August Thalheimer

 

Zurück in die Eierschalen des Marxismus?

Zum Existentialismus als bürgerliche Philosophie

(1946)


August Thalheimer, Zurück in die Eierschalen des Marxismus. Zum Existentialismus als bürgerliche Philosophie, Gruppe Arbeiterpolitik.
Kopiert mit Dank von der jetzt verschwundenen Webseite der Marxistischen Bibliothek
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


1. Noch mehr Konfusion?

Es ist eine undankbare, aber dennoch nicht abzuweisende Aufgabe, die jüngsten Versuche, den Marxismus durch die „Phänomenologie“ zu ergänzen, kritisch zu beleuchten.

Undankbar, weil die bürgerliche Philosophie nach Ludwig Feuerbach keinen positiven wissenschaftlichen Gehalt mehr hat (wenn man absieht von der mathematischen Behandlung der Logik und der Zutageförderung und kritischen Bearbeitung von neuem Material durch die Historiker der Philosophie), und weil daher auch ihre Kritik sich mit reinen Gespenstern herumzuschlagen hat.

Die Versuche, den Marxismus „phänomenologisch“ zu ergänzen, bedürfen jedoch der Abwehr, denn sie drohen, die nach dem Ende des Krieges sowieso herrschende Verwirrung der Geister auch im Lager der Arbeiterbewegung noch zu vergrößern. Die nachfolgende Kritik knüpft an an den Aufsatz von Tran-Buc-Thao Marxismus und Phänomenologie in der Pariser Revue Internationale, 11.2 (1946), S.160/174. Es empfiehlt sich hier, den Schüler zu nehmen statt seiner Meister: Husserl, Heidegger, Jean Paul Sartre, weil er aus der Phänomenologie gerade das herausgreift, von dem er glaubt, daß es eine Ergänzung zum „orthodoxen Marxismus“ bilde, die nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch notwendig sei. Wir ersparen uns so die Mühe der Auslese. Dazu kommt ferner, daß die unverkleidete „Phänomenologie“ weniger die Gefahr der Irreführung mit sich bringt, als die marxistisch verkleidete.

Daß die Gefahr nicht gering ist, zeigen die zwei ersten Nummern der Revue Internationale, die mir vorliegen. Die Sprache des „Existentialismus“ erscheint hier nicht nur in den diesem Thema gewidmeten Aufsätzen, sondern auch in vielen anderen. Es scheint sich zu bestätigen, daß die „Existentialphilosophie“ in Frankreich (und anscheinend auch in England) geradezu eine literarische Tagesmode geworden ist, der die Intelligenz in diesen beiden Ländern unterliegt. Und das bringt unvermeidlich die Gefahr mit sich, daß sie auf die Arbeiterbewegung abfärbt.
 

2. Die Besiegten infizieren die Sieger

Wenn die bürgerliche Philosophie nach Feuerbach auch keinen positiven wissenschaftlichen Gehalt mehr hat (mit den oben erwähnten Einschränkungen), so hat sie jedoch als Ideologie eine bestimmte Bedeutung, als ein Symptom für die jeweilige tatsächliche Lage der Bourgeoisie und für die Bedürfnisse, die für sie aus dieser Lage entspringen. So auch jetzt das Auftauchen der „Phänomenologie“ oder des „Existentialismus“ in Frankreich und England nach der Niederlage Nazideutschlands. Um es so kurz und schroff zu sagen, so besagt diese Erscheinung, daß der Nazismus, militärisch geschlagen, seine bürgerlichen Gegner ideologisch angesteckt hat. Heidegger braucht man Sachkennern nicht erst als den philosophischen Wortführer des Nazismus vorzustellen. Aber Heidegger ist ein legitimer Fortsetzer seines Meisters Husserl. Husserl selbst gehört zu jenen tragikkomischen Gestalten der akademischen Philosophie Deutschlands der letzten 20 bis 30 Jahre, die, ohne es zu wissen und zu wollen, aber darum nicht weniger tatsächlich, den ideellen Boden für den Nazismus vorbereiteten, um dann in der oder jener Form seine Opfer zu werden. Wohlverstanden, es gibt auch andere Gestalten der akademischen Philosophie Deutschlands, die bewußte Reaktionäre oder Konter-Revolutionäre waren. Diese Ansteckung erfolgt, weil unter den bürgerlichen Siegern selbst gesellschaftliche Voraussetzungen für den Faschismus durch den Krieg und seine Folgen herangereift sind.
 

