Leo Trotzki

Unsere politischen Aufgaben

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Jakobinismus und Sozialdemokratie


Wostotschnoje Obosrenie, Nr. 285, 23. Dezember 1900/5. Januar 1901.


Nicht Jakobiner und Sozialdemokrat, sondern Jakobiner oder Sozialdemokrat

„Der Jakobiner, der untrennbar verbunden ist mit der Organisation des Proletariats, das sich seiner Klasseninteressen bewusst geworden ist, – das ist eben der revolutionäre Sozialdemokrat.“ [A]

Diese Formel muss alle politischen und theoretischen Eroberungen sanktionieren, die von dem Leninschen Flügel unserer Partei gemacht wurden; in dieser unbedeutenden Formel verbirgt sich die theoretische Wurzel der Meinungsverschiedenheiten über den unglücklichen ersten Paragraphen des Status ebenso wie über alle taktischen Fragen. Notwendigerweise muss man bei ihr verweilen.

Wenn Lenin in der soeben angeführten Formel voll bewusst und ernsthaft, nicht um der bloßen Wendung willen, von der „Organisation des Proletariats“ spricht, „das sich seiner Klasseninteressen bewusst geworden ist“, so enthält seine Erklärung keine Häresie, weil sie sich nämlich in einen simplen Pleonasmus verwandelt. Freilich ist derjenige, der sich mit dem seiner Klasseninteressen bewusst gewordenen Proletariat verbunden hat, ein Sozialdemokrat. Aber dann kann in der Definition Lenins anstelle des Wortes Jakobiner auch Liberaler, Narodnik, Tolstojaner oder Mennonit stehen – alles, was gerade gefällig ist. Denn genau in dem Augenblick, in dem der Jakobiner, der Tolstojaner, der Mennonit sich mit der „Organisation des Proletariats“ verbinden, „das sich seiner Klasseninteressen bewusst geworden ist“, hören sie auf, Jakobiner, Tolstojaner und Mennonit zu sein, und werden vielmehr revolutionäre Sozialdemokraten.

Wenn Lenin mit seiner Definition nicht mehr als den gehaltvollen Gedanken ausdrücken will, dass der Sozialdemokrat ein Sozialdemokrat sei, dann muss man ihn in dem Sinne begreifen, dass der Jakobiner, ohne aufzuhören, in der Methodik seines politischen Denkens allgemein und in den organisatorischen Ansichten im Besonderen er selbst zu sein, revolutionärer Sozialdemokrat wird, sobald er sich mit dem revolutionären Proletariat „verbindet“ oder, präziser vielleicht, sobald die Geschichte ihn dem revolutionären Proletariat aufbürdet. Das ist sehr wichtig – weniger für unsere Partei als vielmehr für die weitere Entwicklung Lenins selbst und seiner Anhänger – dass er, indem er theoretisch seine Definition des Sozialdemokraten entwickelte, auf diese Frage eine Antwort gab.

Man nimmt im Kampf zwischen revolutionärem und opportunistischem Flügel des internationalen Sozialismus häufig Zuflucht zur Analogie mit Berg und Gironde. Diese Analogie freilich stellt hier nicht nur nicht die Identität, sondern nicht einmal irgendeine innere Ähnlichkeit zwischen Jakobinismus und revolutionärem Sozialismus her.

Wer nicht in Worten und äußerlichen Analogien denkt, sondern in lebendigen Vorstellungen, begreift natürlich, dass die Sozialdemokratie vom Jakobinismus wenigstens ebenso weit entfernt ist wie vom Reformismus; Robespierre ist von Bebel mindestens ebenso weit entfernt wie auch Jaurès.

In welchem Sinne können wir Jakobiner sein? In der Gesinnung? Der Doktrin? Der Methodik des politischen Kampfes? Der Methodik der innerparteilichen Politik? Der Art der feierlichen Deklamation?

Der Jakobinismus ist keine über der Gesellschaft stehende „revolutionäre“ Kategorie, nein, er ist ein historisches Produkt. Der Jakobinismus ist der Gipfel der Anspannung revolutionärer Energie in der angespannten historischen Epoche der Selbstbefreiung der bürgerlichen Gesellschaft; er war das Maximum an Radikalismus, das die bürgerliche Gesellschaft erbringen kann – nicht auf dem Weg der Entwicklung ihrer inneren Widersprüche, sondern auf dem Weg ihrer Verdrängung und Unterdrückung – in der Theorie mittels Appellation an die Rechte des abstrakten Menschen und des abstrakten Staatsbürgers, in der Praxis mittels der Guillotine. Die Geschichte musste stehenbleiben, damit der Jakobinismus an der Macht bleiben konnte; denn jede Bewegung nach vorn musste die verschieden gearteten Elemente, die die Jakobiner aktiv oder passiv unterstützt hatten, einander entgegenstellen und auf diese Weise, auf dem Weg innerer Reibungen, den revolutionären Willen abschwächen, an dessen Spitze sich die Bergpartei befand. Die Jakobiner hatten nicht und konnten nicht den Glauben daran haben, dass ihre „Wahrheit“ (la vérité) sich Tag für Tag die Herzen immer mehr und mehr unterwerfen würde; die Fakten sprechen für das Gegenteil: aus allen Ritzen, von überall her, krochen Intriganten, Heuchler, „Aristokraten“ und „Moderantisten“ (Gemäßigte). Gestern waren sie noch treue Patrioten und wahre Jakobiner – heute entdeckte man schwankende Haltung. Jede Verringerung nicht nur des prinzipiellen, sondern schon des persönlichen Abstands zwischen Jakobiner und der ganzen übrigen Welt bedeutete die Befreiung zentrifugaler Kräfte zu ihrer Desorganisationsarbeit. Mittels des „Belagerungszustands“ den Augenblick des höchsten revolutionären Aufbruchs verewigen und mittels des Stahls der Guillotine die Scheidelinie bestimmen – diese politische Taktik diktierte der Instinkt der politischen Selbsterhaltung.

Die Jakobiner waren Utopisten; sie stellten sich die Aufgabe: „fonder une République sur les bases de la raison et de l’égalité“ („Eine Republik zu gründen auf der Basis von Vernunft und Gleichheit“). Sie wollten Republiken der Gleichheit – auf der Basis des Privateigentums, Republiken der Vernunft und der Tugend – im Rahmen der klassenmäßigen Ausbeutung. Die Methoden ihres Kampfes entsprangen ihrem revolutionären Utopismus. Sie standen auf der Schneide eines gewaltigen Widerspruchs, und sie riefen sich die Schneide der Guillotine zu Hilfe.

Die Jakobiner waren reinste Idealisten. Wie alle Idealisten vor und nach ihnen erkannten sie „als erste“ „les principes de la morale universelle“, die Prinzipien der universellen Moral; sie glaubten an die absolute Kraft der Idee der „Vérité“, der Wahrheit. Und sie glaubten, dass einige Menschenhekatomben zur Errichtung eines Piedestals für diese „Wahrheit“ kein zu teurer Preis seien. Alles, was von den von ihnen verkündigten Prinzipien der universellen Moral abwich, war Ausgeburt des Lasters und der Heuchelei. „Je ne connais que deux partis“, sagt Maximilien Robespierre in einer seiner letzten großen Reden, der berühmten Rede vom 8. Thermidor, „ce-lui des bons et celui des mauvais citoyens“. [B] Dem absoluten Glauben an die metaphysische Idee entsprach das absolute Misstrauen gegenüber den lebendigen Menschen; Misstrauen war unvermeidlich die Methode des Dienstes an der „Wahrheit“ und die höchste staatsbürgerliche Verpflichtung des „echten Patriotem. Es bestand kein Verständnis des Klassenkampfes als eines sozialen Mechanismus, der den Zusammenstoß der Meinungen und Ideen beherrscht, und deshalb existierten keine historischen Perspektiven, keine Gewissheit, dass manche Gegensätze im Bereich der „Meinungen und Ideen“ sich unvermeidlich vertiefen würden, im Gegensatz zu anderen, die sich mehr und mehr einebnen mussten entsprechend der Entwicklung des Kampfes der durch die Revolution befreiten sozialen Kräfte.

