Leo Trotzki

Unsere politischen Aufgaben

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Die taktischen Aufgaben


Wostotschnoje Obosrenie, Nr. 285, 23. Dezember 1900/5. Januar 1901.


Der Inhalt unserer Arbeit im Proletariat

Ohne Zweifel, interessante Kampfjahre und den Geist mitreißende Ereignisse erwarten uns. Wir müssen jedoch unverzüglich aus dieser Sackgasse herauskommen, in der sich unsere Partei nun schon ein Jahr abquält. Die Arbeit der Komitees befindet sich in einem unbeschreiblich kläglichen Zustand. Die organisatorischen Verbindungen zur Masse sind schwach, ein politischer Kontakt zu ihr besteht so gut wie gar nicht. Die Aussage vom Proletariat als der Avantgarde des allgemein-demokratischen Kampfes beginnt, da politisch unbegründet, in den Ohren zu schmerzen. Für jeden Sozialdemokraten, der zu politischem Denken fähig ist, muss aus all dem klar werden, dass unsere Arbeit an irgendeinem schweren Gebrechen leidet, sei es ererbt vom „Ökonomismus“ oder wohlerworben in der Periode der Iskra, einem „Gebrechen“, das uns nicht gestattet, uns zu voller Größe aufzurichten. Es wäre naiv zu denken, dass die inneren Reibungen die Ursache des Stillstands seien; sie sind nur sein Symptom.

Sehen wir einmal ab von den innerparteilichen Meinungsverschiedenheiten, den organisatorischen Zusammenstößen, dem wechselseitigen Boykott, und blicken nur auf den Inhalt unserer Parteiarbeit – so überrascht uns nicht nur seine quantitative, sondern auch seine qualitative Armut. Das ganze Feld unserer Arbeit ist mit weißen Papierbögen verschiedener Größe überdeckt, auf denen Binsenweisheiten über die Notwendigkeit, die Autokratie „im Namen des Sozialismus“ hinwegzufegen, gedruckt stehen. Diese Bögen heißen Flugblätter, und die Summe dieser Flugblätter heißt aus irgendeinem Grunde Russische Sozialdemokratische Arbeiterpartei; so ist es doch – oder etwa nicht?

Der zentrale Punkt der Arbeit der „Ökonomisten“ war der Streik. Etwa die gleiche Rolle spielte in der folgenden Epoche die Demonstration. Ohne solche „Zentralpunkte“ wäre unsere Arbeit in den Massen überhaupt nicht möglich. Im Westen – ohne davon zu sprechen, dass dort das Tempo der Bewegung in der letzten Zeit ungleich „behutsamer“ geworden ist –, im Westen also zeigen sich als „kritische“ Momente in der revolutionären „Produktion“ die periodisch wiederkehrenden Wahlkampagnen. Streik wie Demonstration üben einen ganzen Komplex von komplizierten Verhaltensweisen des Massenwiderstands, stärken das Gefühl der Solidarität, entwickeln die militante Gesinnung, und das in einem Maße, wie es durch literarische Agitation und Propaganda niemals möglich wäre. Der Glaube, dass man die politische Klassenkraft im Proletariat allein dadurch entwickeln könne, dass man es literarisch über den Kampf der Arbeiter in anderen Ländern aufklärt, oder auf der anderen Seite dadurch, dass man abstrakt die Notwendigkeit des Kampfes aufweist, ohne die im jeweiligen Augenblick unmittelbar möglichen Kampfformen aufzuzeigen und zu diesen dann aufzurufen, wäre die größte Utopie im Stile der ersten Lawrow-Anhänger. Streik wie Demonstration, die beiden Kulminationspunkte der Arbeit in den zwei vorangegangenen Perioden, gaben nicht nur dem Gefühl des Protests, das in den Arbeitern durch mündliche oder literarische Agitation aufgebrochen war, praktische Betätigung, sie erweiterten auch schlagartig, in schnellem Tempo, das Feld dieser Agitation und erhöhten qualitativ die Wahrnehmungskraft der Masse angesichts der neuen, größeren und komplizierteren Ideen des Kampfes.

In Abhängigkeit davon, welchen Stellenwert im Gesamtbild unseres revolutionären Kampfes diese oder jene in unserer Praxis entstandenen Erscheinungsformen der Tätigkeit und der Selbsttätigkeit der Masse einnehmen, schwankt die Organisation selbst zwischen zwei Typen: entweder technischer Apparat zur Massenverbreitung der am Ort selbst oder im Ausland herausgegebenen Literatur, oder revolutionärer Hebel, der die Massen in eine zielgerichtete Bewegung hineinzuführen geeignet ist, d. h. der der Übung der in ihnen vorhandenen Fähigkeiten der Aktivität und Selbsttätigkeit dient.

Diesem zweiten Typus kam die „handwerklerische“ Organisation der „Ökonomisten“ eigentümlich nahe. Ob gut oder schlecht, sie entsprach bestimmten Formen des „praktischen Widerstands der Arbeiter gegen die Kapitalisten“; ob gut oder schlecht, sie diente unmittelbar dem Zusammenschluss und der Disziplin der Arbeiter im Rahmen des ökonomischen Kampfes, vornehmlich im Streik.

Um eine ziemlich reine Verkörperung des ersten Typus zu erhalten, müssen wir uns der sogenannten Polnischen Sozialistischen Partei (PPS) zuwenden. Um den Bereich der jeweiligen Berührung mit der Masse auf ein Minimum zu reduzieren, verbot die PPS in Kongressresolutionen aus konspirativen Erwägungen sogar die Zirkelpropaganda und übertrug letzten Endes die gesamte Aufgabe, die Masse zu mobilisieren, der Literatur, teilweise Zeitungen, hauptsächlich aber Flugblättern. „Da sie die negativen Seiten einer solchen Arbeit (der Organisation der Partei in kleinen Propagandazirkeln) kennt“ – heißt es auf dem II. Kongress der PPS im Jahre 1894 – „richtete die Partei all ihre Anstrengungen auf die Agitation durch das geschriebene Wort und beschränkte die Arbeit in Zirkeln auf die Ausbildung von Agitatoren. Editorische Aktivität, massenhafte Verbreitung sozialistischer Literatur – das ist das hauptsächliche (einzige?) Mittel, das die PPS in ihrer Tätigkeit zur Vorbereitung der arbeitenden Massen auf den Kampf mit der Regierung und den Kapitalisten anwenden wird.“ [A] Ein solches Verständnis der Aufgaben der Partei bestimmte nach den Worten des Autors des zitierten Werkes „die gesamte Aktivität der PPS und verlieh ihr ein eigentümliches Gepräge, weit entfernt vom Ideal einer wahrhaft proletarischen Partei.“ [B] Der Autor verweist hier weiter noch darauf, dass „spontan entbrannte Streiks in der Mehrzahl der Fälle ergebnislos erloschen. Da die PPS infolge des überaus weiten Abstands zwischen der Organisation und den Massen zu diesen keinen Kontakt hatte, konnte sie nicht nur nicht den Kampf leiten und planmäßig steuern, sondern verstand es nicht einmal, ihn sinnvoll für die politische Agitation auszunutzen.“ [C] Der Apparat, der zur Verbreitung revolutionärer Literatur sehr brauchbar war, erwies sich als völlig unbrauchbar in der Rolle eines Koordinators der lebendigen revolutionären Energie der Massen.

Wir sind weit davon entfernt, unsere Partei zu der handwerklerischen Organisation der „Ökonomisten“ zurückführen zu wollen. Aber die Organisation der PPS – und darin stimmen wir mit dem Autor der soeben zitierten, interessanten historischen „Studien“ völlig überein – ist unendlich „weit entfernt vom Ideal einer wahrhaft proletarischen Partei“. Das scheint uns unbezweifelbar; mit welcher Vollkommenheit nämlich wir Sozialdemokraten auch Literatur verbreiten würden (wir werden das später noch weiter zu erläutern versuchen), wir würden dadurch noch keine sozialdemokratische Partei schaffen. Aber das organisatorische Ideal, das wir aus dem Kampf mit dem Handwerklertum davongetragen haben, das sich uns aufdrängte und aufdrängt durch eine ganze Reihe wichtiger und minder wichtiger objektiver Bedingungen, dieses Ideal nähert uns insgesamt inzwischen in immer stärkerem Maße der PPS an, die, wie wir soeben gehört haben, die „massenhafte Verbreitung sozialistischer Literatur“ als das prinzipielle, offenkundige und einzige Mittel „zur Vorbereitung der arbeitenden Massen auf den Kampf mit Regierung und Kapitalisten“ einschätzte.

In der Tat haben der gewerkschaftliche Kampf und insbesondere der Streik als seine häufigste Kampfform schon seit langem nicht mehr unsere Organisation ihren Forderungen und Bedürfnissen untergeordnet. Im Prozess des Kampfes mit dem „Ökonomismus“, dem wir die „politische Enthüllung“ bei jeder möglichen Gelegenheit entgegengestellt hatten, haben wir nicht nur gründlich die Kunst der Führung von Streiks verlernt, sondern wir begannen sogar, uns jedem allgemein „gewerkschaftlichen“ Kampf gegenüber misstrauisch zu verhalten – aus Zweifel an seiner „politischen Zuverlässigkeit“. [D]

Mit dem Beginn des neuen Jahrhunderts, das sich in Russland mit so geräuschvollen Ereignissen ankündigte, hatten die Demonstrationen die Streiks bereits in der Rolle zentraler Kampfmittel bei der lokalen Arbeit abgelöst. Die Tätigkeit der Komitees begann in einer ganzen Reihe von Städten sich auf die Vorbereitung einer Straßendemonstration zu reduzieren, während derer nicht selten, wie in einem – allerdings nicht immer strahlenden – Feuerwerk, alle oder fast alle Kräfte der lokalen Organisation verbrannten. Aber die Demonstration ohne sinnvolles Ziel, die Demonstration gegen das bestehende System „im Allgemeinen“, die Demonstration um ihrer selbst willen verlor ihre ganze mächtige Anziehungskraft, als sie aufhörte, eine Neuigkeit zu sein. Die Summe der aus der Demonstration erhaltenen Anregungen lohnt nicht mehr den Aufwand an materieller und persönlicher Kraft. In den Städten, in denen schon Demonstrationen stattgefunden haben, kann die Masse keine große Neigung empfinden, nur deshalb sich unter die Bajonette, Kugeln und Nagaiken zu begeben, um revolutionäre Lieder zu singen und rote Fahnen zu schwenken. Die Demonstrationen werden nur dann wieder aufleben, wenn sie – wir wollen das hier schon anmerken, um Missverständnisse zu vermeiden – das Ergebnis einer Anwendung reichhaltigerer und komplizierterer Methoden sind, die Massen in die Sphäre der lebendigen politischen Interessen mit einzubeziehen.

In der Absicht, ihre einzige „trade-unionistische“ Verbindung zur Masse zu lockern oder gar zu zerbrechen, um die Organisation konspirativer und geschmeidiger zu machen und stärker der revolutionären Leitung von Massendemonstrationen anzupassen, untergruben unsere Komitees ihren eigenen Boden – und mussten sich davon überzeugen, dass die Demonstrationen immer seltener und seltener glücken. Darauf gehen die Komitees den Weg des geringsten Widerstands und schieben die „Demonstration“ völlig beiseite – aus ihrem Aktivitätsbereich hinaus; zugleich werden die Versuche vernachlässigt, die lokale Organisation für die Aufgaben des Straßenkampfs fähig zu machen. In welchem Komitee kann man jetzt noch die vor anderthalb bis zwei Jahren so häufigen Reden vom „bewaffneten Widerstand“ und „militärischen Abteilungen“ hören? Nicht in einem. Was ergibt sich daraus? Das Komitee ist durch nichts mit der Masse verknüpft; es leitet weder Streiks noch ruft es Straßendemonstrationen hervor und lenkt sie.

Die Komiteearbeit, der unmittelbaren revolutionären Stimulantien beraubt, läuft immer mehr auf Druck und Verteilung von Proklamationen hinaus. Die Organisation deformiert sich immer mehr zu einem dieser bloß technischen Funktion angepassten Apparat. Sogar die Verbreitung der Proklamationen selbst bewegt sich auf dem Weg des geringsten Widerstands und übergeht durch die Entfremdung der Organisation von der Masse die Arbeiter auf Schritt und Tritt (siehe den interessanten Brief eines Odessaer Arbeiters in Nr. 64 der Iskra).