3. Die „Ursprünge“ des Marxismus sind nicht Marxismus

Der Verfasser sucht mit einem guten Instinkt die Brücke zwischen der „Phänomenologie“ und dem Marxismus in den „Ursprüngen“ (origines) des Marxismus.

Und zwar ist das die Feuerbach’sche Phase in der Entwicklung von Marx-Engels zu ihrer eigenen Lehre, des Feuerbach’schen „Humanismus“, an die der Verfasser und andere „Existentialisten“ anknüpfen. Nach dem Zeugnis von Friedrich Engels erscheint die erste öffentliche Formulierung des historischen Materialismus in der Heiligen Familie im Jahre 1845. Vorhergegangen war eine Phase, wo, wie Engels sagt, „wir alle momentan Feuerbachianer waren.“ In der Deutschen Ideologie (1846) rechneten dann Marx und Engels „mit ihrem philosophischen Gewissen ab“. Das heißt, sie brachen radikal mit allem Idealismus und aller Ideologie, und das heißt mit aller Philosophie als einer besonderen Wissenschaft, als unterschieden von den positiven Wissenschaften, der Naturwissenschaft und Geschichte. Darin war auch eine Kritik der Philosophie Feuerbachs enthalten (die nicht erhalten ist). Dafür hat später Engels diese Kritik nachgeholt in seiner Kleinen Schrift über Ludwig Feuerbach. Heute an die Feuerbach’sche Phase der Entwicklung von Marx-Engels wieder anknüpfen wollen, heißt also nichts anderes, als den ausgewachsenen Marxismus in die Eierschalen zurückstopfen, die er zerbrechen mußte, um zu werden, was er geworden ist. Warum nicht noch weiter zurückgehen in die „Ursprünge“? Marx und Engels nahmen bekanntlich ihren Ausgangspunkt von Hegel. Sie machten nicht als Schüler, sondern als schöpferische Geister die ganze kritische Bewegung mit, von Hegel über Friedrich Strauss, die Bauer und Feuerbach zu ihrem eigenen Standpunkt führte. An alle diese „Ursprünge“ kann man wieder anknüpfen, wenn man will, aber man muß dann wissen, daß man nicht an den Marxismus anknüpft, sondern an die idealistische deutsche Philosophie und die verschiedenen Stufen und Formen ihrer Auflösung, die alle, ohne Ausnahme, noch mehr oder weniger im Idealismus stecken bleiben und noch bürgerliche Philosophien sind.
 

4. Der Vormarsch und die Rückkehr

Aber es ist ei n sehr wesentlicher Unterschied, ob man, wie Marx und Engels selbst, diese Phasen durchläuft in der geschichtlichen Bewegung nach vorwärts, die zum historischen oder dialektischen Materialismus führt, oder ob man 100 Jahre später zu diesen Phasen zurückkehrt.

