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Leo Trotzki

Auf dem Weg zur zweiten Duma


Nach Schriften zur revolutionären Organisation, Reinbek bei Hamburg 1970, S. 149–180.


IV

Müssen wir bei den Wahlen die bürgerliche Demokratie unterstützen? Und falls ja, warum und unter welchen Bedingungen?

Wir vernahmen unlängst die gewichtige Antwort des Genossen Plechanow auf die erste Frage, eine Antwort, die sich folgendermaßen zusammenfassen lässt: Wir müssen die liberale Opposition unterstützen, um die Reaktion zu isolieren. Diese Antwort ist zwar völlig richtig, zielt jedoch bedauerlicherweise auf ein anderes, viel allgemeineres Problem und entspricht nicht der Frage, die jetzt vor uns steht. Wir müssen die liberale Opposition unterstützen; aber folgt daraus etwa unmittelbar, dass wir ihre Parlamentskandidatur unterstützen müssen? Bevor man dies bejaht, ist zu klären, in welchem Verhältnis die gegenwärtige parlamentarische Kampagne zur Entwicklung der liberalen Opposition steht. Wir müssen die Reaktion isolieren; jedoch – lässt sich diese Aufgabe etwa auf die Sorge dafür beschränken, dass die Reaktion keine Sitze im Saal des Taurischen Palais erhalte? Und müssen wir nicht vor allem prüfen, welchen Stellenwert die Unterstützung der liberalen Opposition in unserer allgemeinen Arbeit besitzt, welche die Reaktion tatsächlich isoliert, indem sie sie aus dem Bewusstsein der Volksmassen verdrängt?

Unsere Methode der „Unterstützung“ bzw. der „Isolierung“ ist ganz und gar nicht identisch mit den Methoden, die von den liberalen Professoren des Kongresses von Helsingfors ausgeklügelt werden. Das Gesamtinteresse der liberalen Opposition als solcher erkennen wir keineswegs in der gleichen Art wie ihre augenblicklichen Führer, und ich denke, dass die Entwicklung der bürgerlichen Demokratie allein während der letzten beiden Jahre deutlich genug gezeigt hat, auf welcher Seite das tiefere Verständnis für diese Interessen vorhanden ist. Ich will damit nicht etwa sagen, dass wir nicht in bestimmten Fällen die Kandidaten der bürgerlichen Demokratie mit unseren Stimmen unterstützen müssten; ich denke nur, dass die Gründe, die uns dazu veranlassen, wesentlich realer sind und weit mehr dem Charakter der historischen Sache entsprechen, die wir durchführen.

Jede neue revolutionäre Situation fordert von uns, dass wir sie ausnützen – erstens für die selbständige Organisation des Proletariats und zweitens für die Hereinnahme breiter demokratischer Massen in die unmittelbare revolutionäre Auseinandersetzung.

Jeder unserer Schritte, der uns diesem zweiten Ziele näher bringt, stellt genau die Unterstützung dar, die wir der bürgerlichen Demokratie als politisch-sozialer Kraft erweisen; jeder solche Schritt macht es uns aber möglich, zu diesen oder jenen oppositionellen Organisationen in unterschiedlichste Beziehungen zu treten, Organisationen, die das augenblickliche Entwicklungsniveau der demokratischen Massen widerspiegeln. Das können die Kadetten – eine dieser momentan existierenden Organisationen – nicht verstehen, wir jedoch dürfen es niemals vergessen.

Eine kraftlose Duma, die dem bewaffneten Absolutismus gegenübersteht, schafft eine revolutionäre Situation, d. h. einen Widerspruch, der auf „konstitutionellem“ Wege nicht mehr aufhebbar ist. Und wenn ich zu der Schlussfolgerung gelange, dass man in die Duma einen Kadetten schicken muss, so vor allem deshalb, um ihn zu kompromittieren. Wenn ich die sozialdemokratischen Wähler oder Wahlmänner aufrufe, für einen Kadetten zu stimmen, so keineswegs deshalb, weil ich dächte, einen Zettel mit dem Namen des Herren Petrunkewitsch in einem Holzkasten zu versenken, hieße direkt und unmittelbar die Demokratie unterstützen. O nein! Im angeführten Fall unterstütze ich die Demokratie dadurch, dass ich ihre morgigen Führer in eine revolutionäre Situation stelle und sie damit kompromittiere. Die rückständige bürgerliche Demokratie, die mich durch ihr Übergewicht gezwungen hat, für den Kadetten zu stimmen, stoße ich durch diese „Unterstützung“ vorwärts; den Kadetten jedoch unterstütze ich, wie der Strick den Gehenkten unterstützt.

Man kann mir sagen, das möge so sein, und im Grunde laufe es auch darauf hinaus. Meine Überlegungen hätten jedoch keinerlei selbständige Kraft; ein Faktum bleibe ein Faktum. Ich stimmte für die Kadetten, folglich unterstützte ich die Kadetten.