Allerdings verbreitet unsere Organisation im Unterschied zu der Organisation der PPS sozialdemokratische Literatur – das ist ein gewaltiger Unterschied. Es wäre jedoch der größte Irrtum zu glauben, dass wir, wenn wir die Arbeit auf die Verbreitung sozialdemokratischer Literatur beschränken, damit eine sozialdemokratische Partei schaffen würden. Freilich – wer bestreitet das? – brauchen wir notwendig eine konspirative und gut aufeinander abgestimmte Organisation, doppelt und dreifach notwendig; aber notwendig – wofür? Ausschließlich oder auch nur hauptsächlich für die gedeihliche Verbreitung sozialdemokratischer Literatur in einem bestimmten von uns betreuten Personenkreis innerhalb der Masse? Diese Aufgabe, für sich selbst genommen, darf nicht zur Grundlage unseres organisatorischen Baus werden, darf nicht die Formen des organisatorischen Apparats bestimmen. Nein und tausendmal nein! Es genügt nicht, dass Literatur mit dem Spiegel [1] dieser oder jener Parteiinstitution verbreitet wird: sie muss auch von den Arbeitermassen gelesen werden, und dafür ist notwendig, dass die politische Aufmerksamkeit der Massen ständig geweckt ist; das aber kann man niemals erreichen, wenn man unsere ganze Organisation zur Verbreitung und Verteilung von Zetteln bestimmt: wir werden uns um so mehr an diese bloß technische Funktion gewöhnen, je schlechter sie erfüllt werden wird. Die Literatur wird nur dann in die Tiefe dringen und nicht oberflächlich und flüchtig an den Massen vorüber huschen, wenn die Organisation zu ihren eigentlichen Funktionen findet: der Erarbeitung oder der „Auswahl“ spontan aufgetauchter taktischer Kampfformen, mit denen die Arbeiter auf alle Ereignisse des gesellschaftlichen Lebens, in deren Beleuchtung die Aufgabe unserer Parteiliteratur besteht, kollektiv reagieren können. Gerade dieses „Reagieren“ muss systematisch und planmäßig organisatorisch erfasst werden – und das ist genau die Aufgabe, die das schöpferische Denken der führenden Politiker unserer Partei hauptsächlich beschäftigt, genau das Ziel, dem die Form der Organisation der Partei untergeordnet werden muss; sonst kommt es dazu, dass das Zentralorgan über alles mögliche schreiben, das ZK – im Idealfall – für den Transport sorgen und die obersten Schichten des Proletariats ab und zu ein wenig lesen werden.

Wenn die Partei das organisierte Klassen-Bewusstsein und der organisierte Klassen-Wille ist – und wir dürfen sie so bestimmen –, dann ist die systematische Vervollkommnung dieser beiden Kategorien die Bedingung ihrer Weiterentwicklung. Mehr oder minder regelmäßig auf das Bewusstsein des Proletariats mittels „massenhafter“ Verbreitung sozialdemokratischer Literatur einwirken heißt noch nicht eine proletarische Partei schaffen; die Partei ist nämlich nicht nur das organisierte Klassen-Bewusstsein, sondern auch der organisierte Wille. Die Partei beginnt dort, wo wir auf der Basis der erreichten Bewusstseinsebene mit taktischen Methoden, die dem Gesamtzweck entsprechen, den politischen Klassenwillen organisieren. Die Partei kann nur dann in der Interdependenz von „Wille“ und „Bewusstsein“ unaufhaltsam wachsen und sich entwickeln, wenn jeder taktische Schritt, organisiert in der Form dieser oder jener politischen „Willens“bezeigung der am meisten bewussten Klassenelemente, aus sich selbst heraus unvermeidlich ihre politische Sensibilität erhöht, neue Schichten aus gestern noch unberührtem proletarischem Brachland zu ihnen hinführt und auf diese Weise die materielle und ideelle Basis für neue entschlossenere, politisch schwerwiegendere und in ihrem Klassencharakter entschiedenere taktische Schritte vorbereitet.

Wir sprechen hier in allgemeinen sozialpsychologischen Begriffen, weil wir jetzt, solange wir das Problem erst aufwerfen und noch nicht den Weg zu seiner Lösung zu finden suchen, die Darstellung nicht dadurch komplizieren wollen, dass wir den allgemeinen Grundgedanken in konkrete Beispiele und Illustrationen übertragen. Wenn jedoch der Leser sich klar vorzustellen versucht, welche Rolle in der Praxis der „Ökonomisten“ der Streik spielte, und die Demonstration in der Praxis der unmittelbar darauf folgenden Periode, wenn er demgegenüber feststellt, dass die heutige Praxis ohne all diese die gesamte Arbeit belebenden Momente kritischer Beurteilung der gewonnenen Positionen und ohne die politische Prüfung der gesamten Erfahrungen auskommen muss, dann werden unsere Überlegungen ihm nicht abstrakt erscheinen, und er wird sich, zusammen mit uns, die Frage vorlegen: Wo sind die taktischen Formen, in denen die bewussten Elemente des Proletariats hervorgetreten wären nicht nur als Objekte der Politik, sondern auch als ihre Subjekte, nicht nur als politisches Auditorium, sondern auch als „kollektiv handelnde“ Person, nicht nur als Leser der Iskra, sondern auch als aktive Teilnehmer an den politischen Ereignissen?

Wer sich diese Frage nur einmal stellt, der wird freilich begreifen, dass die Partei mehr ist als ein Bereich, der unter direktem Einfluss der Parteizeitung steht, dass die Partei nicht einfach aus akkuraten Lesern der Iskra besteht, sondern aus den aktiven und tagtäglich ihre kollektive Tätigkeit unter Beweis stellenden Elementen des Proletariats. Und noch einmal sei es gesagt: um diese kollektive Aktivität anzureizen, vorwärts zu stoßen, zu koordinieren und auszubilden – dafür und für nichts anderes brauchen wir eine elastische, bewegliche, initiativenreiche „Organisation der Berufsrevolutionäre“, keine Transporteure von Literatur, sondern politische Führer der Partei.
 

Das Erbe der Iskra-Periode: die Ignorierung
der Aufgaben der Selbsttätigkeit des Proletariats

Sehr viele – zu viele – Genossen zeigen sich vollkommen blind und taub gegenüber den Fragen und Überlegungen, die wir soeben formuliert haben; und ihre Blindheit und Taubheit sind nicht zufällige individuelle Gebrechen „Iwanowscher Ratgeber“ sondern Fehler, die sich als Tendenz in der Periode der theoretischen Liquidierung des „Ökonomismus“ und des „Handwerklertums“ herausgebildet haben. Viele „Iskristen“ müssen sich über diese ihre eigenen Fehler klare Rechenschaft ablegen und sie „liquidieren“ – je rascher, desto besser.

Wir „Iskristen“ waren immer geneigt, die Partei als eine zur Zeitung gehörige technische Agentur zu betrachten und den Inhalt der politischen Arbeit der Partei mit dem Inhalt der Parteiliteratur zu identifizieren. Ungeachtet der energischen Bemühungen der „Minderheit“, diese Schranken zu zerbrechen, versucht Genosse Lenin in seiner jüngsten Broschüre erneut, die Frage nach dem Inhalt unserer Parteiarbeit auf die Frage nach dem Inhalt des Parteiprogramms oder dem einiger Nummern der Iskra zu reduzieren. [E] Formal bleibt Lenin dabei den Traditionen der Broschüre Was tun? treu, teilweise auch der alten Iskra. Aber – Vernunft wird Unsinn. Die Identifizierung der Partei mit einer Zeitung, die im Moment bestimmter Aufgaben der vorangegangenen Periode ihren Sinn für die Organisation hatte, wird jetzt zu einem zutiefst reaktionären Rudiment, jetzt, wo die Problematik der neuen Periode gekennzeichnet ist durch den Widerspruch zwischen den theoretischen Grundlagen der Partei einerseits, die in der Parteiliteratur der vergangenen Periode erarbeitet und im Parteiprogramm formuliert wurden, und dem politischen Gehalt der Einwirkung der Partei auf das Proletariat und der Einwirkung des Proletariats auf alle politischen Gruppierungen der Gesellschaft andererseits. Die Aufgabe der Überwindung dieses Widerspruchs, die in den Feuilletons P. B. Axelrods auf die Tagesordnung gestellt wird, bildet den ganzen politischen Sinn des Kampfes der „Minderheit“ gegen die Enge, Beschränktheit und den politischen Formalismus der „Mehrheit“. Zu sagen, wie Lenin das tut: Wir handeln als sozialdemokratische Partei, weil wir ein sozialdemokratisches Programm haben – heißt die Frage, die schicksalhafte Bedeutung für unsere Partei gewinnen kann, mit einem absolut nichtssagenden bürokratischen Wisch vom Tisch zu fegen. Unser Programm stellt nicht schon durch seine bloße Existenz einen prinzipiellen Schritt nach vorn gegenüber dem vor 20 Jahren entstandenen Programm der Gruppe „Befreiung der Arbeit“ dar, obgleich allerdings die Formen der Einwirkung unserer Partei auf die Gesellschaft unendlich reicher und komplizierter geworden sind.

Vernunft wird Unsinn. Die äußerst primitiven organisatorischen „Pläne“ des Autors von Was tun?, die in der Gesamtsumme der Ideen einen unbedeutenden Platz einnahmen, aber dadurch, dass sie von Iskra und Sarja propagiert wurden, zweifellos eine progressive Rolle spielten, tauchen drei Jahre später bei seinem Epigonen, dem Autor von Ein Schritt vorwärts ... wieder auf, nun als wütender Versuch, die Sozialdemokratie zu hindern, zur Sozialdemokratie zu werden. Wie wir weiter oben sagten, stritt die alte Iskra direkt um den Einfluss auf die revolutionäre Intelligenz mit dem Ziel ihrer Unterwerfung unter das politische Programm des Proletariats, das in strenger und strengster Weise formuliert wurde. Dieser Kampf hatte seine Methoden; seine einzige Waffe war die literarische Polemik, da die Literatur der eine Wirkungskreis ist, in dem die russische Intelligenz nicht nur lernt, sondern auch lebt. Die berufs-„intelligente“ Intelligenz schließt sich durch die Literatur und in der Literatur dem politischen Prinzip dieser oder jener Klasse an. Der Plan der Iskra war die Bildung eines theoretischen und politischen Organs und die Gruppierung der revolutionären Elemente, die für die Sache des Proletariats erobert werden sollten, um dieses Organ. Die Iskra war eine politische Plattform und zugleich die Waffe des Kampfes – vor allem gegen die politischen „Vorurteile“ der Intelligenz. Der Inhalt der Parteiarbeit wurde wirkungsvoll vom Inhalt der Iskra überdeckt, falls man abstrahiert (und im Grunde genommen wurde alles „abstrahiert“) von der unmittelbaren Arbeit im Proletariat, die immer mehr hinter den prinzipiell anerkannten Aufgaben und Verpflichtungen der Partei zurückblieb.

Der „Organisationsplan“ Lenins war natürlich keine Offenbarung, wenn man in seinem Brief an einen Petersburger Genossen, dem Artikel Womit beginnen? [2] oder in Was tun? [3] nicht nur eine bürokratische „Federübung“ erblickt; aber er gab eine gute Antwort auf die Frage: Womit beginnen? Was tun, um die voneinander getrennten Elemente einer zukünftigen Parteiorganisation zu sammeln und damit die Stellung noch weiter gefasster politischer Aufgaben zu ermöglichen? Auf welche Weise diese einmal errichtete Organisation ihre prinzipiell anerkannten Aufgaben verrichten werde, diese Frage wurde ganz selbstverständlich beiseite geschoben. Ich wiederhole: der sogenannte „Organisationsplan“ beinhaltete nicht, was Lenin, der bis dato noch progressive Arbeit leistete, sehr wohl begriffen hatte, das Gebäude der Partei selbst, sondern nur das „Baugerüst“, errichtet zum Bau dieses Gebäudes. [F]

Der II. Kongress mit seinem Plan einer „orthodoxen Theokratie“ war der reaktionäre Versuch, der gesamten Partei in saecula saeculorum die Arbeitsmethoden und Beziehungsformen aufzuoktroyieren, die auf dem beschränkten Gebiet des Kampfes mit „Ökonomismus“ und „Handwerklertum“ um die Schaffung einer zentralisierten Organisation berufsrevolutionärer Sozialdemokraten ihre Tauglichkeit bewiesen hatten. Jedoch auch die souveränsten Kongresse sind so wenig wie absolute Monarchen in der Lage, dem Lauf der Geschichte Einhalt zu gebieten.

Gegen seinen Willen wurde der Kongress zum Werkzeug der neuen Forderungen gemacht. Er wollte lediglich die Eroberungen der „Liquidationsperiode“ [4] absichern, in Wirklichkeit jedoch eröffnete er bereits eine neue Periode mit einem ganzen Universum neuer Aufgaben. Und diese neuen Aufgaben sind – und darin zeigt sich die innere Gesetzmäßigkeit in der Aufeinanderfolge dieser Perioden – nur eine Reihe besonderer Schlussfolgerungen aus unserer alten grundsätzlichen Problemstellung, die erst jetzt, vor allem dank der Arbeit der alten Iskra, in ihrer unmittelbaren und unverfälschten Form vor uns steht: die Entwicklung des Klassen-Selbstbewusstseins und der Klassen-Selbsttätigkeit des Proletariats.

Das ist ein bisschen mehr als das, was wir bislang erfüllten. Für die unmittelbare Realisierung dieser Problemstellung genügt es nicht, theoretisch die Klassenprinzipien des Proletariats den Klassenprinzipien der Bourgeoisie gegenüberzustellen; man muss politisch das Proletariat der Bourgeoisie gegenüberstellen. Aber wie? mit welchen Mitteln?
 :

Sozialdemokratische Politik oder Politik des Credo?