In Wirklichkeit kann man gar nicht zurückkehren. „Man kann nicht zweimal in den selben Fluß steigen.“ Das, wozu man zurückkehrt, ist nicht mehr dasselbe wie das, was andere seinerzeit in der Richtung nach vorwärts passiert haben. In der Bewegung nach vorwärts knüpft man an den entwicklungsfähigen Kern der betreffenden Lehren an und läßt die vergängliche und zum Verfall bestimmte Schale zurück. In der Bewegung nach rückwärts, der „Rückkehr“, ist es gerade diese vergängliche Schale, an die man anknüpft. Und es ist dies gar nicht anders möglich, denn inzwischen hat der entwicklungsfähige Kern sich tatsächlich entwickelt und ist eine neue, selbständige und lebendige Lehre geworden. Dies gilt für alle diese „Rückkehren“: Die Rückkehr zu Kant, zu Fichte, zu Hegel und jetzt zu Feuerbach, und es würde ebenso gelten für die Rückkehr zu den materialistischen oder halbmaterialistischen Philosophen der Vergangenheit, etwa dem englischen oder dem französischen Materialismus des 17. oder 18. Jahrhunderts. Im Rückkehrpunkt einer Kurve hat sich bekanntlich die Richtung der Bewegung verändert.
 

5. Die geschichtliche Rolle des Feuerbach’schen Humanismus

Die Rückkehr vom „orthodoxen Marxismus“ über die „Phänomenologie“ oder den „Existentialismus“ zum Feuerbach’schen Humanismus zeit deutlich diese Umkehr der Bewegungsrichtung, gesehen vom Standpunkt des Klassenkampfes. Ein geschichtlicher Vergleich des Existentialismus mit dem Feuerbach’schen Humanismus in Bezug auf die Rollen beider in den Klassenkämpfen ihrer Zeit gibt darüber klaren Aufschluß.

Stellen wir zunächst die geschichtliche Rolle des Feuerbach’schen Humanismus in den Klassenkämpfen seiner Zeit und seines Ortes fest. Die Feuerbach’sche Lehre tritt in Deutschland auf und entwickelt sich in der Schlußphasedervorbereitung der bürgerlichen Revolution in Deutschland im Übergang zum tatsächlichen revolutionären Kampf. Ein äußerlicher Ausdruck dafür ist die Tatsache, daß Hegel noch wohlbestellter Professor an der königlichen preußischen Universität Berlin gewesen war, „preussischer Staatsphilosoph“, während sowohl Bruno Bauer, wie Ludwig Feuerbach keinen Platz mehr fanden im Rahmen der akademischen Bürokratie.

Die Feuerbach’sche Lehre war der vorgeschobenste ideologische Posten im bürgerlichen Lager der Zeit. Dieser vorgeschobene Posten wurde von dem demokratischen revolutionären Kleinbürgertum Deutschlands eingenommen. Die Feuerbach’sche Lehre ist die Ideologie, die diesem Kleinbürgertum in der gegebenen Phase des Klassenkampfes in Deutschland entspricht. Dieses Kleinbürgertum ist die zahlenmäßig stärkste Klasse im damaligen Deutschland. Das Proletariat ist noch schwach an Zahl und an Klassenbewußtsein. Es tritt in dieser Zeit in Deutschland praktisch erst auf als vorwärtstreibende und kritische Kraft der bürgerlichen Revolution, wenn es auch durch Marx und Engels seine eigenen Klassenziele, die über die bürgerliche Gesellschaft hinausgehen, schon theoretisch formuliert hat.