Die Geschichte hätte stehenbleiben müssen, damit der Jakobinismus seine Stellung länger hätte halten können. Aber sie blieb nicht stehen; es blieb also nur übrig, grausam gegen die Naturkräfte zu kämpfen – bis zur völligen Zermürbung. Jeder Stillstand, die kleinste Konzession bedeuteten den Tod.

In welch auswegloser historischer Tragik bewegt sich die Rede Robespierres, die er am 8. Thermidor im Konvent hielt und am selben Abend im Klub der Jakobiner wiederholte:

„Auf dem Weg (carrière), auf dem wir uns befinden, vor dem Ende halt zu machen“, sagte der bereits am Abgrund stehende Diktator, „bedeutet den Untergang, und wir sind schändlich zurückgefallen. Sie haben die Bestrafung einiger Übeltäter, Urheber all unserer Unbilden, angeordnet; sie erdreisten sich, der nationalen Gerechtigkeit zu widerstehen – und man opfert ihnen die Geschicke des Vaterlandes und der Menschheit. Wir dürfen also alle Nöte erwarten, die straflos sich ausbreitende Komplotte nach sich ziehen. ... Lassen Sie die Zügel der Revolution für einen Augenblick aus den Händen, und Sie werden sehen, wie sie der kriegerische Despotismus ergreift und wie das Haupt der Komplotte die gedemütigte nationale Regierung stürzen wird. Ein Zeitalter der Bürgerkriege und des Elends wird unser Vaterland verheeren, und wir werden deshalb zugrunde gehen, weil man nicht den Moment ergreifen will, der in der Geschichte der Menschheit für die Begründung der Freiheit vermerkt ist. Wir weihen unser Vaterland einem Zeitalter der Not, und die Flüche des Volkes werden mit unserem Gedächtnis verbunden sein, das der menschlichen Natur kostbar sein sollte.“ [C]

Wie tief ist der Gegensatz zwischen diesem historischen Schicksalsweg (carrière) und dem Schicksalsweg der Sozialdemokratie, der Partei der optimistischsten Perspektiven; die Zukunft garantiert ihr das Anwachsen der Anhänger ihrer Wahrheit, weil nämlich diese Wahrheit keine plötzliche revolutionäre „Offenbarung“ ist, sondern lediglich die theoretische Äußerung des sich verbreiternden und sich vertiefenden Klassenkampfes des Proletariats. Der revolutionäre Sozialdemokrat ist nicht nur des unvermeidlichen Wachstums der politischen Partei des Proletariats sicher, sondern auch des unvermeidlichen Sieges der Idee des revolutionären Sozialismus innerhalb dieser Partei. Die erste Sicherheit beruht darauf, dass die Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft das Proletariat spontan zur eigenen politischen Organisierung treibt, die zweite darauf, dass die objektiven Tendenzen und die taktischen Aufgaben dieser Organisierung am besten, vollständigsten, tiefsten sich im revolutionären, d. h. marxistischen Sozialismus offenbaren.

Wir können die formalen Grenzen der Partei enger oder weiter, „weicher“ oder „härter“ bestimmen – das hängt von einer ganzen Reihe objektiver Ursachen ab, vom politischen Takt und von Überlegungen politischer Zweckmäßigkeit. Unsere Partei jedoch wird unbezweifelbar, mit welchem Radius wir unser Grenzgebiet auch abstecken, immer eine Reihe konzentrischer Gürtel des Proletariats darstellen, die vom Zentrum in Richtung Peripherie an Zahl zu- und an Bewusstheit abnehmen. Die bewusstesten, d. h. die revolutionärsten Elemente werden in unserer Partei „immer in der Minderheit“ sein. Und wenn wir uns mit diesem Zustand „versöhnen“ – und wir versöhnen uns mit ihm –, so kann das nur durch unser Vertrauen auf das sozialrevolutionäre „Schicksal“ der Arbeiterklasse erklärt werden, anders gesagt, durch das Vertrauen auf die unvermeidliche „Erwerbung“ revolutionärer Ideen als der am meisten „geeigneten“ für die historische Bewegung des Proletariats. Wir vertrauen darauf, dass die durch den Marxismus erleuchtete Klassenpraxis die Bewusstheit der weniger bewussten Elemente erhöhen und die Elemente in seinen Lichtkreis hineinziehen wird, die gestern noch völlig unbewusst waren. Darin liegt der tiefe Unterschied zwischen uns und den Jakobinern. Wir stehen den sozialen Urkräften – und das heißt auch der Zukunft – mit revolutionärem Vertrauen gegenüber. Die Jakobiner waren folgerichtig von finsterem Misstrauen erfüllt. Dieselbe Urkraft, die zu ihrer Differenzierung und Zersetzung führte, erzeugte auch die Tendenzen zur Vereinheitlichung des Proletariats und zu seiner politischen Vereinigung.

Zwei Welten, zwei Doktrinen, zwei Taktiken, zwei Mentalitäten – durch eine tiefe Kluft getrennt.

In welchem Sinne sind wir Jakobiner? Sie waren Utopisten, wir wollen die Repräsentanten objektiver Tendenzen sein; sie waren von Kopf bis Fuß Idealisten, wir sind von Kopf bis Fuß Materialisten. Sie waren Rationalisten, wir sind Dialektiker. Sie glaubten an die heilsame Kraft einer über den Klassen stehenden Wahrheit, vor der alle sich zu beugen verpflichtet seien; wir glauben allein an die Klassenkraft des revolutionären Proletariats. Ihr in sich widersprüchlicher theoretischer Idealismus veranlasste sie zu politischem Misstrauen und schonungslosem Argwohn; unser theoretischer Materialismus versieht uns mit unverletzbarem Vertrauen auf den historischen „Willen“ des Proletariats. Ihre Methode war die Guillotinierung geringster Abweichungen, unsere Methode ist die geistig-politische Aufhebung von Meinungsverschiedenheiten. Sie hieben Köpfe ab, wir erfüllen sie mit Klassenbewusstsein.
 

In welchem Sinne sind wir Jakobiner?

Es ist wahr, sie waren unversöhnlich, und unversöhnlich sind auch wir; die Jakobiner kannten eine schreckliche politische Anschuldigung, die sich in dem Wort Moderantist ausdrückte. Wir kennen die Beschuldigung des Opportunismus; unsere „Unversöhnlichkeit“ jedoch ist von qualitativ anderer Art. Wir schieben zwischen uns und den Opportunismus den Keil des theoretischen Apparats der proletarischen Klassenideologie, und jeder prinzipielle Schlag des Klassenkampfes treibt diesen Keil tiefer und tiefer ein. Wir „reinigen uns“ auf diese Weise vom Opportunismus, und die Opportunisten gehen entweder von uns in das politische Lager der anderen Klasse über oder sie ordnen sich der revolutionären, durchaus nicht opportunistischen Logik der Klassenbewegung des Proletariats unter. Jede solche „Reinigung“ stärkt uns und vergrößert häufig unmittelbar unsere Reihen.

Die Jakobiner stellten zwischen sich und den Moderantismus den Stahl der Guillotine. Die Logik der Klassenbewegung war gegen sie, und sie versuchten, sie zu enthaupten. Torheit – die Zahl der Köpfe der Hydra nahm beständig zu, die Köpfe jedoch, die den Ideen der Tugend und der Wahrheit hingegeben waren, lichteten sich von Tag zu Tag; die Jakobiner „reinigten sich“, indem sie sich schwächten. Die Guillotine war nur das mechanische Instrument des politischen Selbstmords, der Selbstmord selbst jedoch war die verhängnisvolle Konsequenz ihrer hoffnungslosen historischen Position, der Position der Verkünder der Gleichheit auf der Basis des Privateigentums, der Propheten der universellen Moral im Rahmen der klassenmäßigen Ausbeutung.