Wie und mit welchen Mitteln? Bevor wir auf diese Frage zu antworten versuchen, werde ich ein Bruchstück aus den unveröffentlichten Erinnerungen eines Odessaer Genossen zitieren, um zu zeigen, wie die „Ökonomisten“ den „trade-unionistischen“ Willen (mit anderen Worten: den schlechten Willen) des Proletariats organisierten. Es handelt sich um den Streik der Zigarettenarbeiter zu Beginn des Jahres 1896. „Der Streik war lange vorbereitet worden; man hatte eine Kasse eingerichtet, die nahezu ausschließlich für den bevorstehenden Konflikt mit den Unternehmern bestimmt war (Hilfe wurde nur im Falle äußerster Not ausbezahlt) und die zu Beginn des Streiks ungefähr 150 Rubel enthielt. Obwohl es zum Stocken der Produktion genügte, dass nur diejenigen Arbeiter die Arbeit niederlegten, welche die besten und teilweise die mittleren Zigarettensorten produzierten, gelang es nur mit äußerster Mühe, den Streik zu organisieren. Man hatte beinahe ausschließlich mit ganzen Arbeiterfamilien höheren Lebensalters zu tun, die in dieser Hinsicht ziemlich schwerfällig waren. Mehrere Einführungsversammlungen fanden statt, wo neben der Frage der Forderungen hauptsächlich darüber diskutiert wurde, zu welchem Zeitpunkt der Zigarettenvorrat der Fabrikanten sich soweit vermindern werde, dass der Streik, wenn er eine Woche andauere, auf Erfolg rechnen könne. Als günstigsten Augenblick erklärte man den Januar 1896; der Streik, der höheren Arbeitslohn forderte, wurde auch zu diesem Zeitpunkt begonnen. Hauptsächlich, um die Unentschlossenen zu ermutigen, aber auch um der Ökonomie der Klassengelder willen wurden kollektive Mittagessen arrangiert; die Arbeiter wurden dazu so eingeteilt, dass in jeder Essensgruppe sich sowohl hartnäckige, sich kräftig für den Streik einsetzende Arbeiter befanden als auch Unentschlossene, die nach den ersten Tagen bereit waren, auf ihre Forderungen zu verzichten. Dank dieser Einwirkung der Starken auf die Schwachen und überhaupt durch die permanente Begegnung untereinander konnte der Streik auch so lange währen. Er wurde infolge der Arretierung vieler Streikender im Februar 1896 abgebrochen.“

Hier zeigt sich das Bild einer sehr komplizierten kollektiven Arbeit: Man bildet eine Kasse, erarbeitet gemeinschaftliche Forderungen, berechnet den Vorrat an Tabak, organisiert Mittagessen für die Streikenden auf der Basis komplizierter psychologischer Überlegungen. Wenn man in Betracht zieht, dass der Streik die Mehrzahl der Fabriken in Odessa erfasste, wird es klar, dass die ganze Angelegenheit organisatorisches Verständnis, Beharrlichkeit, Diszipliniertheit und Kenntnis der Bedingungen erforderte – erforderte und zugleich herausbildete.

Leisten wir irgend etwas Vergleichbares heute – in Formen, die den viel weiter gefassten Aufgaben entsprechen, die jetzt unserer Organisation gestellt sind? Wer antwortet positiv?

Es ist bekannt, dass Unternehmer den Arbeitern auf Schritt und Tritt unmittelbare Konzessionen gemacht haben und, nach dem Erscheinen irgendeiner Proklamation, die diese oder jene Unregelmäßigkeit entlarvte, den Streik gar nicht erst abwarteten. Diese Konzessionen jedoch wurden unter der Drohung eines möglichen Streiks gemacht. Es lag zu nahe – und die „ökonomistischen“ Komitees durften nicht zu dieser Idee oder dieser Praxis gelangen –, den gewerkschaftlichen Kampf per Proklamation für die Arbeiter zu führen, ohne zu so schwerwiegenden Mitteln wie dem Streik zu greifen. Die Komitees durften nicht zu einer so vereinfachten Praxis gelangen, weil ihre Folgen sich unverzüglich gezeigt hätten: Die Unternehmer hätten aufgehört, Konzessionen zu machen, und die entlarvenden Proklamationen der Komitees, hinter denen nicht der „trade-unionistische“ Wille der Arbeiter gestanden hätte, würden jeden realen Sinn verloren haben.

Obgleich eine solche Vereinfachung schon im gewerkschaftlichen Kampf undenkbar wäre, wo jede Kampfhandlung gleichsam sich selbst aus ihrem unmittelbaren Resultat bewertet, so wird dennoch im politischen Bereich, wo der Zusammenhang zwischen den verschiedenen Methoden des Kampfes ungleich komplizierter und wesentlich schwieriger zu berechnen ist, der organisierte politische Wille der bewussten Teile des Proletariats von dem in einer Resolution oder Proklamation sich manifestierenden „berufsrevolutionären“ Willen eines Komitees heimlich in unbegrenztem Maße verdrängt. Man muss das eigentlich nicht einmal beweisen – man braucht nur mit dem Finger darauf zu weisen.

In einem Brief teilt mir eine Petersburger Schulungsleiterin die unbedeutende, aber bemerkenswerte Episode mit:

„Als ich einmal bei irgendeiner Gelegenheit von dem Kongress [G] und dem Vorfall mit Pronin und Stepanow erzählte, stand ein Arbeiter auf und fragte erregt: Was müssen wir jetzt tun? Und andere bedauerten, dass dies alles ohne sie vorgefallen sei, dass sie es nicht gesehen und nicht daran teilgenommen hätten ...“

Ich gestehe den Lesern, dass ich, als ich das gelesen hatte, auch aufstand wie jener Arbeiter und erregt fragte: Was müssen wir jetzt tun? Es ist in der Tat fatal: da ereignet sich ein wichtiges politisches Ereignis, das die ganze Stadt, das ganze Land erregt. Die Arbeiter erfahren davon nebenbei durch eine Schulungsleiterin und fragen erregt: Was müssen wir jetzt tun? Die Schulungsleiterin weiß nicht, was sie ihnen antworten soll. Auch das Komitee weiß es nicht. Und was das allerschlimmste ist, das Komitee stellt sich nicht einmal die Frage: Was müssen wir jetzt tun?

In einem Atemzug mit dieser Frage stellt sich uns eine andere. Ist der Unterschied zwischen uns und den „Ökonomisten“ sehr groß? Existiert ein prinzipieller inhaltlicher Unterschied in der Arbeit? Oh weh, oh weh – das Proletariat befand sich zur Zeit des „Ökonomismus“ in einem politischen Ghetto, aus dem es bis zum heutigen Tag nicht herausgetreten ist!

Die radikale Demokratie gibt der Reaktion eine Ohrfeige, und das revolutionäre Proletariat schaut abseits zu und fragt hilflos: Was müssen wir jetzt tun? Diese Episode aus Petersburg, auf den ersten Blick geringfügig, ist ein Symbol, das in nuce die typischen Charakterzüge unserer gesamten politischen Arbeit trägt. Das revolutionäre Proletariat ist bei politischen Ereignissen an der „Aktion“ überhaupt nicht beteiligt. Es wird nicht einmal der Versuch unternommen, es zu einer solchen Beteiligung herbeizuziehen, schlimmer noch, man benachrichtigt es durch Proklamationen im Nachhinein von vorgefallenen Ereignissen und gibt ihm auf diese Weise nur die eine Möglichkeit – aufzuspringen und hilflos zu fragen: Was tun? – ohne eine Antwort zu erhalten. So ist die herrschende Praxis. Nur Pharisäer werden das leugnen. Ein ehrlicher Sozialdemokrat wird das anerkennen und die Frage des Petersburger Arbeiters zur Frage seines eigenen politischen Gewissens machen.

Wir wiederholen: welcher Unterschied besteht zur Praxis des so schonungslos verurteilten „Ökonomismus“? Und schlimmer noch, nähern wir uns in unserer politischen Praxis dem mit einem Anathem belegten Programm des Credo nicht weit mehr an, als dies selbst die „Ökonomisten“ taten?

Je schärfer man diese vier Figuren betrachtet: den Pogromhelden Stepanow, den legalen Demokraten, den marxistischen Schulungsleiter vom Komitee und den revolutionären Proletarier – um so mehr verlieren sie ihre individuellen Züge, um so klarer „repräsentieren“ sie ihre politischen Gruppierungen und spielen in individuellen Masken die jeweilige Rolle dieser Gruppierungen im politischen Leben des Landes. Und um so nachdrücklicher muss die oben gestellte Frage bejaht werden: Ja, wir sind komplizierte Umwege gegangen – zur Erfüllung des Programms des Credo.

„Es gibt für den russischen Marxisten“, lehrt dieses Programm, „nur einen Ausweg: Beteiligung am wirtschaftlichen Kampf des Proletariats, d. h. Unterstützung dieses Kampfes, und Beteiligung an der liberal-oppositionellen Tätigkeit.“ Mit anderen Worten: die Leitung primitiver Erscheinungsformen des proletarischen Klassenkampfes und seine Beschränkung auf keimhafte Formen einerseits, aktives Hervortreten in Reih und Glied mit der radikalen und liberalen Bourgeoisie andrerseits. Wenn wir auf den Inhalt unserer Arbeit blicken (und nicht nur auf den „Inhalt“ unseres Bewusstseins, unseres Programms oder unseres Zentralorgans), so sehen wir eine über dem Proletariat stehende „Partei“ (was zumindest Genosse Lenin und seine Gesinnungsgenossen unter Partei verstehen); klarer gesagt, eine Organisation, die sich zu drei Vierteln, wenn nicht zu neun Zehnteln aus der revolutionären Intelligenz zusammensetzt, die die primitiven Erscheinungsformen des (ökonomischen und politischen) Klassenkampfes des Proletariats leitet und obendrein von Zeit zu Zeit den Marsch „in alle Klassen der Bevölkerung“ [5] vollführt, d. h. am politischen Kampf der Bourgeoisie teilnimmt. Man wird mir entgegnen, dass das ein Witz oder, schlimmer noch, eine literarische Übertreibung sei. Leider aber entspricht die Praxis der Komiteearbeit dieser „Übertreibung“ nur zu genau. Die Komitees „leiten“ (obwohl sie, wie wir schon sagten, diese Kunst mehr und mehr verlernen) die primitiven Erscheinungsformen des ökonomischen Kampfes (Streiks) und des politischen Kampfes (halb spontane Demonstrationen mit vagen revolutionären Losungen) des Proletariats und zudem gehen sie auf diese oder jene Art – am häufigsten mit einer Proklamation – „in alle Klassen der Gesellschaft“ das ist alles.

Einige Genossen haben mit Stolz darauf hingewiesen, dass die Vertreibung Pronins und Stepanows vom Kongress über Fragen der technischen und der Berufsbildung durch das Petersburger Komitee vorbereitet wurde. Das räume ich gerne ein. Dieses Faktum jedoch unterstreicht nur noch besonders deutlich die Stichhaltigkeit der unternommenen Analyse. Das Petersburger Komitee tritt ohne Beteiligung des bewussten Petersburger Proletariats, ja sogar ohne dass dieses davon weiß, in eine klare Übereinkunft mit der radikalen Intelligenz. Wir bezweifeln keineswegs, dass das Petersburger Komitee in der mit seiner Einmischung, vielleicht sogar durch seine Initiative erfolgten Vertreibung der beiden Pogromhelden aus Kischinew eine gute Sache geleistet hat; es erwies der radikalen Intelligenz einen Dienst, die mit dieser Hilfe sich auf der Basis einer bestimmten Lösung zusammenschloss, ihre Kraft fühlte und in ihrer politischen Entwicklung einen Schritt vorwärts machte. Weil das Petersburger Komitee durch seine Initiative und praktische Mithilfe die demokratische Intelligenz unterstützte, leistete es gerade dadurch der Sache des allgemein-demokratischen Kampfes mit dem Absolutismus Hilfestellung. Man kann jedoch nicht die Augen davor verschließen, dass das Proletariat, das lebendige Petersburger Proletariat, dabei vollkommen abseits stand und erst im Nachhinein, als es bereits zu spät war, eine von der „Partei“ zu ihm gesandte Person fragte: Was müssen wir jetzt tun? Die Gruppe der Berufsrevolutionäre) war nicht an der Spitze des bewussten Proletariats marschiert, sie handelte, soweit sie überhaupt handelte, anstelle des Proletariats. Es ist vollkommen klar, dass diese Praxis der politischen Substitution von der Praxis einer Sozialdemokratie weit entfernt ist und weit direkter dem Programm des Credo entspricht als selbst die Praxis des „Ökonomismus“. Dieser beschränkte sich in seiner Führung bewusst auf die Stellung primitiver („trade-unionistischer“) Forderungen der Arbeiterbewegung. Die Theoretiker des Credo zogen, wenn sie im Fehlen einer selbständigen Politik des Proletariats ein unter den russischen gesellschaftlich-politischen Verhältnissen unvermeidliches Faktum sahen, die richtige Schlussfolgerung: Sie forderten von der sozialdemokratischen Intelligenz die Erfüllung der staatsbürgerlichen Verpflichtungen dieser sozialdemokratischen Intelligenz durch sie selbst, indem sie aktiv am politischen Leben teilnehme. Bei dem Fehlen einer selbständigen Politik des Proletariats konnte das nichts anderes bedeuten als die Teilnahme an der oppositionellen Politik der liberalen Elemente der Gesellschaft. Von diesem Gesichtspunkt aus war die Unlust der Marxisten, sich in der bürgerlichen Opposition aufzulösen, nur doktrinärer Eigensinn und „ein wesentlicher Nachteil für alle ..., die gezwungen sind, nicht in Gemeinschaft mit der Arbeiterklasse, die sich noch keine politischen Aufgaben gestellt hat, um Rechtsformen zu kämpfen.“ Die „Ökonomisten“ waren demnach inkonsequent und zeigten generell diese „Hartnäckigkeit“.