Der Feuerbach’sche Bruch mit der offiziellen Religion, der Feuerbach’sche Materialismus, war die Kampfansage an die herrschenden Klassen der Zeit, an den bestehenden halbabsolutistischen Staat und seine Verwaltungsmaschine, von der die Kirche einen wesentlichen Bestandteil bildete. Dieses Kleinbürgertum fühlte sich, wie seinerzeit der dritte Stand in Frankreich, als der Vertreter der revolutionären Interessen aller Klassen, oder der überklassenmäßigen Interessen der bürgerlichen Revolution. Daher steht „der Mensch“ im Mittelpunkt der Lehre. Es wird abstrahiert von den Klassenunterschieden im revolutionären Lager selbst, sowohl nach oben gegen die große Bourgeoisie, als nach unten gegen das Proletariat. Der Feuerbach’sche abstrakte, ungeschichtliche, klassenfreie Mensch, das Einzelexemplar der naturwissenschaftlichen Gattung Mensch, ist der allgemeine Ausdruck dieser Situation. Die „Liebe“ ist der moralische Kitt, der das revolutionäre Lager zusammenhalten soll. Die kommunistischen Forderungen des Proletariats selbst werden auf die allgemeine Menschenliebe reduziert, d.h. den spezifischen Klassenforderungen des Proletariats wird die revolutionäre Spitze abgebrochen, sie werden auf das kleinbürgerliche Niveau heruntergebracht. Der Feuerbach’sche Materialismus ist nur naturwissenschaftlicher Materialismus. Auf dem Gebiete der Gesellschafts-Wissenschaften, der Geschichte, vermag er den Idealismus nicht zu überwinden. Diese Überwindung ist nur möglich von einem Standpunkt aus, der dem bürgerlichen Eigentum als der Grundkategorie der bürgerlichen Gesellschaft kritisch gegenübersteht, es als eine geschichtliche, d.h. vorübergehende Erscheinung auffaßt, für den die bürgerliche Gesellschaft selbst nur eine geschichtliche Erscheinung ist, zu deren Anfang auch das Ende gehört. Nur von diesem Standpunkt aus wird der Mechanismus der bürgerlichen Gesellschaft durchsichtig und eröffnet sich die Aussicht auf die materielle Beherrschbarkeit des gesellschaftlichen Lebens überhaupt. Nur so wird der konsequente, auf Natur und Geschichte anwendbare Materialismus möglich.

Das Kleinbürgertum, auch in seiner fortgeschrittensten revolutionären Phase, kann diesen Sprung nicht machen. Für ihn ist das Privateigentum keine historische, d.h. vergängliche, sondern eine naturwissenschaftliche, d.h. ewige Kategorie. Es kann nicht über seinen Schatten springen. Es kann daher nicht mit dem Idealismus vollständig fertig werden. Daher bei Feuerbach wohl die Verwerfung der offiziellen Religion, aber nicht der-Religion überhaupt; die Verwerfung der offiziellen Moral, aber nicht gewisser „ewiger“ Moral-Grundsätze überhaupt. Der Ewigkeit des bürgerlichen Eigentums entspricht die Ewigkeit der „Moral“ -der „menschlichen Moral“ versteht sich – und das Unvermögen, die Grenzen des philosophischen Idealismus zu übersteigen. Die Revolution ist für das revolutionäre Kleinbürgertum die Verwirklichung und Sicherung des bürgerlichen Eigentums im allgemeinen, die Wiederherstellung des von oben (durch die Großbourgeoisie) und von unten (durch das Proletariat) bedrohten kleinbürgerlichen Eigentums im besonderen. Der philosophische Ausdruck der Enteignung des kleinbürgerlichen Eigentums ist die „Wiederaneignung“. Es sind dies ausgesprochen kleinbürgerliche Kategorien. Wenn Marx in seiner Frühzeit damit operiert, so tat er das nicht als fertiger Kommunist, sondern als Feuerbachianer, der auf dem Wege zum Kommunismus ist. Für Marx waren die Kategorien der „Entfremdung“ und „Wiederaneignung“ Übergangsstufen nach vorwärts zum Kommunismus, von der individuellen „Wiederaneignung“ zur gesellschaftlichen, die in Wahrheit die Aufhebung des bürgerlichen Eigentums ist. Wenn dagegen die „Phänomenologie“ diese Kategorien wieder aus dem alten philosophischen Gerümpel hervorholen, so dreht es sich um die Wiederherstellung und Sicherung des kleinbürgerlichen Eigentums, das heute einem wahren Trommelfeuer von oben und von unten ausgesetzt ist.

Der Unterschied ist kein bloß subjektiver. Es ist in der Tatsache begründet, daß vor hundert Jahren in Deutschland die bürgerliche Revolution auf der Tagesordnung stand, während heute in Mittel- und in Westeuropa der Zyklus der bürgerlichen Revolution längst abgelaufen und nur noch die sozialistische Revolution möglich ist.
 

