum, weil die Sorge um die Selbsterhaltung nicht tatkräftig genug war, in dem gebrechlichen Organismus der Monarchie. Nach dem Tode des Erzherzogs, der Stütze und Hoffnung der österreichischen militärischen Partei und Berlins, kam ein kräftiger Rippenstoß des Bundesgenossen, der unerbittlich eine Demonstration der Standhaftigkeit und Kraft verlangte. Das österreichische Ultimatum an Serbien war nicht nur in voraus gutgeheißen, sondern nach allen Angaben von dem herrschenden Deutschland genau inspiriert. Darüber wird deutlich genug in demselben Weißbuche gesprochen, das die professionellen und nichtprofessionellen Diplomaten als eine Urkunde hohenzollernscher Friedensliebe darzustellen versuchen.
Indem es die Ziele der großserbischen Propaganda und die Machinationen des Zarismus auf dem Balkan charakterisiert, sagt das Weißbuch:
„Unter diesen Umständen musste Österreich sich sagen, dass es weder mit der Würde noch mit der Selbsterhaltung der Monarchie vereinbar wäre, dem Treiben jenseits der Grenze noch länger tatenlos zuzusehen. Die k.k. Regierung benachrichtigte uns von dieser Auffassung und erbat unsere Ansicht. Aus vollem Herzen konnten wir unseren Bundesgenossen unser Einverständnis mit seiner Einschätzung der Sachlage geben und ihm versichern, dass eine Aktion, die er für notwendig hielte, um der gegen den Bestand der Monarchie gerichteten Bewegung in Serbien ein Ende zu machen, unsere Billigung finden würde. Wir waren uns hierbei wohl bewusst, dass ein etwaiges kriegerisches Vorgehen Österreich-Ungarns gegen Serbien Russland auf den Plan bringen und uns hiermit unserer Bundespflicht entsprechend in einen Krieg verwickeln könnte.
Wir konnten aber in der Erkenntnis der vitalen Interessen Österreich-Ungarns, die auf dem Spiele standen, unserem Bundesgenossen weder zu einer mit seiner Würde nicht zu vereinbarenden Nachgiebigkeit raten, noch auch ihm unsern Beistand in diesem schweren Moment versagen. Wir konnten dies um so weniger, als auch unsere Interessen durch die andauernde serbische Wühlarbeit auf das empfindlichste bedroht waren. Wenn es den Serben mit Russlands und Frankreichs Hilfe noch länger gestattet geblieben wäre, den Bestand der Nachbarmonarchie zu gefährden, so würde dies den allmählichen Zusammenbruch Osterreichs und eine Unterwerfung des gesamten Slawentums unter russischem Szepter zur Folge haben, wodurch die Stellung der germanischen Rasse in Mitteleuropa unhaltbar würde. Ein moralisch geschwächtes, durch das Vordringen des russischen Panslawismus zusammenbrechendes Österreich wäre für uns kein Bundesgenosse mehr, mit dem wir rechnen könnten und auf den wir uns verlassen könnten, wie wir es angesichts der immer drohender werdenden Haltung unserer östlichen und westliche Nachbarn müssen. Wir ließen daher Österreich völlig freie Hand in seiner Aktion gegen Serbien.“
Die Beziehung des herrschenden Deutschland zu dem österreichisch-serbischen Konflikt ist hier mit voller Klarheit gezeichnet. Deutschland war nicht nur von den Absichten der österreichischen Regierung durch dieses unterrichtet, es hat sie nicht nur gebilligt, es hat nicht einfach die seiner „Bundestreue“ entspringenden Folgen auf sich genommen, nein, es hat selbst den Vorstoß Österreichs als einen rettenden und unumgänglichen angesehen und machte faktisch den Vorstoß Österreich-Ungarns auf dem Balkan zur Bedingung der weiteren Erhaltung des Bündnisses. Sonst „wäre Österreich für uns kein Bundesgenosse mehr, mit dem wir rechnen könnten“.
Dieser Sachverhalt und die in ihm verborgene Gefahr waren den deutschen Marxisten völlig klar. Am 29. Juni, einen Tag nach Ermordung des österreichischen Erzherzogs, schrieb der Vorwärts:
„Allzu sehr hat eine stümperhafte Politik die Geschicke unseres Volkes mit dem Österreichs verknüpft. Das Bündnis mit Österreich ist von unsern Regierenden zur Grundlage der ganzen auswärtigen Politik gemacht worden. Aber immer mehr erweist es sich nicht als eine Quelle der Stärkung, sondern als eine Quelle der Schwäche. Das Problem Österreichs erhebt sich immer drohender zu einer Gefahr für den Frieden Europas.“
Einen Monat später, als die Gefahr schon drohte, sich zur schrecklichen Wirklichkeit des Krieges auszuwachsen, am 28. Juli, schrieb das Zentralorgan der deutschen Sozialdemokratie nicht weniger bestimmt: „Wie hat sich das deutsche Proletariat gegenüber einem so sinnlosen Paroxismus zu verhalten?“ – und antwortete: „Es ist sicher nicht im mindesten an dem Fortbestand des österreichischen Völkerchaos interessiert.“ ...