Und was taten die „Politiker“, die sie ablösten? Sie ergänzten die von ihnen in einer Beziehung verschlechterte, in anderer verbesserte Praxis des „Ökonomismus“ durch die Erfüllung jener zweiten vom Credo gestellten, im Grunde bürgerlichen Aufgabe. Und so erstaunlich das auch klingen mag, die Leute, die den Namen Credo ohne Schrecken nicht einmal hören können, arbeiten in einer Weise, dass die Autoren des Credo sagen könnten: Sie sind dazu gelangt, unser Gesetz nicht zu stören, sondern es zu erfüllen.
 

Was also tun?

Grundsätzlich anders hätte das Petersburger Komitee gehandelt, wenn es sich in jeder Stunde, jeder Minute nicht als Substituteur des Proletariats gefühlt hätte, sondern als sein politischer Führer, Das ist ein gewaltiger Unterschied, der sich im ganzen Verhalten des Komitees hätte widerspiegeln müssen. Wenn der Kongress über Fragen der technischen und der Berufsbildung politische Bedeutung hat, muss diese natürlich ausgenützt werden. Darüber sind wir uns alle einig; aber wie „ausnützen“? Indem man im Proletariat verbleibt und nicht, indem man es verlässt. Wir meinen, dass die Petersburger Sozialdemokraten, wenn sie nicht an der „berufsrevolutionären“ Krankheit der Emanzipation vom Proletariat gelitten hätten, hätten sie sich nicht wie durch einen Muskelreflex mit dem Gesicht zum Kongress und mit dem Rücken zum Petersburger Proletariat gewendet. Alles wäre anders gelaufen: das Komitee wäre mit einer Proklamation lange vor dem Kongress an das Petersburger Proletariat herangetreten. Es hätte in dieser Proklamation erklärt, um was es sich bei dem in Vorbereitung befindlichen Kongress handele und was die Petersburger Arbeiter von ihm fordern könnten und müssten. Das Komitee hätte dann alle seine Propagandisten versammelt und ihnen nicht nur so nebenbei, sondern vernünftig und ausführlich, in Verbindung mit den Abschnitten des Programms, die sich auf die Unterstützung oppositioneller und revolutionärer Bewegungen beziehen, und den entsprechenden Resolutionen des II. Kongresses der Partei, aufgetragen, die fortschrittlichen Arbeiter mit der politischen Physiognomie des bevorstehenden Kongresses und mit dem Verhältnis der Sozialdemokratie zu ihm vertraut zu machen. Der Kongress hätte natürlich auch das Diskussionsthema fliegender Versammlungen bilden müssen; möglicherweise wären immer wieder von neuem Proklamationen notwendig gewesen, immer wieder von neuem Diskussionen in Schulungszirkeln.

Die Kampagne hätte sich entfaltet; das Interesse am Kongress wäre wenigstens bei den fortschrittlichsten Schichten des Proletariats geweckt worden. Daraufhin hätte das Komitee eine Resolution ausarbeiten müssen, welche die Forderungen, die dem Kongress von den Petersburger Arbeitern präsentiert worden wären, formuliert hätte. Ein Komiteemitglied hätte diese Resolution gründlich mit den Schulungsleitern und Agitatoren durchsprechen müssen, an denen es dann gelegen wäre, sie durch alle Zellen der Organisation hindurch zu schleusen und Unterschriften zu sammeln. Wären 100 oder 200 Unterschriften gesammelt gewesen, hätte man die Resolution drucken und von Hand zu Hand gehen lassen müssen zum Unterschreiben. Die Arbeiter, die Propagandazirkel besuchen, vor allem die beruflichen Agitatoren, hätten alle Kräfte darauf verwendet, das Maximum an Unterschriften zu sammeln, indem sie die Arbeiter auf jede mögliche Weise an der Kampagne des Komitees interessiert hätten. Es hätten sich Dutzende von Fällen ergeben, ohne große Initiative, dass man das mühselige Sammeln von Unterschriften hätte ersetzen können durch lautes Vorlesen der Resolution und Zählen der Hände, die bei der Abstimmung gehoben worden wären. Die Listen mit den gesammelten Kreuzchen, die Zahl der erhobenen Hände – all das wäre dem Komitee übermittelt worden. Und in dem Maß, in dem die Kampagne an Breite und Tiefe gewonnen und ganz konkret die „Entscheidung“ der offiziellen Gruppe von Vertretern der Petersburger marxistischen Intelligenz faktisch in die Formulierung des Willens des bewussten Petersburger Proletariats verwandelt haben würde, hätte das Komitee langsam beginnen können, von seiner „berufsrevolutionären“ Vereisung aufzutauen und zu versuchen, sich als Führer eines revolutionären Proletariats zu fühlen; das ist ein großes, unglücklicherweise uns wenig bekanntes Gefühl!

Der Kongress hätte begonnen; das Petersburger Komitee hätte ihm die Resolution als Formulierung der Forderungen von 500, 1.000 oder 5.000 Petersburger Arbeitern präsentiert. Die Resolution hätte unter anderem als conditio sine qua non gefordert, Pronin und Stepanow vom Kongress zu verjagen; jeder Arbeiter, der die Resolution unterschrieben gehabt hätte, hätte gewusst, dass dem Kongress seine eigene Forderung präsentiert worden sei und dass der Kongress ihm selbst würde Antwort geben müssen. Wenn der Kongress der Forderung nach dem Ausschluss Pronins und Stepanows dann nachgekommen wäre, hätte jener revolutionäre Arbeiter nicht aufgeregt, mit dem bitteren Gefühl der Unerfülltheit und Kraftlosigkeit, das Fräulein Propagandistin gefragt: Was müssen wir jetzt tun? Er hätte das seine bereits getan.

Die Präsentierung der Resolution auf dem Kongress hätte zwei Möglichkeiten eröffnet: Der Kongress wäre entweder auf die Forderungen der Petersburger Arbeiter eingegangen, hätte die reaktionären Banditen aus seiner Mitte entfernt, in seinem Namen die Forderung des Achtstundentags, der Versammlungs- und Redefreiheit formuliert (und das wäre sehr wahrscheinlich gewesen, da die radikal-demokratische Intelligenz an der Festigung ihres guten Prestiges in den Augen des revolutionären Proletariats interessiert ist) – wenn also der Kongress darauf eingegangen wäre, dann hätten wir den Fall gehabt, dass das Proletariat aktiv als Avantgarde des allgemeinen-demokratischen Kampfes hervorgetreten wäre, durch Initiative und politischen Einfluss die nichtproletarische demokratische Bewegung zu kühneren Schritten und entschlosseneren Forderungen mitreißend. Wenn aber der Kongress seine Legalität und Mäßigung sorgfältiger als seine demokratische Reputation bewahrt und in dieser oder jener Form seine Missachtung der Forderungen der Petersburger Arbeiter ausgedrückt hätte, würden letztere eine anschauliche und unvergessliche Lektion von der Halbheit und Unentschlossenheit der bürgerlichen Opposition erhalten haben. Mit einem Wort, in welcher Art und Weise auch der Kongress auf die Stimme des klassenbewussten Proletariats reagiert hätte, die Anstrengungen des Komitees wären nicht vergeblich untergegangen. Die Arbeiter, die während der „Druckausübung“ auf die radikale demokratische Bewegung erfasst worden wären, hätten gerade dadurch bereits sich von ihr abgesondert, wären bereits interessiert an der Verstärkung ihres eigenen spezifischen Gewichts, wären schon gewohnt, wenn man sich so ausdrücken kann, ihren Klassenkörper zu spüren.

Auf diesem Kongress ging freilich die Welt nicht unter; das war nur ein Beispiel. So dürftig unser gesellschaftliches Leben auch noch ist, es bietet doch eine ganze Reihe von Anlässen zu aktivem politischem Eingreifen durch die Partei des Proletariats.

Nutzte das Petersburger Komitee die letzten Dumawahlen, die dank der Herabsetzung des Wahlzensus mit solcher Lebhaftigkeit stattfanden? Die liberale Presse war von ihnen erfüllt, die Zensusliberalen befestigten ihre Positionen, die „periphere“ Intelligenz organisierte sich um die Wahlagitation. Versuchte das Komitee, in diesem Chor die Stimme des bewussten Proletariats einzubringen? Versuchte es, die Arbeiter in dieser oder jener Form, mit dieser Problematik, der Regierung Plehwe, den reaktionären und liberalen Dumakandidaten, der liberalen Presse, der radikalem Intelligenz gegenüberzustellen? Versuchte es, die bewussten Arbeiter um die Losung: allgemeines, gleiches, unmittelbares Wahlrecht zu vereinigen? Nein, das versuchte es nicht, es kam ihm nicht einmal in den Sinn, dass dies seine Schuldigkeit sei.

Im vergangenen Jahr wurde auf Initiative des Innenministers die Frage des Semstwo-Wahlzensus in den Semstwos erörtert. Die Semzy gaben ihr Gutachten, das bewies, in welch bescheidenem Maße sie bereit waren, das Volk zu einer Beteiligung am politischen Leben eines zukünftigen freien Russland „heranzuziehen“. Die liberale Presse schrie und heulte und schlug mit dem äußersten ihr nur möglichen Radikalismus vor, neben der Herabsetzung des Vermögenszensus einen „Ansässigkeits-“ und „Bildungszensus“ einzuführen. Erhob das Proletariat seine protestierende Stimme gegen diese beiden Zensusarten? Nein, das tat es nicht. Wurde seitens der leitenden Organisationen ein Versuch unternommen, das Proletariat mit der Nase darauf zu stoßen? Keineswegs. Alles, was die Partei zu diesem Ereignis beitrug, war der Leitartikel in Nr. 55 der Iskra: Mit dem Volk oder gegen das Volk? Das Zentralorgan unterschrieb sozusagen mit der Vollmacht des Parteikongresses für das politisch unmündige Proletariat. Haben wir nach solchen Vorfällen auch nur den geringsten Anlass zu der Hoffnung, dass dieses schweigende Proletariat aktiv für die Verteidigung der Interessen des Volkes einzutreten in der Lage und fähig sein wird, wenn die Liberalen in den Semskij Sobor berufen werden, um dort das Volk zu bestehlen? Oder verlassen wir uns darauf, dass die Iskra im Auftrag eines außerordentlichen Kongresses die Liberalen in der entscheidenden Minute auf das allgemeine Wahlrecht „mit der Nase stoßen wird“?

Substitution über Substitution! Wie spurlos für die politische Erziehung des Proletariats verging dieses halbe Jahr Krieg! Und inzwischen gibt der Krieg unserer Partei unersetzliche Möglichkeiten für gesamtrussische politische Kampagnen, weil er das Bewusstsein gerade der niedrigsten Schichten sehr hart trifft. Ein Beispiel: Die Partei stellt sich die Aufgabe, einen oder zwei oder drei Monate die revolutionären Kräfte um die Losung „keinen Groschen für den Krieg!“ zu konzentrieren. Alle Agitation, angeführt von einem politisch überlegenden und wachen Zentrum, bewegt sich auf ein und derselben Linie. In allen Zirkeln und Gruppen, internen Diskussionen und weiten Versammlungen geht die Rede über dieses eine Thema. Das knechtische oder doppeldeutige Verhalten der liberalen Presse (der Moskauer und der Stuttgarter), das verräterische Benehmen von Dumen und Semstwos, die das Vermögen des Volkes mit Kriegskollekten plündern, all das bietet unerschöpfliches Material für eine intensive mündliche und schriftliche Agitation. Wenn der Boden hinreichend vorbereitet ist, organisieren die lokalen Komitees unter Anleitung des politisch überlegenden und wachen Zentrums den gesamtrussischen Protest gegen das schändliche Verhalten der Selbstverwaltungsorgane und der Presse – in Form von Protestresolutionen und, wo möglich, entsprechenden Massendemonstrationen.

Wenn unsere Partei eine, nur eine einzige derartige Kampagne geführt hätte, sie hätte insgesamt Auftrieb bekommen, die notwendigen Leute wären, wie die großen Nüsse beim Schütteln eines Korbes, nach oben gekommen, die dummen Anwürfe über „innere Feinde“ wären verschwunden, die Partei wäre um einen ganzen Kopf größer geworden.
 

Zwei Worte zur Schulung

Mit der Erweiterung und Vertiefung der politischen Aktivität unserer Partei muss auch die Schulung in bedeutendem Maße verändert werden. Die Frage der Schulung war schon immer ein heikler Punkt unserer Arbeit (allerdings, welche Frage ist nicht heikel gewesen bei uns?).