„Große Krisen sind unumgänglich“, sagte irgendein unbekannter Jakobiner im Oktober 1792, „um den vom Brand befallenen Organismus zu reinigen; man muss die Glieder abtrennen, um den Körper zu retten. Sobald wir schlechte Führer haben, können wir abgelenkt werden. Wenn wir jedoch einmal wissen werden, wer die wahren Jakobiner sind, werden sie unsere Führer werden, wir werden uns mit Danton und Robespierre vereinigen und den Staat retten.“ [D]

Aber im Verlauf von anderthalb Jahren, während derer Danton und viele andere „wahre Jakobinen als vom Brand befallene Glieder guillotiniert wurden, sprach ein anderer Jakobiner im selben Klub wieder und erneut mit nahezu denselben Worten von der „Reinigung“:

„Wenn wir uns reinigen, dann deshalb, um das Recht zu haben, Frankreich zu reinigen; wir lassen keinen Fremdkörper in der Republik: Die Feinde der Freiheit müssen zittern, denn die Keule ist erhoben, und der Konvent wird sie herab sausen lassen. Unsere Feinde sind nicht so zahlreich, wie man uns glauben machen will; rasch wird man sie bekannt machen, und sie werden auf der Bühne der Guillotine erscheinen (sur le théâtre de la guillotine). Man sagt, dass wir den Konvent vernichten wollten: nein, er wird unantastbar bleiben; aber wir wollen von diesem großen Baum die toten Zweige abschneiden. Die erhabenen Maßnahmen, die wir durchführen, sind den Windstößen ähnlich, die wurmstichige Früchte abwerfen und die guten am Baum lassen; diejenigen, die bleiben, werden wir danach abpflücken können, und sie werden reif und voller Süße (saveur) sein, sie werden Leben in die Republik hinein tragen. Was nützt es, wenn die Zweige zahlreich, aber von Wurmstichigkeit zerfressen sind? Es ist viel besser, dass eine geringere Zahl bleibt, wenn sie nur frisch und gesund sind.“ [E]

Zwei Welten, zwei Doktrinen, zwei Taktiken, zwei Mentalitäten – getrennt durch eine Kluft.

Unbezweifelbar würde die internationale Bewegung des Proletariats vor einem revolutionären Tribunal in ihrer Gesamtheit des Moderantismus angeklagt – und das Löwenhaupt Marx' fiele als erstes unter dem Streich der Guillotine. Und es ist auf der anderen Seite ebenfalls unbezweifelbar, dass jeder Versuch, die Methoden des Jakobinismus in die Klassenbewegung des Proletariats einzuführen, reinster Opportunismus war, ist und sein wird, nämlich die Opferung der historischen Interessen des Proletariats für die Fiktion temporären Gedeihens. Das würde bedeuten, mit kleinen Mittelchen erhabene historische Zusammenstöße zu simulieren. Angesichts des Klassenkampfes, der aus seiner Entwicklung und nur aus ihr seine Kraft schöpft, ist die Guillotine ebenso nichtig wie die Konsumgenossenschaft und der Jakobinismus so opportunistisch wie das Bernsteinianertum.

Wenn Sie natürlich versuchen würden, die Methoden jakobinischen Denkens und jakobinischer Taktik auf die Sphäre der Klassenbewegung des Proletariats zu übertragen, würden Sie nur eine lächerliche Karikatur des Jakobinismus erhalten – aber keine Sozialdemokratie, weil die Sozialdemokratie kein Jakobinismus und freilich auch keine Karikatur des Jakobinismus ist.

Der Jakobiner, „der verbunden ist mit der Organisation des Proletariats, das sich seiner Klasseninteressen bewusst geworden ist“, wird sich, so muss man hoffen, letzten Endes von ihr lösen. Aber soweit er seine formale Verbindung mit dieser Organisation bewahren wird und soweit er zugleich seine jakobinische Mentalität des Misstrauens und Argwohns gegen die unorganisierten proletarischen Grundkräfte und gegen den morgigen Tag beibehalten wird, wird er völlig außerstande sein, die Partei, der er zugewiesen ist, in ihrer Entwicklung abzuschätzen. „Je ne connais que deux partis – celui des bons et celui des mauvais citoyens.“ Die guten Staatsbürger sind diejenigen, deren politisches Bewusstsein, entwickelt oder nicht entwickelt, ganz gleichgültig, sich heute mit günstiger Seite zu meinem „Plan“ dreht; diese sehr spezielle und zufällige Konjunktur gilt es zu befestigen. Die schlechten Staatsbürger sind diejenigen, deren politisches Bewusstsein sich heute von den oder jenen Details meines Plans abwendet. Muss man sie erziehen? Nein – unterdrücken, schwächen, vernichten, beseitigen. Die Partei wird aufgefasst nicht in der Dynamik, sondern in der Statik. Als Maßstab für die Bewertung der verschiedenen Elemente der Partei dient nicht die Frage ihrer Rolle in der politischen Bewegung der Arbeiterklasse, sondern ihr aktuelles Verhältnis zu dem oder jenem „Plan“. Deshalb erhält man das erstaunliche Resultat, dass im zurückgebliebenem Flügel unserer Partei nach Lenin die „Gruppe zur Befreiung der Arbeit, die Redaktion der Iskra, die Auslandsliga, das Organisationskomitee figurieren, während der „fortschrittliche“ Flügel aus einer noch undifferenzierten Masse sozialdemokratischer Rekruten besteht, die, wie man hoffen muss, in der Zukunft aus ihrer Mitte möglichst gute Sozialdemokraten hervorbringen werden, deren größter Teil jedoch freilich von unserer Partei auf ihrem langen und mühseligen Weg zerrieben werden wird.

„Je ne connais que deux partis, celui des bons et celui des mauvais citoyens.“ Dieser politische Aphorismus ist in das Herz von Maximilien Lenin geschrieben – und dieser Aphorismus resümiert, wie wir hinzufügen, in grober Form die taktische Weisheit der alten Iskra.

Misstrauen und Argwohn bildeten unbezweifelbar einen Charakterzug der Mitarbeiter der Iskra, da der Wirkungskreis, in dem sie arbeiteten, die Intelligenz war, die ihre anti-proletarische Natur in verschiedenen „Abweichungen“ offenbarte. Wenn die Arbeit der Sozialdemokratie im Ganzen darin besteht, den unorganisierten Grundkräften Form zu verleihen, indem sie das Proletariat zum politischen Zusammenschluss führt, dann bestand die Arbeit der alten Iskra im Kampf mit der unorganisierten Grundkraft, indem sie die Intelligenz von der politischen Auflösung im Proletariat zurückstieß. Die Aufgabe bestand nicht allein darin, das politische Bewusstsein der Intelligenz aufzuklären, sondern auch darin, sie theoretisch zu terrorisieren. Für jene Sozialdemokraten, die sich in dieser Periode formten, steht die „Orthodoxie“ jener absoluten vérité, die die Jakobiner beseelte, sehr nahe. Die orthodoxe Wahrheit sieht alles vorher, sogar die Fragen der Kooptation. Wer das bestreitet, muss ausgestoßen werden, wer das bezweifelt, ist nahe daran, ausgestoßen zu werden, wer fragt, ist bereit zu zweifeln.

Die Rede Lenins auf dem Kongress der Liga gibt in ihrer Art seinen jakobinischem Ansichten über die Entwicklung der Partei klassischen Ausdruck. Er, Lenin, weiß die absolute organisatorische „Wahrheit“, er hat den „Plan“ und strebt nach seiner Realisierung. Die Partei würde in einen Zustand der Blüte eintreten, wenn er, Lenin, nicht von allen Seiten mit Ränken, Intrigen, Fallen umgeben wäre, als ob alles sich gegen ihn und seinen „Plan“ verschworen hätte. Gegen ihn traten nicht nur alte Feinde auf, sondern auch „Iskristen, die die Iskra bekämpfen, ihr verschiedene Hindernisse in den Weg legen, ihre Tätigkeit hemmen.“ Und wenn sie noch offen und direkt kämpfen würden! „Aber nein, sie tun es im stillen, hinterrücks, unmerklich, geheim.“ ... „Der allgemeine Eindruck (nicht nur der gesamten Arbeit der Organisationskomitees, sondern auch des Kongresses selber)... war, dass wir gegen ein Netz von Intrigen kämpfen müssten.“

Und Lenin gelangte zu der energischen Schlussfolgerung: Um „die Arbeit erfolgreich zu gestalten, war es notwendig, die hemmenden Elemente zu entfernen und sie in eine Lage zu bringen, in der sie die Partei nicht schädigen können.“ [F] Mit anderen Worten, es erwies sich als unerlässlich für das Heil der Partei, ein Regime des „Belagerungszustands“ zu errichten, an dessen Spitze nach römischer Terminologie ein dictator seditionis sedandae et rei gerundae causa (ein Diktator für den Fall innerer Unruhen) stehen würde. Aber das Regime des Schreckens bewies schon zu Beginn seine völlige Kraftlosigkeit. Der Dictator seditionis sedandae vermochte weder die „Desorganisatoren“ seiner Autorität unterzuordnen noch sie von der Schwelle der Partei zu vertreiben oder sie mit der mörderischen Schlinge der Disziplin zu umfangen. Die „rückständigen Elemente“ fürchteten sich auch in keiner Weise, im Gegenteil, sie nahmen unbeirrt Position um Position ein. Und unserem entmutigten Robespierre blieb nur übrig, die pessimistischen Worte zu wiederholen, die von dem ausgesprochen worden waren, den er mit so unbewusster Gewissenhaftigkeit kopierte!