Im Gegenteil. Das demokratische Deutschland ist nicht an dem Fortbestand, sondern an dem Zerfall Österreich-Ungarns interessiert. Dies hätte Deutschland um 12 Millionen kultivierter Bevölkerung vermehrt, mit einem erstklassigen Zentrum, wie es Wien ist. Italien hätte seine nationale Ergänzung erreicht und aufgehört, die Rolle des unberechenbaren Faktors zu spielen, der es allezeit im Dreibunde war. Ein selbständiges Polen, Ungarn, Böhmen und eine Balkanföderation mit einem Rumänien von 10 Millionen Einwohnern an der russischen Grenze wären ein mächtiger Schutzwall gegen den Zarismus. Was aber das wichtigste wäre: ein demokratisches Deutschland mit 75 Millionen deutscher Bevölkerung könnte, ohne Hohenzollern und die herrschenden Junker, mühelos zu einer Verständigung mit Frankreich und England kommen, den Zarismus isolieren und ihn in seiner äußern und innern Politik zur Ohnmacht verdammen. Eine zur Erreichung dieser Ziele gerichtete Politik wäre wirklich eine befreiende für die Völker Russlands wie auch Österreich-Ungarns. Aber eine solche Politik verlangt eine wesentliche Voraussetzung, nämlich, dass das deutsche Volk, statt, den Hohenzollern die Befreiung anderer Volker zu übertragen, sich selbst von den Hohenzollern befreit.
Die Haltung der deutschen und Österreich-ungarischen Sozialdemokratie zeigte sich im gegenwärtigen Kriege im schreienden Widerspruch zu solchen Zielen. Sie geht im gegenwärtigen Zeitpunkt ganz von der Notwendigkeit der Erhaltung und Festigung der habsburgischen Monarchie aus, im Interesse Deutschlands oder der deutschen Nation. Ausdrücklich aus diesem antidemokratischen Gesichtswinkel, der jedem international denkenden Sozialisten die brennende Schamröte ins Gesicht treibt, formuliert die Wiener Arbeiter-Zeitung den historischen Sinn des gegenwärtigen Krieges, „der nun vor allem der Krieg gegen deutsches Wesen ist“.
„Ob die Diplomatie richtig gehandelt, ob es so kommen musste, das mögen spätere Zeiten entscheiden. Jetzt steht das deutsche Volk auf dem Spiel und da gibt es kein Schwanken und kein Zagen! Das deutsche Volk ist einig in dem eisernen, unbeugsamen Entschluss, sich nicht unterjochen zu lassen und nicht Tod und Teufel wird es gelingen, usw.“ (Wiener Arbeiter-Zeitung vom 5. Aug.) – Wir schonen den politischen und literarischen Geschmack des Lesers, indem wir dieses Zitat nicht fortsetzen. Hier wird nichts gesagt von der befreienden Mission in Bezug auf andere Völker, hier wird als Aufgabe des Krieges die Erhaltung und Sicherung „der deutschen Menschheit“ gestellt.
Die Verteidigung der deutschen Kultur, der deutschen Erde, der deutschen Menschheit, erscheint hier als eine Aufgabe nicht nur der deutschen, sondern auch der österreichisch-ungarischen Armee. Serben müssen also gegen Serben kämpfen, Ukrainer gegen Ukrainer – für die deutsche Menschheit. Vierzig Millionen nichtdeutscher Völkerschaften Österreich-Ungarns werden hier einfach als historischer Dünger für die Felder deutscher Kultur betrachtet. Dass dies nicht der Standpunkt des internationalen Sozialismus ist, braucht man nicht zu beweisen. Hier mangelt es sogar an elementarer national-demokratischer Reinlichkeit. Der Österreich-ungarische Generalstab erläuterte diese „Menschheit“ in seinem Kommuniqué vom 18. September, dass „alle Völker unserer ehrwürdigen Monarchie, wie unser Soldateneid sagt: ‚gegen jeden Feind, wer immer er sei‘, in Tapferkeit wetteifernd einmütig zusammenzustehen haben“.
Die Wiener Arbeiter-Zeitung eignet sich ganz diese habsburgisch-hohenzollernsche Auffassung des Österreich-Ungarischen Problems an, als eines unnationalen militärischen Reservoirs – ähnlich wie das militärische Frankreich die Senegalesen und Marokkaner, und England die Inder betrachtet. Und wenn man beachtet, dass diese Ansichten keine neue Erscheinung in der deutschen Sozialdemokratie Österreichs sind, so wird uns der Hauptgrund dessen klar, warum sich die österreichische Sozialdemokratie so traurig in nationale Gruppen zerschlug und dadurch ihre politische Bedeutung auf ein Minimum herabsetzte. Zersetzung der österreichischen Sozialdemokratie in sich bekämpfende nationale Teile bildete eine der Äußerungen der objektiven Unzulänglichkeit Österreichs als staatlicher Organisation. Gleichzeitig beweist die Haltung der deutsch-österreichischen Sozialdemokratie, dass sie selbst ein trauriges Opfer dieser Unzulänglichkeit geworden ist, vor der sie ideell kapitulierte. Als sie sich ohnmächtig erwies, das vielstämmige Proletariat Österreichs durch die Prinzipien des Internationalismus zu verbinden und endgültig dieser Aufgabe entsagte, da hat die deutsch-österreichische Sozialdemokratie nicht jene „Idee“ liquidiert, welche Renner, der sozialistische Advokat der Donaumonarchie, als die unerschütterliche Idee Österreich-Ungarns hinzustellen versuchte, sondern dieses Österreich-Ungarn und damit auch seine eigene Politik der „Idee“ des preußisch-junkerlichen Nationalismus untergeordnet. Dieses völlige prinzipielle Versagen spricht zu uns in unerhörter Sprache aus den Seiten der Wiener Arbeiter-Zeitung. Wenn man aber der Musik dieses hysterischen Nationalismus aufmerksamer lauscht, so kann man die ernstere Stimme nicht überhören, die Stimme der Geschichte, welche uns sagt, dass der Weg zum politischen Fortschritt für Mittel- und Südost-Europa über den Zerfall der Österreich-ungarischen Monarchie geht!
Zuletzt aktualiziert am 13.3.2001