6. Die ideologischen Bedürfnisse des proletarisierten Kleinbürgers

Der Verfasser selbst läßt keinen Zweifel daran, daß es sich bei der „phänomenologischen“ Ergänzung oder Korrektur des „orthodoxen Marxismus“ um die Bedürfnisse des „proletarisierten Kleinbürgers“ und der „verbürgerlichten Schichten“ (richtiger würde es heißen: verkleinbürgerlichten) des Proletariats handelt, während der orthodoxe Marxismus der verelendeten Schicht des Proletariats des Frühkapitalismus entsprochen habe.

Was vermissen diese Schichten am orthodoxen Marxismus?

  1. „Die systematische Entwertung der Ideologie als solcher,“ sagt der Verfasser, „läßt bei ihnen die Sehnsucht nach dem Wert der Tradition entstehen. Daher jener ständige Verrat des kleinbürgerlichen Kader in den entscheidenden Augenblicken der Aktion, der das Scheitern der europäischen Revolution nach sich zog. „Marx-Engels hätten versäumt, eine Ideologie für die sozialistische Gesellschaft auszuarbeiten.“
     
  2. „Eine solche Arbeit hätte das Kleinbürgertum interessiert.“
     
  3. „Aber,“ fährt er fort, „es blieb durch seine objektive Lage zu sehr an das Kapital gebunden, als daß man es als Klasse hätte gewinnen können. Daher mußte Marx als praktischer Denker seine ganze Anstrengung auf die Betrachtung des Unterbaus beschränken.“

    Heute aber würden diese Schichten durch die Wirtschaftskrisen und den Krieg sich ihrer „objektiv-revolutionären“ Lage bewußt.
     
  4. „Aber der Erfolg einer solchen Aufgabe (nämlich sie für die sozialistische Revolution zu gewinnen) wird vereitelt durch die Ohnmacht des klassischen Marxismus, die Bedürfnisse der neuen revolutionären Schichten zu befriedigen, die sich auf die Sinnlosigkeit eines mehr oder weniger „idealistischen“ Sozialismus einstellen. Daher ist gerade durch die Bedürfnisse der Praxis eine Revision nötig.“
     

7. Die phänomenologische Revision des Marxismus

Sehen wir uns diese Revision näher an, so finden wir folgendes:

1. Eine neue Variante des subjektiven Idealismus

Nach der pompösen Erklärung über die Unsinnigkeit eines idealistischen Sozialismus sollte man erwarten, eine klare und unzweideutige materialistische Stellungnahme zu finden. Das strikte Gegenteil ist der Fall. Zugleich aber wird versucht,den Schein des Materialismus zu erwecken. Dabei passiert den Adepten der Phänomenologie das Malheur, daß sie das Opfer der bei vielen Philosophen üblichen Manier werden, die Ausdrücke des gewöhnlichen Sprachgebrauchs in gerade gegenteiligem Sinne zu verwenden. So heißt bekanntlich bei Hegel das, was der gewöhnliche Sprachgebrauch als konkret bezeichnet – der einzelne, sinnliche, materielle Gegenstand – „abstrakt“, und was der gewöhnliche Sprachgebrauch als abstrakt bezeichnet, das durch das Denken gewonnene allgemeine – „konkret“. So zitiert der Verfasser mit großem Beifall die von dem Meister Husserl ausgegebene Losung:„Zu den Sachen selbst“. Sieht man näher zu, so sind diese „Sachen selbst“ die wohlbekannten „Gegenstände des Bewußtseins“, die „Sachen“, wie sie im menschlichen Denken erscheinen, also der Inhalt des Bewußtseins. Und um keinen Zweifel zu lassen, so weist der Verfasser ausdrücklich den naturwissenschaftlichen, oder wie er ihn nennt, „physischen Materialismus“ zurück.