Wir machen die unvergleichliche historische Erfahrung der Schöpfung der Partei des Proletariats im Rahmen des Absolutismus – nicht nur in dessen politischen, sondern auch in seinen gesellschaftlich-historischen Grenzen. Dementsprechend ist die gesamte Geschichte unserer Partei, nach einem bekannten Ausspruch, die Geschichte von Versuchen einer groben Vereinfachung der sozialdemokratischen Aufgaben, die mit innerer Gesetzmäßigkeit nach dem Grad unserer politischen Armut einander ablösen. Die Propaganda der Idee des wissenschaftlichen Sozialismus in kleinen Zirkeln bot sich immer als ein nicht näher spezifiziertes Korrektiv gegenüber diesen spontan auftretenden Vereinfachungen an, nicht selten jedoch in der Art einer Schmuggelware: weder zur Praxis des „Ökonomismus“ noch zu dem sogenannten „Plan“ Lenins gehörte im Prinzip die Zirkelpropaganda als regulärer Bestandteil; die Schulung in den Zirkeln wurde fast immer als der notwendige Tribut betrachtet, den unsere Partei ihrem sozialdemokratischen Charakter entrichtete. „Die Zirkelschulung“, sagt ein polnischer Genosse, gegen die PPS polemisierend, „bleibt unter den Bedingungen der Illegalität sozialrevolutionärer Aktivität auch in Zukunft das hauptsächliche Mittel zur Heranbildung von möglichst vielen intelligenten und erfahrenen Agitatoren und Führern aus den Arbeiterschichten, über denen eine sozialdemokratische Organisation steht.“ [H] Wenn wir es in der Periode des organisatorischen Fetischismus nicht fertiggebracht haben, nach dem Muster der PPS die Zirkelarbeit als Ballast für den konspirativ-zentralistischen Aufbau über Bord zu werfen, so haben wir das zu einem beträchtlichen Teil jenen „kleinen Mängeln“ unseres organisatorischen Apparats zu verdanken, der uns häufig ohne jede Parteiliteratur ließ und uns dadurch zwang, zu den „handwerklerischen“ Methoden der Zirkelschulung Zuflucht zu nehmen. Unsere Propaganda befreien von ihrem abstrakten, oftmals scholastischen Charakter, sie füllen mit lebendigem politischen Inhalt, sie aus den handwerklerischen Überresten herauszuführen zu einem organischen Bestandteil unserer erweiterten und vertieften politischen Arbeit – das ist die Aufgabe, die uns die neue Periode unseres Parteidaseins stellt.

Die Zirkelschulung wird bei uns gewöhnlich geführt – soweit sie geführt wird – nach irgendeinem vom Komitee ausgearbeiteten, sehr komplizierten und niemals erfüllten Programm: Sklaverei – Leibeigenschaft – Lohnarbeit, oder: Bauernbefreiung – Narodnitschestwo – Narodnaja Wolja – industrielle Entwicklung – Sozialdemokratie etc. etc. Die Schulungsleiter (wenigstens die ehrlichen) beklagten sich darüber, dass die Arbeiter schlafen; der Bestand des Zirkels erneuert sich, bevor man endlich bei der Sozialdemokratie angelangt ist; und wenn man mit Mühe zu ihr gelangt ist, beginnt man mit schreckerregenden Abstraktionen und – endet bei ihnen. Der Schulungsleiter versteht nicht, dass er sich mit Politik abgibt und nicht mit Pädagogik, dass in der Politik mehr als irgendwo sonst „jeder Tag seine Plage hat“. Er fühlt und erkennt nicht, dass es seine Aufgabe ist, die Arbeiter seines Zirkels mit dem Arsenal von Fakten und Ideen auszurüsten, das ihnen die Möglichkeit gäbe, sich sofort in allen Ereignissen zu orientieren, die die Stadt, das Land, die ganze Welt bewegen – und nicht nur sich selbst zu orientieren, sondern auch diese Ereignisse mit lebendigem Material in die Agitation einzubringen. Der Schulungsleiter erinnert sich, dass es ihm anvertraut sei, mit den Arbeitern einen „Kurs“ durchzugehen. Und wenn eine internationale Krise, ein internationaler sozialistischer Kongress oder der Krieg zwischen Russland und Japan ihn während der Frage der Bauernbefreiung überrascht, veranlasst er den Krieg, beiseite zu treten und erklärt, als wäre nichts geschehen, weiterhin die Geschichte der Bauernreform – als ob die Arbeiter Schüler wären, die sich durch einen „Kursus“ auf ein Examen vorbereiteten, und nicht politisch aktive Persönlichkeiten! Was Wunder, wenn die Arbeiter offen gähnen? Sie würden nicht gähnen, wenn die Propaganda Bestandteil einer politischen Kampagne wäre, die sie unmittelbar miterleben oder die sie selbst führen müssen.

Doch zitieren wir zunächst zur Charakteristik der Art und Weise, in der die Propaganda aufgebaut ist, eine Abhandlung von einigen „Leitern und Praktikern von Schulungszirkeln“. Nach Darlegung ihres „Programms“, das nicht besser oder schlechter ist als viele Dutzend andere „Programme“, schreiben die Autoren dieser Abhandlung:

„Der Vortrag dieser Lektionen nimmt viel Zeit in Anspruch, da er sich über zwanzig Abende erstreckt. Auf diese Weise verschwendet der Vortragende auf jeden Zirkel mit zehn Arbeitern fünf bis sechs Monate. Indessen beweist die Praxis, dass die Mehrzahl der Zuhörer nicht in der Lage ist, dies in vollem Umfange zu verdauen, und sobald der Vortragende länger bei irgendeiner Frage verweilt, ermüdet die Aufmerksamkeit der Arbeiter und erschlafft ihre Aufnahmebereitschaft, es wird deutlich, dass alle Einzelheiten der Lektion ergebnislos sind, dass man so wenig wie möglich erzählen, kurz gesagt, seine Lektion nahezu in eine agitatorische Rede umwandeln muss. Aber zugleich bekommt man von Seiten der Arbeiter nicht selten eine Bitte folgender Art zu hören: „Wir wollen keine Agitation und keine agitatorischen Reden mehr; wir sind keine Kinder mehr und sind genug mit Schulung traktiert worden“. Es kam vor, dass Arbeiter forderten, im Zirkel mit ihnen den ersten Band von Marx’ Kapital durchzugehen.“ [I]

Und hier die Erklärung eines anderen Schulungsleiters, ebenfalls mit einem eigenen „Programm“ versehen; er schreibt:

„Die ersten zwei bis drei Lektionen gingen ziemlich lebhaft vorüber. Man begriff mich, man stellte mir Fragen, man erwartete von mir sichtlich irgend etwas Neues und Gewaltiges. Nach einiger Zeit jedoch erschlaffte das Interesse mehr und mehr. Sehr häufig kamen nicht alle Mitglieder des Zirkels zu den Lektionen. Diejenigen, die weiterhin kamen, begannen sich passiv zu verhalten. Nicht selten nahm ich auf den Gesichtern den Ausdruck von Langeweile wahr und in den Augen die stumme Frage: Wozu erzählt er uns das alles? Ich bemühte mich, den Tonfall meiner Rede zu verändern, und manchmal, bei irgendeiner besonders schreienden Rechtsverletzung durch Administration oder Regierung, ging ich zur Erläuterung der Missstände unseres ganzen Systems und der unbedingten Notwendigkeit seiner Bekämpfung über. Ich ließ mich selbst mitreißen und sprach lange und heftig. Dann hebe ich die Augen auf meine Zuhörer – und was sehe ich? Vor mir völlig gleichgültige, müde Gesichter. Unsere Arbeiterklasse ist indessen eine zutiefst revolutionäre Kraft: sie strebt und sucht nach Taten. Wie veränderten sich dieselben Arbeiter, wenn ich ihnen von einem aktuellen Kampf ihrer Genossen oder von besonders herausragenden Streiks und Demonstrationen erzählte! Mit welcher Begeisterung vermittelten diejenigen unter ihnen, die selbst an solchen Ereignissen hatten teilnehmen können, ihre Eindrücke!“

Und der Autor folgert:

„Der angesammelten Energie muss man einen Ausfluss geben. Unsere Arbeiter brauchen die Tat, die echte, lebendige Tat; Worte jedoch schläfern sie nur ein.

Sie wissen auch ohne unseren Sermon, dass ihre Feinde die Regierung und die Kapitalisten sind und dass sie sie bekämpfen müssen. Man muss ihnen die Mittel des Kampfes zeigen und sie vorwärts stoßen.“ [J]

So quälen die Schulungsleiter sich zwischen dem agitatorischem und dem Schulungs-Charakter ihrer Lektionen ab in dem vergeblichen Versuch, die Aufmerksamkeit ihrer Zuhörer wachzuhalten; und sie sind der Ursache des Übels schon nahe: Der Gedanke schläft, solange der Wille nicht zu sprudeln beginnt. Wo ist der Ausweg? Wie der Schulung lebendigen Atem einflößen?

Weiter oben sprachen wir vom Kongress über Fragen der technischen und der Berufsbildung; bleiben wir auch hier bei diesem Beispiel: Das Komitee organisiert die weiter oben skizzierte, komplizierte politische Kampagne. Nachdem es diesen Plan in großen Zügen entworfen hat, lässt es ihn durch eines seiner Mitglieder den Schulungsleitern mit der Empfehlung darlegen, diesen Plan prinzipiell auch in den Schulungszirkeln zu erklären. Vertraut darauf, dass bei den nächsten Zirkelversammlungen kein Arbeiter einschläft! Der Schulungsleiter wird sich mit einem Mal nicht als Pauker fühlen, sondern als Politiker: er beteiligt sich aktiv und unmittelbar an komplizierter politischer Arbeit, er hält dem Zirkel eine Vorlesung über den politischen Kampf, wofür er zu Hause alle Kenntnisse, die er über diese Frage besitzt, sorgfältig mobilisiert.

Er berichtet von dem in Vorbereitung befindlichen Kongress, erklärt seinen Sinn und seine Bedeutung; sodann entwirft er den Plan, alle bewussten Elemente des Proletariats um eine bestimmte Adresse an diesen Kongress zu vereinen, er erklärt die Rolle der demokratischen Intelligenz, unser Verhältnis zu den oppositionellen und revolutionären Strömungen; all diese Fragen müssen diskutiert, grundsätzlich beleuchtet und natürlich auf die vorgegebene Ebene des Parteiprogramms zurück bezogen werden. Wenn die Kampagne sich über einige Wochen hinziehen würde, würden ohne Zweifel die Arbeiter bei der folgenden Versammlung mit einer ganzen Reihe von Fragen erscheinen, die unmittelbar aus ihrer agitatorischen Praxis herausgewachsen wären. Die Antworten auf diese Fragen würden nicht an den Ohren vorbeigehen, sondern sich fest im Gedächtnis verankern, weil diese Antworten, die nicht einfach „im Kurs“ vorgesehen sind, aktuell, sofort anwendbar sein würden, um eine große, interessante und überraschende Unternehmung zu Ende zu führen. Im Verlauf einer solchen Schulung füllen sich die durch den II. Kongress verabschiedeten Resolutionen über die Liberalen und der entsprechende Absatz des Parteiprogramms mit lebendigem Fleisch und Blut. Die Arbeiter würden klar sehen, dass Programm und Resolutionen nicht zur Erschwerung, sondern zur Anleitung in größeren und kleineren politischen Kämpfen abgefasst sind.

So würde von einer Kampagne zur anderen das gesamte Parteiprogramm in den Schulungszirkeln „Revue passieren“. Natürlich würde die logische Reihenfolge gestört; aber sie ist von vornherein, bei jedem Schulungssystem, gestört: Die Zirkel lösen sich auf, ihr Bestand erneuert sich, die Schulungsleiter werden arretiert ...

Dort, wo die Organisation sehr schwach ist und einen geringen Einflussbereich besitzt, so dass die Durchführung komplizierter politischer Unternehmungen die Kraft des Komitees übersteigen würde, aber auch in größeren und kräftigen Komitees in Epochen politischer Windstille, dort kann man schließlich die Schulung in der logischen Abfolge irgendeines „Kurses“ aufbauen; aber schwerlich wird ein Komitee ein besseres Programm der Schulungskurse entwickeln als das, welches unser Parteiprogramm repräsentiert. Dieses Programm ist das am besten geeignete, wenn die Kurse in den Zirkeln schon nach einer Schablone abgewickelt werden müssen. Die Lektionen richteten sich nach den aufeinander folgenden Abschnitten des Programms. Die Aufgabe eines solchen Kurses wäre, aus dem Kursteilnehmer ein bewusstes Parteimitglied heranzubilden, das das Parteiprogramm „anerkennen“ (siehe § 1) und infolgedessen vor allem begreifen muss.

Wir wiederholen jedoch, es kann kein besseres Studium des Parteiprogramms geben als das nach lebendigen Mustern, von Ereignis zu Ereignis, jedes Mal mit „nützlich“-politischen Zielen. Nur bei dieser Methode wird die Schulung nicht mehr als Konzession an irgend etwas (den Klassencharakter, den sozialistischen Charakter der Partei) gelten – genau dieses Verhältnis hatten auch die „Ökonomisten“ und ihre Nachfolger zu ihr. Eine solche Schulung würde unseren Organisationen nicht nur die einfachen Ausführungsorgane technischer Funktionen sichern, sondern auch aktive Mitarbeiter der Partei, die nirgends den Mut verlieren.
 