„Wozu leben in einer solchen Ordnung der Dinge, wo die Intrige beständig über die Wahrheit triumphiert, wo die Gerechtigkeit eine Lüge ist, wo die allerniedrigsten Leidenschaften und die lächerlichsten Ängste den Platz der heiligen Interessen der Menschheit in den Herzen einnehmen? ...“

Lenin und seine Anhänger werden die Ursachen ihres Misslingens so lange nicht erfassen, wie sie die Idee nicht begreifen, dass man nicht nur der Gesellschaft im Ganzen, sondern auch der einzelnen Partei die Wege ihrer Entwicklung nicht vorschreiben kann. Man kann sie lediglich aus den gegebenen historischen Bedingungen ableiten und mittels unermüdlicher kritischer Arbeit säubern. Die politischen Rationalisten – ihrer gibt es viele in unserer Partei, denen es noch nicht gelungen ist, wie wir oben sagten, taktische Weisheit anzusammeln und durch eine ganze Reihe von Enttäuschungen die Meinung der Führer zu disziplinieren – die Rationalisten und Metaphysiker denken, dass es hinreichend sei, die Entwicklung „stellvertretend“ für die gesamte Partei „zu reflektieren“ und sich mit der Geißel offizieller Macht zu versehen, um sie hierauf aus ihrer Mitte heraus anzutreiben, und sie werde laufen. Aber sobald alle Bedingungen für das Gedeihen vorhanden sind, zeigen sich unvermutet Hindernisse und Widerstände. Es beginnt die Periode der „Intrigen“ und der „Hinterhalte“, es finden sich Leute, die nicht verstehen und nach dem „Warum?“ fragen; es finden sich andere, die auf dem ihrer Meinung nach besten Weg beharren oder auf ihn hinweisen. Es finden sich Dritte, die das Unverständnis der Ersten und die Beharrlichkeit der Zweiten einkalkulieren und taktische Methoden suchen, mit denen der Partei die Arbeit der progressiven Bewegung erleichtert werden kann. Der politische Metaphysiker ist zur Unterscheidung zwischen diesen zwei Kategorien organisch unfähig; er analysiert nicht, unterteilt nicht, detailliert nicht, erläutert nicht, stellt sich nicht die Frage nach dem „Warum“ und dem „Wieso“, sondern sieht lediglich die eine reaktionäre Masse, die auf seinem Weg zur Führung der Partei steht, wie er sie sich vorstellt. Durch die rationalistische Logik seines Denkens wird unser „Jakobiner“ immer weiter von der historischen Logik der Entwicklung der Partei abgelenkt, was sich in seinem Bewusstsein widerspiegelt als das gefährliche Wachstum böswilliger Widersacher, Desorganisatoren, Abenteurer und Intriganten in der Partei; und letzten Endes muss der arme „Führer“ zu dem Gedanken gelangen, dass ihm – die Partei böswillig nachstellt. Die Gesamtheit der Individualitäten unterschiedlichen Entwicklungsniveaus, verschiedener weltanschaulicher Schattierungen, ungleichen Temperaments, in einem Wort der materielle Körper der Partei selbst erscheint zu guter Letzt als Hemmschuh für seine eigene Entwicklung, die rationalistisch vorher konstruiert wurde. Hier liegt das Geheimnis der Fehlschläge Lenins, und hier ist die Ursache seines kleinlichen Misstrauens.

Dieses böswillige und moralisch widerwärtige Misstrauen Lenins, eine flache Karikatur der tragischen Unduldsamkeit des Jakobinismus, repräsentiert, wie man zugeben muss, das Erbe der alten „iskristischen“ Taktik und stellt zugleich ihren Ausdruck dar. Diese Methoden und Verhaltensweisen jedoch, die unter den Bedingungen des historischen Augenblicks berechtigt waren, müssen heute, koste es, was es wolle, liquidiert werden, da sie sonst unsere Partei mit dem völligen Zerfall in politischer, moralischer und theoretischer Hinsicht bedrohen.

Kein Zufall, sondern sehr charakteristisch ist die Tatsache, dass der Führer des reaktionären Flügels unserer Partei, Genosse Lenin, in der Aufrechterhaltung der taktischen Methoden einer Karikatur des Jakobinismus psychologisch genötigt war, eine Definition der Sozialdemokratie zu geben, die nichts anderes darstellt als einen theoretischen Anschlag auf den Klassencharakter unserer Partei. Ja, einen theoretischen Anschlag, der keineswegs weniger gefährlich ist als die kritizistischen Ansichten irgendeines Bernstein.

In der Tat, welche theoretische Operation führte Bernstein an Liberalismus und Sozialismus aus? Er bemühte sich vornehmlich, ihre scharfen Klassengrenzen zu verwischen; er bemühte sich, sie in zwei über den Klassen stehende Systeme politischen Denkens zu verwandeln, die durch ein inneres logisches Band miteinander verknüpft seien. Dieselbe Operation an den Prinzipien von Demokratie und Sozialismus führten Jaurès und sein treuer Freund Millerand durch. Es ist unnütz, daran zu erinnern, dass dieser hoch fliegenden theoretischen Spekulation die durchaus praktische Spekulation auf einen Ministersessel entspricht oder, fasst man das Verhältnis weiter, dass dem Herauswachsen des Sozialismus als logischen Anhängsels aus den Prinzipien von Liberalismus und Demokratismus die Praxis der Umwandlung des Proletariats in ein politisches Anhängsel der bürgerlichen Demokratie entspricht.

Die gleiche Arbeit – bislang nur auf theoretischem Gebiet – wird bei uns von den exmarxistischen idealistischen „Kritikern“ durchgeführt. Der Unterschied ist lediglich der, dass sie den Sozialismus zur Lehre des Liberalismus durch das Fegefeuer der idealistischen Philosophie hindurch befördern. „Die Ideale... des sozialen Demokratismus oder Sozialismus“, sagt Herr Bulgakow, „entspringen unvermeidlich aus den Grundprinzipien des philosophischen Idealismus.“ [G] Aber in der Rolle der absoluten, d. h. nicht von der Klassenanalyse betroffenen Prinzipien des Idealismus figurieren die politischen Vermächtnisse und Gelöbnisse des Liberalismus; das erläutert Berdjajew: „Der Liberalismus stellt in seinem idealen Sinn die Ziele der Entwicklung der Persönlichkeit, der Realisierung des Naturrechts, der Freiheit und Gleichheit, der Sozialismus dagegen eröffnet nur neue Arten der folgerichtigen Durchsetzung dieser ewigen Prinzipien.“ [H] Und die „Oswoboschdenije“ endlich, in der man immer den politischen Schlüssel zu den philosophischen Hieroglyphen der bei uns aufblühenden idealistischen Metaphysik suchen muss, bekräftigt die theoretischen Eroberungen des Idealismus mit folgender energischer These: „Liberalismus und Sozialismus lassen sich in keiner Weise voneinander trennen oder gar einander entgegenstellen; in ihrem Grundideal sind sie identisch und untrennbar.“ [I]