„Es handelt sich“, erläutert er, „offenbar nicht um den physischen Gegenstand, der durch ein System von Gleichungen definiert ist, sondern um alles, was für uns existiert. Die Aufhebung des Primats des Physischen mußte es gerade möglich machen, sich der ‚konkreten Existenz‘ in ihrer vollen Bedeutung bewußt zu werden, also ... Rückkehr zum Selbstbewußtsein, wo die verborgenen Bedeutungen sich offenlegen, die im naiven Leben ‚entfremdet‘ sind.“

Im Anschluß an ein Zitat aus der Feuerbachisierenden Phase von Marx erklärt er weiter:

„Dieser Text scheint uns die wahre Bedeutung des historischen Materialismus zu geben in seinem Gegensatz zum vulgären Materialismus. Die Wirklichkeit ist gerade das, was wir ‚produzieren‘, nicht nur auf dem physischen Gebiet, sondern im allgemeinen Sinne, der jede menschlicheTätigkeit umfaßt, einschließlich der geistigen Tätigkeit.“

Und schließlich noch:

„Das Wirkliche ist die sinnvolle Welt, in der wir leben, die eben ihren Sinn nur durch unser Leben hat, diese durch die Arbeitergeneration menschlich gewordene Natur.“

Ich denke, diese Stellen genügen, um den kritischen Leser über den philosophischen Standort der „Phänomenologie“ oder des „Existentialismus“ vollständig und sicher aufzuklären. Es ist ein Zurückplumpsen noch hinter Feuerbach und gerade zwei Stufen hinter den historischen Materialismus. Der historische oder dialektische Materialismus geht über den naturwissenschaftlichen Materialismus, wie er bei Feuerbach erscheint, hinaus -aber nach vorwärts – er schließt den naturwissenschaftlichen Materialismus ein, er hält an dieser Grundlage fest. Der Verfasser mit seinen phänomenologischen oder existentiellen Meistern geht hinter diese Grundlage zurück und landet so beim (subjektiven) Idealismus. Der dialektische Materialismus modifiziert auch den naturwissenschaftlichen Materialismus, er entwickelt ihn weiter, indem er jeweils die Fortschritte der naturwissenschaftlichen Forschungen in Rechnung zieht und bei der Verarbeitung dieser Resultate bewußtes dialektisches Denken anwendet. Aber das alles ändert nichts daran, daß der dialektische Materialismus Materialismus bleibt im handfestesten Sinne des Wortes, d.h., daß für ihn das Bewußtsein das abgeleitete und abhängige Sekundäre, das Sein außerhalb des Bewußtseins das ursprüngliche, unabhängige Primäre ist.