Natürlich bleibt ein Faktum immer ein Faktum, würde ich antworten. Aber was ist im gegebenen Fall das entscheidende Faktum? Der in die Holzurne gesteckte Stimmzettel oder die revolutionär-sozialistische Agitation, die wir während der Wahlen entwickeln und in der wir ein und denselben Ton durchhalten, ob wir nun selbst gegen einen kadettischen Kandidaten antreten oder ob wir einen Kadetten gegen einen Oktobristen unterstützen?

Die Frage, die in unserer Partei noch heftiger diskutiert wird – nämlich auf welcher Stufe unseres babylonischen Wahlturms es gestattet sei, nichtproletarische Kandidaten zu unterstützen – hat ohne Zweifel ernsthaftes Gewicht; nichtsdestoweniger wage ich zu behaupten, dass es sich dabei um ein Problem ganz und gar zweitrangiger Bedeutung handelt. Den ersten Rang nimmt die Frage nach der politischen Idee ein, die unsere Agitation strukturiert und unseren Aktionen einheitlichen Sinn verleiht, ob wir nun die Bevölkerung aufrufen, für den Genossen Plechanow zu stimmen, ob wir die Wähler auffordern, den kadettischen Wahlmännern ihre Stimmen zu geben, oder ob wir unseren Wahlmännern empfehlen, dem Herrn Miljukow zu helfen, die Schwelle zur Reichsduma zu überschreiten.

Manche Genossen messen meiner Meinung nach der Frage, auf welcher Stufe des Wahlablaufs es Wahlübereinkommen geben wird, eine unverhältnismäßig große Bedeutung zu: in dem einen Fall, sagen sie, würden wir die Massen aufrufen, für die Kadetten zu stimmen, im anderen – eine Gruppe von Wahlmännern. Dieser Unterschied ist ohne Zweifel sehr wesentlich; aber schließlich denkt doch niemand von uns daran, dass die Wahlmänner ohne Einverständnis der Masse die Kadetten unterstützen sollen. Im Gegenteil, Sinn und Zweck unserer Teilnahme an den Wahlen verlangen geradezu, dass jeder Schritt unserer Bevollmächtigten oder Wahlmänner den Massen bekannt und von ihnen verstanden worden ist. Bekannt wird er auch ohne uns, dass er jedoch verstanden wird, das können nur wir selbst erreichen. Und wir werden das allerdings erreichen müssen, wenn wir nicht wollen, dass die Massen zu dem Schluss kommen, die sozialdemokratischen Wahlmänner hätten sie betrogen und sich an die Kadetten verkauft. Sind wir aber der Überzeugung, es sei, wenn wir eine unversöhnliche Agitation gegen die Kadetten führen und die Massen aufrufen, immer und überall für die sozialdemokratischen Wahlmänner zu stimmen, gleichzeitig durchaus möglich, diesen gleichen Massen verständlich zu machen, weshalb unsere Wahlmänner in bestimmten Fällen für die Kadetten stimmen – könnten wir dann nicht in anderen Fällen unter Beibehaltung eben dieser agitatorischen Position die Wähler aufrufen, unmittelbar für Kadetten zu stimmen? Ich denke, dass hier kein prinzipieller Unterschied besteht; beide Methoden setzen genau das gleiche politische Niveau beim Wähler voraus. In Europa kommen Wahlübereinkommen gewöhnlich beim zweiten Wahlgang zustande; diese Reihenfolge bringt viele Vorteile, über die ich mich hier nicht weiter auslassen werde. Ich mache die Genossen jedoch darauf aufmerksam, dass sich die Wahlen zum zweiten Wahlgang keineswegs so wie die Wahlen in der zweiten Phase abseits von der Masse oder hoch über der Masse abspielen; an den Wahlen zum zweiten Wahlgang nimmt der gleiche Massenwähler teil wie bei den allgemeinen Wahlen – und dieser einfache Menschentypus hat viele Hindernisse zu überwinden: Sieben Tage zuvor gab er auf Grund intensivster Agitation durch die Partei seine Stimme dem Sozialdemokraten gegen den Liberalen; heute, eine Woche später, soll er auf Appell desselben Sozialdemokraten seine Stimme dem Liberalen geben. Und wenn sein Kopf mit diesem Widerspruch bis zum Zeitpunkt des zweiten Wahlgangs fertig wird, so verstehe ich nicht, weshalb er gegenüber der gleichen Kombination bei den allgemeinen Wahlen in Verwirrung geraten sollte. Man kann Mutmaßungen mit mehr oder minder hohem Wahrscheinlichkeitsgrad darüber anstellen, ob und in welchem Umfang Übereinkommen mit den Kadetten in der ersten Phase der Wahlen notwendig sein werden; die Möglichkeit solcher Übereinkommen selbst prinzipiell verneinen, das kann man jedoch nicht. Überhaupt wäre der Gedanke seltsam, dass in dieser speziellen Sphäre, in der Fragen der Wahltechnik eine entscheidende Rolle spielen, irgendwelche absoluten, indiskutablen Prinzipien existieren sollten; die in allen Fällen unser Verhalten zu bestimmen hätten. Könnte eine zwar sehr ernstzunehmende, aber doch rein technische Schwierigkeit wie etwa das Nichtvorhandensein zweiter Wahlgänge für uns das politische Ziel aufheben, das wir mit Übereinkommen zu erreichen trachten? Natürlich nicht.