Die politische Tendenz der bürgerlichen Demokratie, das Proletariat unter ihre Vormundschaft zu nehmen, erfordert, dass auch in ideologischem Bereich Liberalismus und Sozialismus nicht als Prinzipien zweier unvereinbarer Welten, des Kapitalismus und des Kollektivismus, der Bourgeoisie und des Proletariats erscheinen, sondern als zwei abstrakte Systeme, deren eines (der Liberalismus) das andere (den Sozialismus) mit einschließt wie das Ganze den Teil oder präziser, wie die algebraische Formel ihren einzelnen arithmetischen Wert. Von dieser Position aus verschwindet völlig das raue „Spiel“ der Muskeln des bürgerlichen Klassenkörpers, die klaren Umrisse der gesellschaftlichen Realitäten verschwinden im Reich ideologischer Schattenspiele. Und es besteht keinerlei Zweifel, dass sowohl Bernstein, Jaurès und Millerand wie auch morgen in einem freien Russland die Herren Berdjajew, Bulgakow und vielleicht auch Herr Struwe gerne damit einverstanden sein werden, sich mit der Formel zu definieren: „Der Sozialdemokrat, das ist der Liberale (oder der Demokrat), der sich verbunden hat mit der Organisation des Proletariats, das sich seiner Klasseninteressen bewusst geworden ist.“

Was wird der Genosse Lenin angesichts einer solchen Formel sagen? Er wird sagen, dass sie logisch sinnlos ist und politisch die unbezweifelbare Tendenz ausdrückt, dem Proletariat eine fremde und seinen Klasseninteressen feindliche Ideologie, Taktik und zuguterletzt politische Mentalität überzustülpen; ist es nicht so? Und was tut derselbe Genosse Lenin? Er versucht präzise eine ebensolche Operation durchzuführen, wie sie Bernstein, Jaurès und unsere „Idealisten“ unternehmen, mit dem einen Unterschied, dass er gemäß seiner revolutionären Position anstelle des Liberalismus seinen äußersten revolutionären Spross, der aber Fleisch von seinem Fleische und Blut von seinem Blute ist, nämlich den Jakobinismus einsetzt. Genosse Lenin erklärt in mutigem Kursivdruck: „Der Jakobiner, der ... verbunden ist mit der Organisation des Proletariats, das sich seiner Klasseninteressen bewusst geworden ist – das ist eben der revolutionäre Sozialdemokrat.“ In diesem Fall jedoch muss Genosse Lenin auch die andere Formel, die Formel der „Oswoboschdenije“ anerkennen, nachdem man in ihr den Liberalismus durch seinen linken Flügel, den Jakobinismus, ersetzt hat; die Formel würde dann so lauten: „Jakobinismus und Sozialdemokratismus lassen sich in keiner Weise voneinander trennen oder gar einander entgegenstellen; in ihrem Grundideal sind sie identisch und untrennbar.“ Und nicht nur in ihrem „Grundideal“, sondern auch in den Methoden der revolutionären Taktik und im Inhalt ihrer politischen Mentalität; dann bleibt die Summe zu ziehen: der Jakobinismus ist eine besondere Spielart des Liberalismus; der Sozialdemokratismus ist eine besondere Spielart des Jakobinismus.

Wenn Lenin von der einzigen von ihm gegebenen prinzipiellen, furchtlos-prinzipiellen „Losung“ nicht „zwei Schritte zurück machen will, dann wird er von seiner Definition aus „einen Schritt vorwärts“ zu machen genötigt sein und muss, wenn er alle daraus entspringenden Konsequenzen akzeptiert, den Genossen bei der Partei sein Visitenkärtchen zuschicken.

Entweder-oder, Genosse Lenin!

Entweder bauen Sie Ihre theoretische Brücke zwischen revolutionär-bürgerlicher (jakobinischer) und proletarischer Demokratie fertig, wie auch die aus dem Marxismus heraustretenden Liberalen eine Brücke bauen zwischen bürgerlichem Liberalismus und proletarischem Sozialismus, oder Sie verzichten auf eine Praxis, die Sie zu einem solchen theoretischen Attentat treibt.

Entweder Jakobinismus oder proletarischer Sozialismus!

Entweder Rückzug von der einzigen prinzipiellen Position, die wirklich von Ihnen in Ihrem Kampf mit der „Minderheit“ eingenommen wird, oder Rückzug vom Felde des Marxismus, der von Ihnen scheinbar gegen die Minderheit verteidigt wird.

Entweder-oder, Genosse Lenin!

„Warum sollte die Geschichte nicht den Streich spielen“, vernehmen wir die Stimme des Genossen Axelrod, „der revolutionären bürgerlichen Demokratie einen Führer aus der Schule des orthodoxen revolutionären Marxismus zu verschaffen? In der Tat gab doch der legale und der Halb-Marxismus unseren Liberalen einen literarischen Führer.“

Wieso denn wohl? – Der Führer der revolutionären bürgerlichen Demokratie kann nur ein Jakobiner sein. Er versammelt seine Armee (die nicht groß und gewaltig sein wird) um die klappernden Losungen der strengen „Diktatur“, der eisernen „Disziplin“, des „Aufrufs zum Aufstand“. Als ideologische Hülle der Versöhnung der revolutionären Intelligenz mit ihrer beschränkten bürgerlich-revolutionären (jakobinischen) Rolle kann der Marxismus auftreten, natürlich nicht in seinem sozialistischen Klasseninhalt, sondern in seinem formalen Rahmen, der so zerbrochen ist, dass man diesen „orthodoxen Marxismus“ mit dem Jakobinismus verknüpfen kann, um eine „revolutionäre Sozialdemokratie“ zu erhalten.

Genosse Axelrod vermochte nach der Behauptung Lenins „bei bestimmten Vertretern des ihm so verhassten orthodoxen (so steht es gedruckt!) Flügels der Partei durch nichts, aber auch rein nichts gewisse (revolutionär-bürgerliche, d. h. jakobinische) Tendenzen aufzuzeigen und nachzuweisen ...“ [J] Axelrod „zeigte nichts auf“, weder an den „Ökonomisten“, als er als erster gegen sie auftrat, noch bei unseren jakobinischen Bürovorstehern, als er sie politisch charakterisierte und eben dadurch in seiner historischen Resolution auf dem Ligakongress festnagelte. Axelrod „zeigte nichts auf“; er zeichnete keine gescheiten Diagramme, er setzte keine schiefen Indizien zusammen – und deshalb „zeigte er nichts auf“. Er tat etwas anderes: er formulierte eine Tendenz, die sich in der Partei abgezeichnet hatte. Für die erste Arbeit muss man ein flinker Statistiker und ein liederlicher Advokat sein; für die zweite muss man Marxist und scharfsinniger Politiker sein. Um die „dokumentarischen“ Beweise haben sich andere gekümmert. Von diesen für Lenin so wichtigen Beweisen gibt es viel zu viel in der Parteipraxis unserer Hof-, Staats- und Wirklichen Staatsjakobiner, es gibt ihrer viele in den Resolutionen unserer Komitees mit dem berühmten uralischen „Manifest“ an der Spitze. Und all diese „handwerklerischen“ Anschläge auf den Marxismus erhalten besonderes Gewicht, nachdem Lenin „selbst“ sie in seiner Broschüre „zentralisierte“, die gekrönt ist mit der unsterblichen „Formel“ des sozialdemokratischen Jakobiners!
 

Die Diktatur über das Proletariat

O mächtige Logik des Lebens! Sie „legt ein Sandkörnchen auf den Weg, und der Überkluge purzelt kopfüber zu Boden“. So ein „geringfügiges“ Faktum, dass in einem gewissen Organisationsplan einer gewissen sozialdemokratischen Partei die Gruppe, die diese Partei großgezogen hatte, in einer unvorteilhaften Lage erschien, wurde zur Quelle eines großen Parteikampfes. Man musste sich sagen: Offensichtlich hat dieser Organisationsplan einen Fehler, augenscheinlich leidet das Denken, das diesen Plan geboren hat, an irgendeinem organischen Gebrechen. Der Autor des „Plans“, der in der innerparteilichen Politik Methoden angewendet hatte, die jedem Geist der Sozialdemokratie fremd sind, sah sich durch die Notwendigkeiten seiner eigenen Position gezwungen, den Begriff des Sozialdemokraten zu „erweitern“ und ihn mit dem Begriff des Jakobiners zu verbinden. Das Leben entwickelt seine mächtige Logik und zwingt unbedeutende, inkonsequente, eklektizistische Leute, so oder so zu einem logischen Ende zu gelangen – je schneller, desto besser.