Von der Pädagogik zur Taktik

In dem oben zitierten Brief an die Genossen Schulungsleiter, der 1901 geschrieben wurde, 1902 erschienen ist und seinerzeit wirkungslos blieb, finden wir folgende interessante Zeilen:

„Da die Arbeiter ihr Missvergnügen an der Lage der Dinge ausdrücken, wenn sie Tag für Tag, Monat für Monat zuhören und zuhören, ohne ihre revolutionäre Haltung offenbaren zu können, und sich letzten Endes an das Verprügeln von Spionen machen oder sich in Handgemenge mit ihren Vorgesetzten einlassen, muss ihren Kräften und Energien wenigstens ein Ausfluss gegeben werden. Zu diesem Zweck müssen die Komitees sie in das System der Protest- und Solidaritätsadressen einführen. Anlässlich einer von der Regierung verschwiegenen Hungersnot beispielsweise kann man mehrere Flugblätter herumgehen lassen, die die ganze Höllenarbeit der Regierung zur Verwandlung der Hungersnot in eine Missernte aufdecken, und hierauf eine Proklamation, die die Arbeiter auffordert, schriftlich dagegen zu protestieren; man muss den Text der Protesterklärung aufstellen, ihn in allen Zirkeln verlesen, ihn den Arbeitern zur Unterschriftensammlung (anonymerweise freilich) übergeben und schließlich im Namen des Komitees den Protest veröffentlichen mit Angabe der Zahl der protestierenden Arbeiter. Diese einfache und leichte Arbeit hebt ein wenig die Moral der Arbeiter, und wenn sie hinreichend oft wiederkehrt, bereitet sie auf die Durchführung ernsterer Arbeiten vor. Wenn irgendwo ein Streik ausgebrochen ist, kann man wiederum in gleicher Weise Solidaritätsadressen zusammenstellen, die Nachrichten über den Verlauf des Streiks weit in der Masse verbreiten, unter den Arbeitern sammeln, selbst wenn nur lächerlich geringfügige Beträge zusammenkommen, usw. In einem Wort: protestieren bei jedem Anlass, der einen Protest hervorrufen kann, antworten auf alles, was geeignet ist, unter den Arbeitern Solidarität zu wecken. Weshalb schließlich nicht den Boykott eines unbeliebten Meisters zu organisieren versuchen oder einen Streik um irgendeiner beliebigen Kleinigkeit willen, die der Fabrikant oder der Vorgesetzte leicht zugestehen wird? Die Solidarität, das Gefühl der Kameradschaft, die gegenseitige Unterstützung und alle anderen guten Eigenschaften, von denen zu hören die Arbeiter jetzt langweilt, die aber nur in der Praxis gedeihen, muss man soviel wie möglich üben, um die Arbeiter einzelner Fabriken, Werke und Betriebe zu einer aktiven genossenschaftlichen Masse zusammenzuschließen, die wie ein Echo auf den Hilferuf der Unterdrückten antwortet.

Deshalb schlagen wir den Komitees vor, auf welche Weise man die Arbeiter häufiger auf den Weg aktiver Proteste, Streiks und solidarischer Hilfeleistungen rufen kann, wobei wir fest davon überzeugt sind, dass dies der aktuellen Stimmung der Massen entspricht und glänzende Früchte tragen wird, indem es sie dazu bringen wird, standhaft und gemeinschaftlich zu handeln, und sie lehren wird, auf alle Tagesereignisse zu reagieren.“ [K]

In diesen lehrreichen Zeilen sind die taktischen Aufgaben im eigentlichen Sinne des Wortes noch nicht angesprochen; der Autor empfiehlt ohne Unterschied den Protest gegen die Maßnahmen der Regierung bei einer „Hungersnot“, den Boykott unbeliebter Meister und den Streik um irgendwelcher Kleinigkeiten willen. Aber die Aufgabe, die sich von diesen beiläufigen Hinweisen unterscheidet, kann allgemein als die Entwicklung der Selbsttätigkeit des Proletariats formuliert werden. Wir haben schon darauf hingewiesen, dass dieser Gedanke seinerzeit spurlos vorübergegangen ist, da die Selbsttätigkeit der Arbeiter, sofern sie nicht sogar im Verdacht des „Trade-Unionismus“ stand, für alle nur ein Wort blieb – für viele ein sehr wichtiges und wertvolles, aber eben doch nur ein Wort. [L]

Bei Hauptmann heißt es irgendwo, dass Worte nur bisweilen lebendig würden, im täglichen Leben aber Leichen blieben. So ist es auch mit Parteilosungen und politischen Losungen. Der II. Kongress und eine große Zahl übelster Reibereien in allen Richtungen waren notwendig – die breiten Massen ließen es schweigend geschehen –, damit der Schrei oder nahezu das Stöhnen: Zu den Massen! In die Massen! aus der Brust unserer Partei brach, damit das Wort: Selbsttätigkeit des Proletariats lebendig und, wie wir hoffen, ein lebendiges Losungswort wurde.

Die Fragen der sozialdemokratischen Taktik sind durch die gesamte historische Entwicklung der Partei, welche die dazunotwendigen materiellen und bewusstseinsmäßigen Voraussetzungen schuf, akut geworden; sozialdemokratische Taktik basiert aber auf einer politisch bewussten und politisch aktiven Arbeiterschaft – und man kann sicher sein, dass jetzt jede literarische und praktische Arbeit, welche die Entwicklung der politischen Selbsttätigkeit der Arbeiterklasse verfolgt, nicht spurlos vorübergeht, nicht unterdrückt und niedergetreten wird.

Der Autor des zitierten Briefes an die Genossen Schulungsleiter nimmt sich jene Ziele vor, auf die wir oben mit psychologischen Begriffen hingewiesen haben: die Erziehung des Bewusstseins und die Erziehung des Willens des Proletariats. Das sind, wir wiederholen es, im eigentlichen Sinne des Wortes noch keine taktischen Aufgaben: der Boykott unbeliebter Meister, der Streik um Kleinigkeiten, der Protest gegen die „Höllenarbeit“ der Regierung während einer Hungersnot – all diese „Erscheinungen“ haben nach den Vorstellungen des Autors gleicherweise den mehr pädagogischen als politischen Aufgaben zu dienen, die nach seiner Sicht von den sozialdemokratischen Organisationen geleistet werden müssen. Der Zusammenschluss der Arbeiter mit dieser oder jener Losung wird ausschließlich von subjektiv-psychologischen, nicht aber von objektiv-politischen Resultaten her bewertet.

In der Phase des Übergangs vom („handwerklerischen“) Zirkelwesen zum Leben einer politischen Partei werden jene prinzipiell neuartigen taktischen Methoden, auf die die Reflexion einzelner Parteiarbeiter gestoßen wird, noch in sich selbst unter dem alten „handwerklerischen“ pädagogischen, nicht aber politischen Blickwinkel bewertet. Und dieser eingeengte Blickwinkel ist lediglich das Ergebnis der Beschränktheit der materiellen und ideellen Ressourcen, über welche die Parteiorganisationen in der Übergangsperiode verfügen. Für uns jedoch ist es im gegebenen Fall bemerkenswert, dass die Reflexion, die sich nicht mit Zirkelschulung und Literaturverteilung begnügt, nach solchen Formen der Einwirkung auf die Massen sucht, die in sich selbst die Möglichkeit einer Weiterentwicklung und einer Umwandlung von pädagogischen Methoden in taktische einschließen.

In einigen der „handwerklerisch“-pädagogischen Ratschläge, die der Autor des Briefes gibt, verbergen sich wie die Ähre im Korn neuartige Methoden politischer Taktik. Die Quantität schlägt auch hier in Qualität um.

In der Tat: der Protest der Arbeiter gegen das Verhalten der Regierung während einer Hungersnot wird eine rein „pädagogische“ Maßnahme bleiben, wenn er in irgende iner Stadt aus irgendeiner Hundertschaft Arbeiter hervorgeht, und er wird politische Bedeutung erlangen, wenn er als anwachsende Woge durch ganz Russland rollt und Tausende und Zehntausende protestierender Proletarierstimmen vereint. Zu diesem massenhaften Protest die Studentenschaft und alle aufrichtigen Staatsbürger aufzurufen wird ein weiterer Schritt des politisch überlegenden und wachen Zentrums sein, das um sich herum alle lebendigen Kräfte der Partei geschart hat. Der folgende Schritt wird der Protest des revolutionären Proletariats gegen das knechtische Schweigen der liberalen Presse sein, die es sogar angesichts einer gewaltigen Katastrophe des Volkes nicht wagt, die Gebote der Zensur zu überschreiten. Weiter kann ein Aufruf an alle permanenten und temporären gesellschaftlichen Institutionen der herrschenden Klassen folgen, auf diese oder jene Weise ihre Stellung zur Taktik der Regierung zu formulieren, und schließlich muss es zum Protest der revolutionären Massen kommen, wenn diese gesellschaftlichen Institutionen, vor allem Semstwos und Dumen, in Schweigen verharren.

Das ist auch der Weg, die bewussteren Schichten des Proletariats den Institutionen der herrschenden Klassen in demselben Prozess des allgemein-demokratischen Kampfes gegen den Zarismus politisch gegenüberzustellen; vor allem auf diesem Wege können wir unserem politischen Kampf seinen Klassencharakter verleihen.

Im gewerkschaftlichen Kampf stoßen einzelne Gruppen von Arbeitern mit einzelnen Kapitalisten zusammen; im politischen Kampf stößt das Proletariat mit der Autokratie zusammen. In Opposition zur Autokratie stehen jedoch auch weite Kreise der Bourgeoisie, die in Russland noch nicht als herrschende Klasse erscheint; die Regierung stellt noch nicht wie in den parlamentarischen Ländern ein Exekutivkomitee der Bourgeoisie dar. Deshalb ist auf politischer Ebene der breite Kampf gegen sie für uns jetzt noch nicht möglich. Indessen verleiht doch gerade dieser Kampf der Bewegung des Proletariats seinen Klassencharakter. Erst das zukünftige freie Russland, in dem wir (und nicht die Herren „Sozialisten-Revolutionäre“ beispielsweise) natürlich die Rolle der oppositionellen, nicht aber der herrschenden Partei werden spielen müssen, wird die Möglichkeit bieten, den Klassenkampf des Proletariats in ganzer Breite und in vollem Ausmaß zu entfalten. Aber damit der Kampf des Proletariats unter Leitung der Sozialdemokratie um dieses „freie Russland“ es vorbereitet für den Kampf um die Diktatur, ist es schon heute unbedingt notwendig, das Proletariat all den permanenten und temporären Institutionen der Klasse, die morgen am Staatsruder stehen wird, gegenüberzustellen. Die einzige prinzipiell-theoretische Gegenüberstellung im Programm oder die allein publizistische in der Parteipresse ist nicht hinreichend: Unumgänglich ist die lebendige Gegenüberstellung in der politischen Realität. Darin besteht auch das „Neue“, das wir in unsere Parteitätigkeit hinein tragen wollen.

P. B. Axelrod führt seit einer ganzen Reihe von Jahren eine Mundpropaganda für die neuen taktischen Aufgaben und bereitet auf diese Weise die notwendige psychologische Grundlage im Bewusstsein der an der Spitze der Bewegung stehenden Genossen vor. Genosse Axelrod hat erkannt, dass die Partei unmittelbar an diese Aufgaben heranzutreten nur dann in der Lage ist, wenn sie sich organisiert, d. >h. die Voraussetzungen für eine vereinheitlichte Aktivität aller ihrer Teile geschaffen hat. Während der gesamten Periode der Iskra ließ er nicht ab von dieser seiner „handwerklerischen“ Propagierung nicht-handwerklerischer Methoden und setzte in dieser Hinsicht die größten Hoffnungen auf den Kongress. [M] Aber – „jeder Tag hat seine Plage“ – die Genossen, mit denen Axelrod über die Fragen der politischen Taktik diskutiert hatte, waren entweder formal mit ihm einverstanden, weil sie sich über die tatsächliche Bedeutung seiner Worte nicht klar geworden waren, oder sie widersprachen ihm, indem sie auf die Neuheit und Kompliziertheit solcher Ideen, auf ihre Unvereinbarkeit mit den polizeilichen Bedingungen in Russland verwiesen und die unbedeutende politische Rolle der Semstwos und Dumen, auf die eine solche Taktik abziele, betonten. All diese Überlegungen, welche Teilwahrheit in jeder von ihnen auch enthalten gewesen sein mag, können keinen Einwand gegen die von Axelrod formulierten taktischen Aufgaben bilden.

  1. Die konspirativen Bedingungen können die Organisierung komplizierter politischer Kampagnen nicht stärker behindern als die Organisierung von Streiks und Demonstrationen. Es genügt hier daran zu erinnern, dass die ersten Schulungsleiter unter Verweis auf die politischen Bedingungen die Schulung in den Massen einzustellen gedachten, und dass die „Ökonomisten“ dieses Argument gegen die „unsinnige Idee“ politischer Demonstrationen anführten.
     
  2. Die neuen Arbeitsmethoden bedeuten ebenso wenig ein „Risiko“ wie Bruch mit den alten, schon bewährten und bekannten Kampfmethoden um neuer und unbekannter willen, sondern lediglich die kompliziertere Kombination dieser alten Methoden: der Schulung, der mündlichen und schriftlichen Agitation, der Leitung von Massen„aktionen“.
     