Ich wiederhole: Entscheidende Bedeutung für unsere politische Selbständigkeit hat weniger das taktische Wahlverhalten für sich als vielmehr die diesbezügliche Methode, die all unserer Agitation ihre Schärfe gibt.

Lassen wir uns von einer Abstraktion leiten – wie etwa von der These, dass wir durch Unterstützung der Kadetten die „Reaktion isolieren“ würden –, dann müssten uns Übereinkommen mit den Kadetten in mehr oder minder starkem Maße in Verteidiger der Kadettenpartei gegenüber der Bevölkerung verwandeln. An erster Stelle müsste dann für uns die Überlegung stehen, dass neben uns Sozialdemokraten noch andere Möglichkeiten bestünden, dass außer uns noch andere Parteien existierten, die für die Freiheit kämpfen, dass die Kadetten eine progressive Partei seien, dass sie sich für „Land und Freiheit“ einsetzen usw. usf.

Wenn wir jedoch auf dem Standpunkt stehen, zur Isolierung und Zermalmung der Reaktion sei es unter anderem notwendig, im Bewusstsein der Bevölkerung politische Vorurteile zu zerstören, welche die Kadetten zu festigen bemüht sind, und dieses Ziel werde am besten dadurch erreicht, dass wir den Kadetten zu der Lage verhelfen, um die sie sich so bemühen und welche Qualitäten erfordert, die sie derzeit nicht einmal in ihren Träumen besitzen, dann bleiben wir ihre erbarmungslosen politischen Entlarver – sowohl auf der Ebene, auf der wir unmittelbar mit ihnen konkurrieren, als auch da, wo wir für sie stimmen werden.

Freilich sind die Kadetten eine progressive Partei, sicherlich ist Herr Petrunkewitsch unvergleichlich „besser" als Herr Purischkewitsch oder auch Herr Gutschkow, und natürlich setzen die Kadetten sich für „Land und Freiheit“ ein. Wir Sozialdemokraten jedoch müssen den Kadetten die Möglichkeit geben, selbst all diese „unbestreitbaren Wahrheiten“ zu beweisen: Sie sind daran hinreichend interessiert, und sie haben dazu einen gewaltigen Apparat an legalen Zeitungen und eine entsprechende Menge von Rednern, die über einen ganzen Katalog von Würden und Verdiensten der kadettischen Partei verfügen. In diese liberale Agitation müssen wir unser sozialdemokratisches Korrektiv einbringen: Sicherlich, so werden wir sagen, ist der Herr Petrunkewitsch besser als der Herr Purischkewitsch („das kleinere Übel“); der Kern des Problems ist jedoch, dass die Taktik des Herrn Petrunkewitsch nicht geeignet ist, euch, Bürger, vor der Regierungsdiktatur des Herrn Purischkewitsch zu bewahren. Natürlich treten die Kadetten für „Land und Freiheit“ ein, ihre politische Hegemonie jedoch wird dem Volk weder das eine noch das andere bringen. Ihr allerdings, Bürger Wähler und Bürger Wahlmänner, teilt diese unsere Ansicht in eurer Mehrzahl nicht. Ihr fordert, dass wir euch mit unseren Stimmen helfen, die Schwarzhundertleute zu erdrücken und den Herrn Petrunkewitsch in die Duma zu entsenden. Wir werden das auch tun, denn wenn der Herr Purischkewitsch in die Duma gelangt, wird er euch euren Glauben an Herrn Petrunkewitsch unversehrt bewahren helfen [C], und in eurem Bewusstsein wird alle Verantwortung auf uns fallen. Das wollen wir nicht: Wir kommen euch entgegen; wir stimmen für euren Kandidaten, um euch zu zeigen, dass ihr auf der falschen Bahn seid.

So werden wir auf den Wahlversammlungen sprechen. Und wenn unsere Motive für die Bürger, die ohnehin für die Kadetten zu stimmen willens sind, vorläufig noch bedeutungslos sein mögen, so werden sie für die sozialdemokratisch gestimmten wenn wir sie veranlassen, für einen Abgeordneten zu stimmen, über den sie politisch bereits hinausgewachsen sind, absolut nicht bedeutungslos sein.

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Anmerkung

C. Nach Vollendung dieser Zeilen erinnerten wir uns, dass Herr Petrunkewitsch auf Grund der Dumagesetze (und besonders infolge von Herrn Kamyschanski) nicht in die zweite Duma gewählt werden kann: Wir haben natürlich nicht den individuellen, sondern den Gesamt-Petrunkewitsch im Auge.


Zuletzt aktualiziert am 13. November 2024