Zu der Zeit, da Lenin seine „Formel“ vom sozialdemokratischen Jakobiner produzierte, erarbeiteten seine Gesinnungsgenossen im Ural eine neue „Formel“ der Diktatur des Proletariats. Subjektiv bleiben die uralischen Jakobiner wie auch Lenin im Rahmen des Marxismus. Aber das politische Leben hat einen hinreichenden Vorrat an Stößen und Püffen, um sie zu zwingen, diesen Rahmen zu „erweitern“ oder sich völlig von ihm zu verabschieden, wenn er zu drückend erscheint. Und das steht früher oder später zu erwarten.

„Wenn die Pariser Kommune 1871 stürzte“, sagt das uralische Manifest, „dann ist die eigentliche Ursache das Faktum, dass in ihr verschiedene Richtungen vertreten waren, die Vertreter häufig gegensätzlicher und widersprüchlicher Interessen. Jede zog nach ihrer Seite hin, und das Resultat war viel Streit und wenig Aktion. Und man muss, nicht nur für Russland, sondern für das gesamte internationale Proletariat sagen, dass es vorbereitet werden und sich vorbereiten muss, eine starke, mächtige Organisation zu erhalten (!!!). Die Vorbereitung des Proletariats auf die Diktatur ist eine so wichtige organisatorische (!) Aufgabe, dass ihr alles übrige untergeordnet werden muss. Die Vorbereitung besteht unter anderem in der Schaffung der seelischen Haltung zugunsten einer starken, mächtigen Organisation, in der Klarstellung ihrer ganzen Bedeutung. Man kann einwenden, dass Diktatoren (!!!) ganz von selbst erschienen und erscheinen. Aber so war es nicht immer, und in einer proletarischen Partei darf das nicht spontan, nicht opportunistisch sein.

Hier müssen sich höchster Bewusstheitsgrad mit unbedingtem Gehorsam paaren – das eine muss das andere hervorbringen (Hinsicht in die unbedingte Notwendigkeit ist Willensfreiheit).“

Bei uns in Russland sei angesichts der zentralisierten Autokratie „die Frage der Organisation, der streng zentralisierten, konspirativen, zum Vorwärtsschreiten und zur Durchführung ihrer eigentlichen Aufgabe fähigen Partei“ besonders wichtig; „und diese Aufgabe fällt mit der Endaufgabe zusammen.“

Das ist die Sozialrevolutionäre Philosophie dreier Komitees: der Komitees von Ufa, vom Mittelural und von Perm. Diese Philosophie lässt sich in drei Thesen formulieren:

  1. Die Vorbereitung des Proletariats auf die Diktatur ist eine organisatorische Aufgabe, die in der Vorbereitung des Proletariats darauf besteht, eine mächtige Organisation, gekrönt von einem Diktator, zu erhalten.
     
  2. Das Erscheinen dieses Diktators über dem Proletariat, im Interesse der Diktatur des Proletariats, muss unbedingt bewusst vorbereitet werden.
     
  3. Abweichung von diesem Programm bedeutet Opportunismus.

In jedem Falle haben die Autoren dieses Dokuments den Mut, offen zu erklären, dass die Diktatur des Proletariats ihnen als Diktatur über das Proletariat sich darstellt: nicht die selbsttätige Arbeiterklasse, die das Schicksal der Gesellschaft in ihre Hände nimmt, sondern die „starke und mächtige Organisation“, die über das Proletariat und durch es über die Gesellschaft herrscht, wird den Übergang zum Sozialismus sichern.

Um die Arbeiterklasse auf die politische Herrschaft vorzubereiten, muss in ihr die Selbsttätigkeit entwickelt und geübt werden und die Gewöhnung zur ständigen aktiven Kontrolle über das gesamte Exekutivpersonal der Revolution. Das eben ist die große politische Aufgabe, die sich die internationale Sozialdemokratie stellt. Für „sozialdemokratische Jakobiner“ jedoch, für die unerschrockenen Vertreter des Systems der politischen Substitution, ist die gigantische gesellschaftlich-politische Aufgabe, nämlich die Vorbereitung der Klasse zur staatlichen Herrschaft, durch eine organisatorisch-taktische ersetzt, nämlich die Ausarbeitung eines Machtapparats.

Die erste Problemstellung verlegt den Schwerpunkt in die Methoden der politischen Erziehung und Umerziehung der immer mehr und mehr sich vergrößernden Kreise des Proletariats auf dem Weg ihrer Einbeziehung in die aktive politische Arbeit. Die zweite Problemstellung führt zur Auslese disziplinierter Exekutoren im Rahmen der „starken und mächtigen Organisation“, zu einer Auslese, die im Interesse einer Verkürzung der Arbeit nur mittels der mechanischen Entfernung Nicht-Angepasster vor sich geht: mittels „Auflösung“ und „Entzug der Rechte“.

Wiederholen wir: Die Genossen aus dem Ural sind völlig konsequent in der Ersetzung der Diktatur des Proletariats durch die Diktatur über das Proletariat, der politischen Herrschaft der Klasse durch die organisatorische Herrschaft über die Klasse. Das ist jedoch nicht die Folgerichtigkeit des Marxisten, sondern die des Jakobiners oder die seiner „Übertragung“ in sozialistische Sprache, des Blanquisten – natürlich mit dem urwüchsigen Aroma der uralischen Kultur.

Wir beschuldigen also unsere uralischen Genossen des Blanquismus. Und wir erinnern uns hier, dass Bernstein die revolutionären Sozialdem-riaten gerade des Blanquismus beschuldigt. Das scheint ein völlig hinreichender Grund, dass die Uraler zu den revolutionären Sozialdemokraten, wir aber – zu den Bernsteinianern gerechnet werden müssten. K

Wir halten es daher für äußerst nützlich, die Meinung Engels‘ darüber zu zitieren, wie die Blanquisten sich ihre Rolle im Augenblick einer sozialistischen Revolution vorstellen:

„Großgezogen in der Schule der Verschwörung, zusammengehalten durch die ihr entsprechende straffe Disziplin, gingen sie von der Ansicht aus, dass eine verhältnismäßig kleine Zahl entschlossener, wohlorganisierter Männer imstande sei, in einem gegebenen günstigen Moment das Staatsruder nicht nur zu ergreifen, sondern auch durch Entfaltung großer, rücksichtsloser Energie so lange zu behaupten, bis es ihr gelungen sei, die Masse des Volkes in die Revolution hineinzureißen und um die kleine führende Schar zu gruppieren. Dazu gehörte vor allen Dingen strengste diktatorische Zentralisation aller Gewalt in der Hand der neuen revolutionären Regierung.“ [L]

Wie bekannt, handelten die Blanquisten jedoch nicht so, wie es die Logik ihrer Doktrin erfordert hätte, sondern so, wie es die Logik der revolutionären Interessen des Proletariats, das an der Macht stand, erforderte. Anstatt das Proletariat zur „bewussten“ Unterordnung unter die Diktatur aufzurufen, in der, nach Meinung unserer uralischen Dialektiker, der „freie Wille“ der Arbeiterklasse sich äußern muss, begriff die Kommune vor allem, dass

„... diese Arbeiterklasse, um nicht ihrer eignen, eben erst eroberten Herrschaft wieder verlustig zu gehen, ... sich sichern müsse gegen ihre eignen Abgeordneten und Beamten, indem sie diese, ohne alle Ausnahme, für jederzeit absetzbar erklärte.“

Schon aus diesen zwei Zitaten wird hinreichend klar, dass man gegen den Jakobinismus sein kann, ohne Bernsteinianer sein zu müssen; und man kann auf der anderen Seite, wie wir hinzufügen, von Kopf bis Fuß Anti-Bernsteinianer und doch zugleich Tausende von Werst vom Marxismus entfernt sein. Plechanow schrieb irgendeinmal, dass unsere „Ökonomisten“ den Karikaturen, die Michajlowski, Kriwenko und andere von den Marxisten entworfen hätten, wie ein Tropfen Wasser dem anderen glichen; unsere zentralistischen Substituteure nun gleichen den Karikaturen, die von den revolutionären Sozialdemokraten durch die Theoretiker des russischen „Ökonomismus“ und durch die europäischen Bernsteinianer entworfen wurden, wie ein Tropfen Wasser dem anderen. Es reicht in keiner Weise aus, ein Pluszeichen an die Stelle zu setzen, an der bei den Opportunisten Minus steht, und Minus dorthin, wo bei ihnen Plus steht, um aller Geheimnisse der revolutionären sozialistischen Politik kundig zu sein.