  3. Die Rolle der Semstwos und Dumen, besonders die der Semstwos, wird in einer revolutionären Periode zunehmen. Die Partei der Zensusliberalen sieht mit großer Wahrscheinlichkeit in den Semstwos den „Felsen, auf dem die zukünftige Kirche erbaut werden wird“. Der Kampf um das allgemeine Wahlrecht vor und nach der Liquidierung der Autokratie kann sich folglich sehr leicht in direkten Kampf gegen Wahlzensus für Semstwos und Dumen verwandeln. Es ist unsere Pflicht und Schuldigkeit, uns für den Kampf auf dieser Ebene vorzubereiten.

Welch unbedeutende Rolle die Semstwos, Dumen, Kongresse, die liberale Presse und alle anderen Institutionen der bürgerlichen Klassen als aktive Kräfte im Kampf gegen den Zarismus auch spielen mögen – sie sind alles, was wir an unmittelbarer Organisierung des politischen Willens der Bourgeoisie besitzen. Es wäre ein Frevel, all diese konkreten Ansatzpunkte für die politische Selbstbestimmung des Proletariats, die uns das bestehende Regime einräumt, zu ignorieren; das hieße, darauf zu verzichten, etwas Geringeres zu tun, weil man Größeres nicht tun kann.

Jedenfalls ist der Versuch, die Ergebnisse taktischer Methoden im Voraus festzulegen, völlig unfruchtbar – taktischer Methoden, zu denen wir sowohl durch die innere Entwicklung unserer Partei wie auch durch die allgemeine politische Lage des Landes gedrängt wurden. Zu der Zeit jener allgemeinen Aufrechnung der politischen Kräfte, die die Periode der Revolution darstellen wird, wird die Geschichte selbst die Summe aus dem von uns Erreichten ziehen. Sie wird vorher weder Abstriche machen noch etwas hinzufügen. Es besteht kein Zweifel daran, dass sie auf diese oder jene Weise das kleinste Krümelchen von Klassen-Selbstbewusstsein und Klassen-Selbsttätigkeit, das von uns in die proletarische Bewegung eingebracht wurde, berücksichtigen muss. Also, an die Arbeit!

Hoch die Selbsttätigkeit des Proletariats – Nieder mit der politischen Substitution!
 

Nieder mit der politischen „Substitution“!

Wir wünschen – bei aller besonderen Ausführlichkeit der oben dargelegten Beispiele –, dass die Genossen den prinzipiellen Unterschied der zwei Arbeitsmethoden nicht übersehen. Dieser Unterschied hat, auf seinen Kern zurückgeführt, entscheidende Bedeutung für die Bestimmung des Charakters unserer gesamten Parteiarbeit. Die eine besteht in der Übernahme des Denkens für das Proletariat, in der politischen Substitution des Proletariats, die andere in der politischen Erziehung des Proletariats, seiner politischen Mobilisierung, für einen zweckgemäßen Druck auf den Willen aller politischen Gruppen und Parteien. Und diese beiden Methoden haben ganz verschiedene objektive politische Resultate. Wenn der Sozialdemokrat versucht, durch seine eigene Initiative die liberale Opposition „vorwärts zu stoßen“, dann stützt sich all sein Erfolg auf die politische Mentalität dieser Opposition; das jedoch bestimmt schon im Voraus das geringe Ausmaß des „Erfolgs“. Seine Initiative, sei es in Form einer Proklamation oder in Form eines „konspirativen“ Ratschlags hinter den Kulissen der politischen Szene, wird so weit in Betracht gezogen werden, als sie der Stimmung und dem Denken des liberalen Auditoriums entspricht. Mit anderen Worten, der Sozialdemokrat figuriert hier in den Augen der Liberalen als Demokrat mit marxistischen Vorurteilen.

Ein ganz anderes Bild ergibt sich, wenn der Liberale im Sozialdemokraten den Vertreter einer realen Kraft sieht – möge sie auch nur aus einigen tausend Arbeitern bestehen. Wenn ein politisches Ereignis nicht auf jenem Weg eintritt, der von der politischen Logik und Mentalität des Liberalismus diktiert wird, dann wird das in einer neuen Richtung geschehen, die das Resultat des Hinzutretens einer zweiten Kraft, der politischen Logik und Mentalität des bewussten Proletariats ist. Der Sozialdemokrat wird sich in seiner Initiative nicht auf die Mentalität seines temporären „Mitarbeiters“ stützen; er wird dieser Mentalität nur Rechnung tragen und sich stützen auf die organisierte Meinung des Proletariats. Er wird vor den Liberalen nicht als Demokrat mit marxistischen Vorurteilen erscheinen, sondern als Vertreter der demokratischen Forderungen des Proletariats.

Die Taktik unserer Komitees, die sich von Zeit zu Zeit (hinter dem Rücken des Proletariats) mit Aufrufen oder enthüllenden Proklamationen an die Studentenschaft, die Semstwos, Dumen oder die verschiedenen Kongresse wenden, hat viel mit der Taktik der liberalen Semstwos gemein, die sich bei der Autokratie „für das Volk verwenden“. Die führenden sozialdemokratischen Gruppen, die das Proletariat substituieren, verstehen nicht, dass wir das Proletariat zur „Demonstration“ seines Klassenwillens gegenüber der liberalen und radikalen demokratischen Bewegung ebenso heranziehen müssen, wie wir es zur Demonstration seines revolutionären Demokratismus gegenüber der Autokratie heranziehen.

Unsere Komitees, die das Proletariat substituieren, verwenden sich, statt das gesellschaftliche Bewusstsein des Proletariats für einen direkten Druck auf die gesellschaftliche Ideologie der Bourgeoisie zu organisieren, in ihren Proklamationen vor dieser bürgerlichen demokratischen Bewegung für „ihr“ Proletariat. Manchmal wird die Kraftlosigkeit dieser Petitionen überdeckt von ihrer „rauen“ Form, den „bourbonischen“ Tadel der „Halbheit“ und „Unentschlossenheit“ – Aufrufe, die auf niemanden mehr Eindruck machen und die Herren gebildeten Liberalen nur zu ironischem Schulterzucken veranlassen. [N]

Unser sogenanntes „Vorwärtsstoßen“ der Liberalen wird um so weniger eine Petition an die Liberalen sein, auch nicht in Form eines kühnen „Tadels“, je mehr wir lernen, das Proletariat in aktiver Tätigkeit (Petition, Resolution, Protest, Meeting, Demonstration) zu sammeln – nicht nur um allgemein-demokratische Ziele, sondern auch um klare eigene Losungen, die im gegebenen politischen Moment vom Klassenstandpunkt bestimmt werden, – nicht nur gegen Polizei und Autokratie, sondern auch gegen die „Unentschlossenheit und Halbherzigkeit“ der Liberalen. Unser tatsächlicher und nicht fiktiver Einfluss auf die Politik des Liberalismus wird um so ernster zu nehmen sein, je weniger wir „in alle Klassen der Bevölkerung gehen“ und dabei aus dem Proletariat heraustreten – wozu unsere politischem Komitees fatalerweise sich anschicken.

Es ist unerlässlich, den Gedanken, so schlicht er auf den ersten Blick auch scheinen mag, in seinem ganzen Inhalt zu begreifen: dass wir auf das politische Leben nur durch das Proletariat, nicht aber in seinem Auftrag Einfluss nehmen können; dass wir folglich nicht „in alle Klassen der Bevölkerung gehen“ dürfen, sondern, wenn schon eine lapidare Formel nötig ist, das Proletariat in alle Klassen gehen muss. Genosse Axelrod hebt diesen Gedanken in seinen Artikeln aus dem Jahre 1897 hervor:

„Um Einfluss auf diese (unter völliger Desorganisation leidenden) Schichten zu gewinnen, besteht für die Sozialdemokraten durchaus nicht die Möglichkeit, zur Einwirkung auf den Lebenskreis dieser Schichten überzugehen. Die Aufgabe der russischen Sozialdemokraten, Anhänger und unmittelbare oder mittelbare Bundesgenossen in nichtproletarischen Klassen zu gewinnen, wird vor allem und hauptsächlich durch den Charakter der agitatorischen und propagandistischen Aktivität im Lebenskreis des Proletariats selbst gelöst.“ [O]

Das System der politischen Substitution geht ebenso wie das System der „ökonomistischen“ Vereinfachung bewusst oder unbewusst aus einem falschen, sophistischem Verständnis des Verhältnisses der objektiven Interessen des Proletariats zu seinem Bewusstsein hervor. Der Marxismus lehrt, dass die Interessen des Proletariats von seinen objektiven Existenzbedingungen bestimmt werden. Diese Interessen sind so gebieterisch und unabwendbar, dass sie das Proletariat zu guter Letzt veranlassen, sie in den Bereich seines Bewusstseins zu überführen, das heißt, seine objektiven Interessen mit seinem subjektiven Bedürfnis zu erreichen. Zwischen diesen beiden Faktoren – dem objektiven Faktum seines Klasseninteresses und seinem subjektiven Bewusstsein – liegt der Weg der in der Realität unabwendbaren Stöße und Schläge, Irrtümer und Enttäuschungen, Wechselfälle und Niederlagen. Für die taktische Weisheit der Partei des Proletariats liegt die ganze Aufgabe zwischen diesen beiden Ebenen; sie besteht in der Verkürzung und Erleichterung des Weges von der einen zur anderen.

Allerdings können die Klasseninteressen des Proletariats, unabhängig von der politischen Konjunktur und besonders auch von dem Bewusstseinsniveau der arbeitenden Massen, zu einem bestimmten Zeitpunkt auf diese Konjunktur nicht anders Druck ausüben als über das Bewusstsein des Proletariats. Mit anderen Worten, auf dem politischen Markt kann die Partei aus Berechnung [P] nicht die objektiven Interessen des Proletariats, die sich auf theoretischem Weg herausgebildet haben, vertreten, sondern nur den bewussten organisierten Willen des Proletariats.

Wenn man die „prähistorische“ sektiererische Zirkelperiode jeder sozialdemokratischen Partei beiseite lässt, in der sie unvermeidlich in ihren Methoden weit mehr dem utopisch-aufklärerischen als dem revolutionär-politischen Sozialismus sich nähert, in der sie nur sozialistische Pädagogik kennt, aber keine politische Taktik, und sich an die Partei wendet, die aus dieser Kindheitsperiode schon herausgetreten ist, zeigt sich uns ihre gesamte politische Arbeit nach folgendem Schema: Die Partei stützt sich auf das gegebene Bewusstseinsniveau des Proletariats und schaltet sich in jedes große politische Ereignis mit dem Bemühen ein, die Entwicklungslinie zu den unmittelbaren Interessen des Proletariats hin zu lenken und, noch wichtiger, mit dem Bemühen, dies mit einer Erhöhung des Bewusstseinsniveaus zu erreichen, um sich sodann auf dieses erhöhte Bewusstheitsniveau zu stützen und es erneut für jenes zweifache Ziel einzusetzen. Der Augenblick unseres entscheidenden Sieges wird herannahen, wenn wir den Abstand, der zwischen den objektiven Interessen des Proletariats und seinem subjektiven Bewusstsein liegt, überwinden werden – konkret gesprochen, wenn ein so großer Teil des Proletariats zum Verständnis seiner objektiven sozial-revolutionären Interessen gelangt, dass er durch seine politisch organisierte Kraft jedes konterrevolutionäre Hindernis aus seinem Wege räumen kann.

Je größer der Abstand, der die objektiven und subjektiven Faktoren trennt, das heißt, je niedriger die politische Kultur des Proletariats, desto natürlicher das Erscheinen jener „Methoden“ in der Partei, die sich in dieser oder jener Form gegenüber der kolossalen Schwierigkeit der vor uns liegenden Aufgabe als passiv erweisen. Wie der politische Selbstverzicht der „Ökonomisten“, so ist auch die politische Substitution ihrer Antipoden nichts anderes als der Versuch einer jungen sozialdemokratischen Partei, die Geschichte zu überlisten. Natürlich sind die Ökonomisten wie auch die „Politiker“ in Wirklichkeit weit weniger konsequent als in unserer schematischen Darstellung – und diese Inkonsequenz erlaubt es auch dem einen oder anderen, eine sehr progressive Rolle in der Entwicklung unserer Partei zu spielen. Wenn wir den grundsätzlichen Irrtum“ des „Ökonomismus“ oder der politischen „Substitution“ charakterisieren, müssen wir zum großen Teil über eine Möglichkeit sprechen, die Realität werden würde, wenn sie nicht auf Gegenaktionen stieße. Mit diesem Vorbehalt soll die folgende Gegenüberstellung gemacht werden.