Den Opportunisten als Gegner zu haben bedeutet noch keineswegs, revolutionärer Sozialdemokrat zu sein.

Am deutlichsten und klarsten zeigt sich das bei der Frage der Diktatur des Proletariats, die die Welt des europäischen Sozialismus trennt.

Bei uns in Russland herrscht die Meinung vor, dass in dieser Frage – wie auch in anderen Fragen des Sozialismus – außerhalb des marxistischen („orthodoxen“) Standpunkts lediglich der reformistische, opportunistische (bzw. bernsteinianische) Standpunkt existiere. Das ist nicht richtig. Es existiert noch ein dritter Standpunkt: der des opportunistischen Blanquismus. Diese Häresie beargwöhnen und befürchten unsere „Orthodoxen“ in keiner Weise; sie steht uns indessen in vieler Beziehung weit näher als das Bernsteinianertum.

Beide Gattungen des Opportunismus, die reformistische und die blanquistische, sind durch die spezifischen Elemente bestimmt, die die demokratische Intelligenz in die Klassenbewegung des Proletariats hinein trägt. Sie fühlt sich hingezogen zur verschwörerischen Ergreifung der Macht, solange sie noch die berauschenden Düfte der bürgerlichen Revolution atmet, und sie neigt sich in dem Maß immer mehr zum antirevolutionären Reformismus, wie die bürgerlich-revolutionären Traditionen in den Bereich der Vergangenheit tauchen. Das ist die Ursache, wegen derer der jakobinische Opportunismus in den Fragen der sozialistischen Theorie und Praxis den politischen Positionen und der politischen Mentalität der heutigen russischen revolutionären Intelligenz in dem Maße entspricht, in dem der reformistische Opportunismus den politischen Neigungen der heutigen französischen Intelligenz entgegenkommt.

Für den europäischen Sozialismus sind die jakobinischen Tendenzen ein überwundener Standpunkt, ein längst abgeschlossenes Entwicklungsstadium. Dort figurieren Jakobinismus und Blanquismus lediglich noch als Popanz im Mund der Revisionisten und Bernsteinianer. Bei uns dagegen beginnen Revisionismus und Bernsteinianertum sich klar in einen Popanz im Mund und unter der Feder des „Orthodoxen“ zu verwandeln, die offen zu Jakobinismus und Blanquismus neigen.

Infolgedessen ist es für uns russische Revolutionäre sinnlos, uns stolz zu brüsten, wenn wir in der von uns erlebten prärevolutionären Epoche uns kraft unserer allgemeinen Rückständigkeit für den Jakobinismus empfänglicher als für den Reformismus zeigen. Der großen Sache des Proletariats ist der eine wie der andere gleich fremd.

Wenn wir uns die Kolossalität der Aufgaben nur ein wenig ins Gedächtnis rufen – nicht die der organisatorisch-konspirativen, sondern die der sozio-ökonomischen und der gesellschaftlich-politischen Aufgaben, die die Diktatur des Proletariats stellt, wenn sie eine neue historische Epoche eröffnet –, mit anderen Worten, wenn die Diktatur des Proletariats für uns keine leere Phrase ist, die den innerparteilichen Kampf unserer formalistischen „Orthodoxie“ krönt, sondern eine lebendige Vorstellung, die der Analyse des immer mehr sich entwickelnden und immer weiter sich verschärfenden sozialen Kampfes des Proletariats mit der Bourgeoisie entspringt, dann werden wir nicht mit den Uralern zu sammen die stupide Schlussfolgerung ziehen, dass die Kommune gescheitert sei, weil sie keinen Diktator gehabt habe, oder ihr vorwerfen, dass bei ihr viel Streit und wenig Aktion„ gewesen sei, oder ihr nachträglich empfehlen, die „Streitsüchtigen“, d. h. die Intriganten, Desorganisatoren und böswilligen Widersacher der Kommune, mittels „Auflösung“ und „Entzug der Rechte“ zu beseitigen. Die Aufgaben des neuen Regimes sind so kompliziert, dass sie nicht anders gelöst werden können als mittels des Wettstreits verschiedener Methoden des ökonomischen und politischen Aufbaus, mittels langer „Streitgespräche“, mittels systematischen Kampfes, nicht nur der sozialistischen Welt mit der kapitalistischen, sondern auch der verschiedenen Strömungen innerhalb des Sozialismus untereinander, Strömungen, die sich unvermeidlich einstellen werden, sobald die Diktatur des Proletariats Dutzende und Hunderte neuer, von niemand im Voraus lösbarer Probleme aufstellen wird. Und keine „starke und mächtige Organisation“ wird zur Beschleunigung und Vereinfachung des Prozesses diese Strömungen und Meinungsverschiedenheiten unterdrücken können, weil es nämlich nur zu klar ist, dass das Proletariat, wenn es fähig zur Diktatur über die Gesellschaft ist, nicht die Diktatur über sich selbst ertragen wird.

Die Arbeiterklasse, die am Staatsruder steht, wird zweifelsohne in ihren Reihen viele politische Invaliden einschließen und in ihrem Tross viel ideellen Ballast mitschleppen. In der Epoche der Diktatur wird sie unbedingt, wie sie das auch jetzt unbedingt muss, ihr Bewusstsein von falschen Theorien und bürgerlichen Denkweisen reinigen und ihre Reihen von politischen Phrasendreschern und Leuten, die in alten Kategorien denken, säubern müssen. Diese komplizierte Arbeit jedoch lässt sich nicht substituieren, indem man über das Proletariat eine gut ausgewählte Gruppe von Personen oder, besser noch, eine Person stellt, die mit dem Recht der „Auflösung“ und der Degradierung versehen ist.

Marx charakterisierte mit einigen Zeilen die „inneren Feinde“ der Kommune, die die Sache des revolutionären Proletariats bremsten. Marx wusste jedoch, dass man sich von diesen Elementen nicht durch ein Dekret von oben befreien kann. „Sie sind ein unvermeidliches Übel“, sagte Marx [1]; befreien kann man sich von ihnen nur mit der Zeit, aber diese Zeit war der Kommune nicht gegeben.“ Man kann sich nur von ihnen befreien, indem man das Klassenbewusstsein des Proletariats vertieft und es auf diese Weise immer weniger von den oder jenen Irrtümern und Fehleinschätzungen dieser oder jener „Führer“ abhängig macht. [M]

Marx, der zwei Tage nach dem Sturz der Kommune seine denkwürdige Einschätzung lieferte, hatte, wie man denken muss, nicht den Verdacht, dass die Leute, die sich als ihre Jünger erklären, 33 Jahre danach die Vorurteile des doktrinären Jakobinismus, die gegenüber der Kommune zum Ausdruck gebracht wurden, wiederholen würden.

Die Kommune zeigt gerade, wie dumm und hilflos alle konspirative Doktrinenreiterei gegenüber der Logik der Klassenbewegung des Proletariats ist. Sie zeigte gerade, dass einzig auf der Basis der nicht-abenteuerlichen sozialdemokratischen Politik nur ein selbsttätiges Proletariat existieren kann, nicht aber eine Klasse, der eine „seelische Haltung“ zugunsten einer über ihr stehenden, starken und mächtigen Organisation aufgepropft ist.

Es ist zu begreifen notwendig, ihr Herren, dass die Entwicklung einer ganzen Klasse sich beständig, aber langsam vollzieht, dass wir außer dem Niveau des proletarischen Bewusstseins keine andere Basis unserer politischen Vorwärtsbewegung haben und nicht erhalten können. Man muss ein für allemal verzichten auf die „Beschleunigungs“-Methoden der politischen Substitution. Wer das nicht erträgt, wer andere Garantien suchen will, die nicht auf der Klassenbasis, sondern in einer organisatorisch-konspirativen Spitze liegen, der kann schon heute von uns weggehen, weil ihn morgen ohnehin die „langsame, aber beständige“ Logik der proletarischen Entwicklung fort treiben wird – wohin? Zu den Anarchisten oder zu den Reformisten – wer könnte das voraussagen?

Daran zweifeln wir nicht. Es heißt, dass die Verbindung der Frage der Diktatur des Proletariats mit der Organisationsfrage und dieser letzteren mit der Frage der rechtzeitigen Vorbereitung eines Diktators eine rein lokale uralische Stupidität ist. Weshalb jedoch, fragen wir, erscheint diese Stupidität so „gesetzmäßig“? Auf welche Weise kam es, dass sie so präzise die Vorhersagen rechtfertigte, die in der Literatur von der Minderheit gemacht worden sind?

Schrieb etwa nicht die Sibirische Delegation [2] lange vor dem Erscheinen des uralischen Dokuments, dass gemäß der Logik des „Belagerungszustands“ die Hegemonie der Sozialdemokratie im Befreiungskampf die Hegemonie einer Person über die Sozialdemokratie bedeutet? Und weiter noch: weiß Lenin etwa nicht, für wen im System des uralischen sozialdemokratischen „Boulangerismus“ die zentrale Rolle vorbereitet wird? Und protestiert er etwa gegen dieses Zerrbild über der Sozialdemokratie, das zur Theorie erhoben wird? Nein, er schweigt; mehr noch, er schweigt zu diesen Fragen so beredt, dass es allen scheint, als ob er im Vorgefühl schwelge und sich innerlich schön mache.

Nein, wir haben im uralischen Manifest keine Kuriosität, sondern das Symptom einer ernsthaften Gefahr, die unserer Partei droht; und wir sind unseren uralischen Genossen zu tiefer politischer Dankbarkeit verpflichtet, dass sie die abstrakte Feigheit, die die Mehrheit ihrer Gesinnungsgenossen auszeichnet, überwunden und Schlüsse gezogen haben, bei denen es sogar Menschen kalt überläuft, die nicht ängstlich sind.

Sie werden von uns fortgehen – ich spreche von denen, für die die skizzierten Ansichten schon eine mehr oder minder vollständig abgeschlossene Weltanschauung und keine einfache Wachstumskrankheit mehr sind –, sie werden fortgehen, weil dieser formale Revolutionismus, der Revolutionismus der organisatorischen Form, nicht aber des politischen Inhalts, in sich das Pfand seines unvermeidlichen und dabei raschen Verfalls trägt.

Wenn unsere Partei in der Situation der Autokratie jenen idealen organisatorischen Bau auch bilden mag – was unwahrscheinlich ist –, wenn sie diesen Bau auch unversehrt durch alle Prüfungen tragen wird, die die Periode der Liquidierung der Autokratie für uns bereithält – in den Honigjahren der befreiten Bourgeoisie jedoch, in den Jahren des nationalen Aufstiegs, wenn der russische Kapitalismus, berauscht durch die neuen Entwicklungsquellen, die sich ihm eröffnet haben, temporär vielleicht das Proletariat von dem angestrengten politischen Kampf ablenken und es auf dem Weg des geringsten Widerstands, auf den Weg syndikalistischer und ökonomischer Organisationen stößt, dann wird die „starke und mächtige Organisation“ leblos über den lebendigen Klassenkämpfen hängen, wie ein Segel, das vom Wind nicht aufgeblasen wird.

Und dann werden all diejenigen, denen es „reiner Opportunismus“ scheint, auf das „langsame, aber beständige Wachstum des Klassenbewusstseins“ zu rechnen, all diejenigen, deren Bewusstsein die historische Logik der Klassenbewegung weniger sagt als die bürokratische Logik dieses oder jenes Organisations-„Plans“, sie alle werden plötzlich überrumpelt werden, und die Woge der politischen Enttäuschung wird unvermeidlich viele und viele dieser Mystiker der organisatorischen Form aus unseren Reihen hinausführen. Diese Enttäuschung nämlich wird nicht einfach die organisatorische Form, nicht einfach die Idee des Zentralismus verletzen, sondern die Idee des Zentralismus als Grundlage revolutionärer Weltanschauung.

Das Fiasko des organisatorischen Fetischismus wird für ihr politisches Bewusstsein unvermeidlich das Fiasko des Marxismus, das Fiasko der „Orthodoxie“ bedeuten, da der gesamte Marxismus sich für sie in einigen primitiven organisatorischen Formeln konkretisierte; mehr noch, es wird dies das Fiasko des Glaubens an das Proletariat als Klasse sein, das sich nicht zur Diktatur führen ließ, obgleich ihm dazu so klare und direkte Marschrouten geboten wurden.

Enttäuscht werden sie von uns gehen – die einen zum Reformismus, die anderen zum Anarchismus, und wenn es sich ergeben wird, dass wir ihnen auf der Kreuzung zweier politischer Straßen begegnen, werden wir sie an diese Prophezeiung erinnern.

* * *

Anmerkung

A. Schag wperjod ..., S. 140.

B. „Ich kenne nur zwei Parteien, die der guten und die der schlechten Staatsbürger.“ La société des jacobins. Recueil des documents pour l’histoire du club des jacobins de Paris, par F. S. Aulard, t. VI, p. 254.

C. La société des jacobins, t. VI, p. 278.

D. La société des jacobins, t. IV, p. 372.

E. La société des jacobins, t. VI, p. 47.

F. Wir erinnern den Leser, dass die Formel: mettre dans l’impuissance de nuir (versetzen in die Ohnmacht zu „schaden“) im jakobinischen Alltag gegenüber den „inneren Feinden“ der Republik sehr gebräuchlich war.

G. Ot marksisma k idealismu, S. VI.

H. Problemy idealizma (Probleme des Idealismus), Moskau 1902, S. 118; kursiv von mir.

I. K agrarnomu woprosu (Zur Agrarfrage), Oswoboschdenije, Nr. 9 (33)

J. Schag wperjod ..., S. 139; kursiv von Lenin; Einschiebungen in Klammern von mir.

K. Der größte Teil dieses Kapitels war vor dem Erscheinen der Broschüre Lenins Ein Schritt vorwärts ... geschrieben. Wie sich zeigt, haben wir uns nicht geirrt. Auf die Beschuldigung des Jakobinismus und Blanquismus erwidert Lenin wie angenommen: „... die Girondisten der heutigen Sozialdemokratie (nehmen) stets und überall ihre Zuflucht zu den Ausdrücken „Jakobinertum“, „Blanquismus“ usw. ..., um ihre Gegner zu charakterisieren.“ S. 132. Axelrod „bestätigt“ die gegen ihn erhobene Beschuldigung des Opportunismus „durch sein Nachbeten der alten Bernsteinschen Leier von Jakobinertum, Blanquismus usw. ...“ S. 140.

L. F. Engels, Einleitung zu Marx’ Der Bürgerkrieg in Frankreich in der deutschen Ausgabe von 1891.

1. K. Marx, Der Bürgerkrieg in Frankreich.

M. Genau das hatte die Iskra im Sinn, als sie schrieb, dass „auch in Deutschland die Frage des Taktstocks ihre Bedeutung direkt proportional zum Wachstum des proletarischen Klassenbewusstseins verloren hat. Das Klassen-Selbstbewusstsein des Proletariats erfüllt beständig, wenn auch langsam, seine Sache.“

Darauf antworten die uralischen Genossen: „Eine solche rein opportunistische (!!!) These hält die Iskra für ein klares Ziel der Reife der Partei in ihrer Organisation.“ Das heißt, dass für das einzige „klare Zeichen“ des Fortschreitens der Sache des Proletariats und der Reife seiner Partei das langsame, aber beständige Wachstum seines Klassen-Selbstbewusstseins zu halten nicht mehr und nicht weniger bedeutet, als in „reinen Opportunismus“ zu verfallen!

2. L. Trotsky, Report of the Siberian Delegation. (1903).


Zuletzt aktualiziert am 1. November 2024