Die „Ökonomisten“ gingen von den subjektiven Interessen des Proletariats aus, wie sie im jeweiligen Zeitpunkt der Entwicklung gerade vorhanden waren; sie stützten sich auf diese Interessen, deren sorgfältige Registrierung sie als ihre einzige Aufgabe betrachteten. Die Lösung der Aufgaben, die den Inhalt unserer Taktik bilden müssen, übertrugen sie dem natürlichen Gang der Dinge, aus dem sie sich einstweilen selbst ausgeschlossen hatten. Im Gegensatz zu den „Ökonomisten“ nahmen die „Politiker“ als Ausgangspunkt die durch die marxistische Methode analysierten objektiven Klasseninteressen des Proletariats. Sie wichen mit der gleichen Ängstlichkeit wie die „Ökonomisten“ vor dem „Abstand“ zurück, der zwischen den subjektiven und objektiven Interessen der Klasse besteht, die sie prinzipiell „vertreten“. Ebenso wenig wie für die „Ökonomisten“ existieren für sie Fragen der politischen Taktik im eigentlichen Sinne des Wortes, sondern da ist einmal auf der einen Seite die historisch-philosophische Forschung, die die Tendenzen der gesellschaftlichen Entwicklung offenlegt, und auf der anderen Seite die Ergebnisse dieser Forschung, die sich bereits in „unser“ prinzipielles Guthaben verwandelt haben und von uns stellvertretend weitergedacht worden sind; es bleibt nur übrig, die Schlussfolgerungen, zu denen wir gelangt sind, der Geschichte gleich Wechseln zur Diskontierung zu präsentieren. Wenn die „Ökonomisten“ auf diese Weise das Proletariat nicht führen, weil sie hinter ihm hertrotten, führen auch die „Politiker“ das Proletariat nicht, weil sie selbst seine Verpflichtungen zu erfüllen suchen. Wenn die „Ökonomisten“ sich vor den kolossalen Aufgaben drücken, indem sie sich der bescheidenen Rolle zuwenden, am Schwanz der Geschichte zu marschieren, lösen die „Politiker“ die Frage dadurch, dass sie die Geschichte zu ihrem eigenen Schwanz machen.

Man muss allerdings hinzufügen, dass diese „Substitution“ uns als Revolutionären weit weniger eigentümlich ist denn als revolutionären Sozialdemokraten. In der ersten Rolle fällt uns die „Überlistung“ schwer: Die Geschichte, die eine bestimmte Aufgabe auf die Tagesordnung gesetzt hat, folgt uns scharfsichtig. Wir revolutionieren die Masse schlecht oder gut (mehr schlecht), indem wir in ihr elementarste politische Instinkte wecken. Aber soweit es sich um die komplizierte Aufgabe handelt, diese Instinkte in das bewusste Streben einer politisch sich selbst bestimmenden Arbeiterklasse umzuwandeln, nehmen wir unsere Zuflucht zu den verkürzten und vereinfachten Methoden des stellvertretenden Denkens und der Substitution.

In der inneren Politik der Partei führen diese Methoden, wie wir noch sehen werden, dazu, dass die Parteiorganisation die Partei selbst, das ZK die Parteiorganisation und schließlich ein Diktator das ZK ersetzt; weiterhin führen sie dazu, dass die Komitees die „Richtungen“ schaffen und wieder abschaffen, während „das Volk stumm bleibt“. In der äußeren Politik erscheinen diese Methoden in den Versuchen, mit der abstrakten Gewalt der Klasseninteressen des Proletariats, nicht aber mit der realen Gewalt des seiner Klasseninteressen bewussten Proletariats auf andere gesellschaftliche Organisationen Druck auszuüben. Diese „Methoden“ setzen, wie wir gesehen haben, die Identifikationen a priori des prinzipiell von uns akzeptierten Programms mit dem Inhalt unserer Parteiarbeit voraus. Im Endergebnis lassen diese Methoden die Fragen der politischen Taktik der Sozialdemokratie vollkommen unter den Tisch fallen. Genosse Lenin bescheinigt das dokumentarisch in einer These, an der man nicht wortlos vorübergehen kann. In einer Antwort an den Genossen Nadeschdin, der sich über die fehlenden Wurzeln in der Tiefe beklagt, schreibt er:

„Sie sind der Gipfel der Unvernunft, denn der Verfasser verwechselt die philosophische und die sozial-historische Frage nach den „Wurzeln“ der Bewegung in der „Tiefe“ mit der technisch-organisatorischen Frage, wie der Kampf gegen die Gendarmen besser zu führen ist.“ [Q]

Genosse Lenin schätzt diesen Gedanken so hoch, dass er ihn in seine neue Broschüre übernimmt:

„Wer sich, um die organisatorische Verschwommenheit zu rechtfertigen, um die Verwechslung von Organisation und Desorganisation zu rechtfertigen, darauf beruft, dass wir die Partei der Klasse sind, der wiederholt den Fehler Nadezdins, der die „philosophische und die sozial-historische Frage nach den ‚Wurzeln‘ in der ‚Tiefe‘ mit der technisch-organisatorischen Frage“ verwechselte.“ [R]

Die Frage nach den „Wurzeln in der Tiefe“ ist somit für den Genossen Lenin keine Frage der politischen Taktik, sondern eine Frage der philosophischen Doktrin. Wenn unsere Doktrin, der Marxismus, uns die „Wurzeln in der Tiefe“ garantiert, bleiben nur technisch-organisatorische Aufgaben zu erfüllen. Dem Genossen Lenin reicht das eine kleine Glied, der Inhalt unserer Parteiarbeit, zwischen der philosophischem und der „technisch-organisatorischem Aufgabe nicht aus. Indem er die Frage der Taktik in der philosophischen Frage untergehen lässt, erkauft er sich das Recht, Parteipraxis und Parteiprogramm inhaltlich zu identifizieren. Er will gar nichts darüber wissen, dass wir keine philosophischem Wurzeln in der Tiefe brauchen (welch blühender Blödsinn! Als ob der Medizinmann irgendeiner Sekte vom philosophischem Standpunkt aus diese oder jene Wurzel in der Tiefe hätte!), sondern lebendige politische Wurzeln, den lebendigen Kontakt mit der Masse, der uns erlauben würde, in jedem entscheidenden Moment diese Masse um eine Fahne zu scharen, die sie als ihre eigene kennt. Die organisatorischen Aufgaben ordnen sich deshalb für uns vollständig den Methoden unserer politischen Taktik unter; die Identifikation der organisatorischen Frage der proletarischen Partei mit der technischen Frage „des verbesserten Kampfes mit der Gendarmerie“ würde den völligen Bankrott bedeuten. Den völligen Bankrott! – Wenn diese Identifikation nämlich „sich anbietet für die Bedingungen konspirativer Arbeit“, so heißt das – wie Genosse Parvus in einigen energischen, dem Leninschen System gewidmeten Worten schreibt –, dass „über dem Kampf gegen die Spitzel der Kampf gegen den Absolutismus und erst recht der große Kampf um die Befreiung der Arbeiterklasse übersehen“ wird.

Die organisatorischen Aufgaben ordnen sich für uns den Methoden der politischen Taktik vollständig unter. Darin liegt auch der Grund, dass diese Broschüre, deren Ansatzpunkt die Meinungsverschiedenheiten über die „organisatorische Frage“ bilden, von den Fragen der Taktik ausgeht. Um die organisatorischen Meinungsverschiedenheiten zu verstehen, muss man aus ihrem Rahmen heraustreten – sonst erstickt man in scholastischen Wortgefechten.

* * *

Anmerkungen

A. Otserki po istorii sotsialistitscheskago dwisenija w russkoj Polse. (Studien über die Geschichte der sozialistischen Bewegung in Russisch-Polen), Isdanie „Proletariata“ 1904, S. 129 f.

B. ebd., S. 130.

C. ebd., S. 190.

D. Genosse Lenin wird natürlich sagen, dass dies eine Verleumdung sei. Er verweist uns in Ein Schritt vorwärts ... auf Nr. 43 der Iskra, aus der wir ersähen, dass schon im Jahre 1903 „... die Überspitzungen der Politiker ... als augenscheinlicher Atavismus betrachtet“ werden. (???) (Schag wperjod ..., S. 141) Suchen wir, dem Hinweis des Genossen Lenin folgend, die Nr. 43 der Iskra, so finden wir den Artikel: Über die agitatorischen Aufgaben unserer Partei (Brief an die Redaktion) und lesen:

„Die politische Agitation hat in der letzten Zeit bei uns zu abstrakten Charakter angenommen, war zu wenig mit dem konkreten Leben und den täglichen Bedürfnissen der Arbeitermasse verbunden ... Unsere politische Agitation verwandelt sich in pure politische Deklamation. Ohne Einbeziehung der breiten Massen ist es unmöglich, eine politische Massenbewegung zu schaffen. Nur durch Erweiterung der Basis unserer politischen Bewegung mittels der Erweckung der breiten Masse des Volkes zu selbständigem politischen Leben kann unsere Partei von Neuem stark werden. In dieser Arbeit darf man die beruflichen Interessen der Arbeiter und den beruflichen Kampf nicht ignorieren.

Wir müssen erneut die breite syndikalistische Massenbewegung erwecken ... Jedoch weder das Komitee von Baku während der ganzen Zeit seines Bestehens noch das Komitee von Tiflis (der Brief wurde aus dem Kaukasus geschrieben) traten mit auch nur einem syndikalistischen Flugblatt hervor.“

Von diesen Zeilen werden, wie wir hoffen, endgültig alle davon überzeugt, dass schon im Juli 1903 „die Überspitzungen der Politiker ... als augenscheinlicher Atavismus betrachtet“ werden (von wem??). So unsauber schreibt Genosse Lenin Geschichte. In jedem Falle gibt er uns das Recht, ihm einige Fragen zu stellen: wenn man die „Überspitzungen der Politiker“ schon in Nr. 43 der Iskra als „augenscheinlichen Atavismus“ betrachtet, so heißt das doch, dass diese „Überspitzungen“ vorhanden waren? In welcher Periode? Vielleicht in der Periode der Iskra? Worin offenbarten sich die „Überspitzungen der Politiker“? Wer kämpfte mit ihnen, und auf welche Weise? Oder wurden wir, entgegen der gesamten Erfahrung unserer Partei, mit den „Überspitzungen der Politiker“ ohne jeden literarischen Kampf fertig? Wenn Genosse Lenin über diese interessanten Fragen nachdenkt (nachdem er vorläufig eingestanden hat, einen unrichtigen Verweis auf Nr. 43 der Iskra gegeben zu haben), dann wird er vielleicht begreifen, dass die „Minderheit“ den ideellen Kampf mit den „Überspitzungen der Politiker“ eröffnete, die immer mehr (siehe das Manifest vom Ural und die Broschüre Ein Schritt vorwärts ...) alle theoretischen und politischen Eroberungen der internationalen Sozialdemokratie zum „augenscheinlichen Atavismus“ zu erklären drohen. Der Brief in Nr. 43, auf den Lenin sich so unvorsichtig bezieht, ist gerade dadurch bemerkenswert, dass er noch vor dem Kongress [Gemeint ist der II. Parteikongress] versuchte, ohne von der Position der Iskra auszugehen, den Finger auf die wunden Stellen unserer Parteipraxis zu legen, die sich im Verlauf und als Resultat der sogenannten „Liquidierung der dritten Periode“ ergaben. (N. Lenin, Schluss, Was tun?).

1. Ist das ein Druckfehler für „Siegel“?

E. N. Lenin, Schag wperjod ..., S. 146.

2. N. Lenin, Womit beginnen?.

3. N. Lenin, Was tun?.

F. N. Lenin, Tschto delat?, S. 125 f.

4. N. Lenin, Schluss, Was tun?<7b>

G. Es handelt sich um den 3. Kongress über Fragen der technischen und Berufsbildung.

5. N. Lenin, Was tun?.

H. Otserki po istorii sotsialistitscheskago dwisenija w russkoj Polse (Studien über die Geschichte der sozialistischen Bewegung in Russisch-Polen), S. 188.

I. Pismo k towarischtscham-propagandistam (Brief an die Genossen Schulungsleiter), Isdanie (Ausgabe) 1902, S. 6.

J. ebd., S. 21 f.

K. Pismo k towarischtscham-propagandistam, S. 15.

L. Eine glänzende Ausnahme bildete der Genosse Nadeschdin; leider tat er fast alles, um sich von der Partei zu isolieren und eine eigene Einflussmöglichkeit auszuschließen.

M. Siehe Otschet Sibirskoj Delegatsii (Bericht der Sibirischen Delegation) und die Protokolle des II. Kongresses der RDSRP, Rede Axelrods, S. 360.

N. „Wir haben ... die illegale Semstwotagung begrüßt, wobei wir die Semstwoleute anspornten (sic!!!), von den knechtseligen Petitionen zum Kampf überzugehen; ... wir haben die protestierenden Statistiker ermuntert ... und die Streikbrecher unter den Statistikern angeprangert (sic!)“ Tschto delat?, S. 71 [N. Lenin, Tschto delat?, S. 71; V. I. Lenin, Was tun?, LAW I, S. 224 f.] Das ist es, was wir zusammen mit dem Genossen Lenin machten! Es fehlte wenig – und wir hätten begonnen, Mond- und Sonnenfinsternisse anzuspornen.

O. P. B. Axelrod, K woprosu o sowremennych sadatschach i taktike russkich sotsial-demokratow. (Zur Frage der gegenwärtigen Aufgaben und der Taktik der russischen Sozialdemokratie.), S. 16, kursiv von Axelrod.

P. Anmerkung für Misstrauische: Wenn wir von „Berechnung“ sprechen, haben wir natürlich nicht die partielle Realisierung des Sozialismus im Blick, die der stufenweise sich durchsetzenden Erkenntnis sozialistischer Zielvorstellungen beim Proletariat entspricht, sondern eine partielle Beeinflussung der politischen Umwelt, die sich vornehmlich auf ihre weitere Differenzierung richtet und das Eintreten der sozialistischen Revolution beschleunigt.

Q. Tschto delat?, S. 91.

R. Schag wperjod ..., S. 42.


Zuletzt aktualiziert am 1. November 2024