Manche Schüler des Meisters Husserl suchen es so darzustellen, als ob die ursprüngliche Methode des Meisters über oder außerhalb des Gegensatzes vom Materialismus und Idealismus stehe, und daß Husserl selbst erst in seiner späteren Entwicklung durch eine fehlerhafte oder willkürliche Anwendung dieser seiner Methode in den ausgesprochenen und „einseitigen“ Idealismus verfallen sei. Das ist ein Irrtum. Die Methode ist von vornherein und ihrem Wesen nach subjektiver Idealismus. Der „Meister“ hat nur im Laufe seines weiteren Denkens an Hand der Konsequenzen, die er gezogen hat, die idealistische Natur seiner ursprünglichen Methode augenfälliger gemacht. Das ist peinlich für manche seiner Schüler, die an dem Schein festhalten möchten, daß die Methode überden Gegensatz von Idealismus und Materialismus erhaben sei, ja eine Überwindung dieses Gegensatzes durch eine bisher nicht dagewesene neue Stellungnahme des Denkens bedeute. Das Neue ist nur die Art der Verkleidung dieses subjektiven Idealismus. Wir sagen ausdrücklich, die Art der Verkleidung, nicht, die Verkleidung selbst. Der Anspruch, über dem Gegensatz von Idealismus und Materialismus zu stehen, ist allem subjektiven Idealismus eigentümlich. Indem er die materielle Welt letzien Endes auf das menschliche Bewußtsein zurückführt, verschwindet in der Tat der Gegensatz einfach, indem die eine Seite dieses Gegensatzes, die materielle, als selbständig und unabhängig vom Denken existierend zum Verschwinden gebracht wird. Wo nur ein Gegenstand zurückbleibt, hebt sich jede Beziehung und damit auch der Gegensatz von selbst auf. Die Frage der Beziehung selbst, ist unter dieser Voraussetzung „sinnlos“ oder „gegenstandslos“ geworden – auf welche zauberhafte Leistung der subjektive Idealismus in seinen verschiedenen Formen sich nicht wenig zu Gute tut. Worin besteht das Neue in der Maskierung oder Verkleidung bei der „Phänomenologie“ oder „Existentialphilosophie“? Einfach darin, daß das Bewußtsein, das Denken, das Ich, oder welche Namen man wählen will, nicht mehr in seiner abstrakten Reinheit erscheint, wie in den klassischen Formen des philosophischen Idealismus, sondern behaftet mit allem möglichen konkreten Zubehör, als „Leben“, als „Existenz “, usw. Es gehört kein allzu großer Scharfsinn dazu, um als dieses Pudels Kern das alte „Bewußtsein“ zu entdecken. Immer und überall ist es das menschliche Denken oder Bewußtsein, das hier das aktive, dominierende, wesentliche Element ist. Das andere ist Zubehör, beherrscht vom Denken und letzten Endes eine Art oder Modalität des Denkens.

Einen ähnlichen Gang macht bekanntlich das deutsche philosophische Denken von Hegel ab durch. Die Hegel’sche Idee setzt immer mehr Fleisch und Individualität an, sie wird „Subjekt“, dann „Selbstbewußtsein“ (bei Bruno Bauer) und schließlich „der Mensch“ bei Feuerbach.

Der Verfasser geht vollkommen in die Irre, wenn er sagt, daß bei Marx bei der dialektischen Umstülpung des Idealismus in Materialismus „der ganze geistige“ (spirituelle) Inhalt erhalten worden sei, der im Hegelianismus entwickelt ist.“ Wie soll das möglich sein, den Spiritualismus im Materialismus zu erhalten? Was bei Marx vom Hegelianismus erhalten bleibt, ist:

  1. Die aktive schöpferische Rolle des menschlichen Geistes – der die ganze klassische deutsche Philosophie kennzeichnet. Die Aktivität wird aus einer absoluten, phantastischen und selbstherrlichen zu einer begrenzten und bedingten. Bedingt durch die Einsicht in die materiellen Gesetze der Natur und Gesellschaft. Begrenzt durch die jeweilige unvermeidliche Begrenztheit dieser Einsicht. Die Grenzen sind beweglich, aber sie sind in jedem gegebenen Augenblick vorhanden. Ferner begrenzt durch den bedingten Umfang der Kräfte, über die der Mensch jeweils verfügt.
     
  2. Die dialektische Methode ist aber aus dem mystisch-idealistischen ins rationelle und materialistische umgestellt.
     
  3. Ein unendlicher Reichtum von reellen Analysen, von gesellschaftlichen und naturwissenschaftlichen Tatsachen, Zusammenhängen und Entwicklungen, die bei Hegel in der Hülle der mystischen und idealistischen Darstellung verborgen liegen.
     
  4. Das Gesetz der Entwicklung in gegensätzlicher Form in Geschichte und Natur, ebenfalls auf materialistischer Grundlage – Bei Hegel hat die Natur keine Entwicklung in der Zeit.

Von Hegel wird dieses Gesetz als das allgemeinste Bewegungsgesetz oder die allgemeine Bewegungsform der Dialektik selbst ausgesprochen. Insofern kann man es aus den Einzelgesetzen der Dialektik herausheben.

Der „Spiritualismus“ Hegels besteht aber nicht in der Anerkennung der aktiven und schöpferischen Rolle des menschlichen Geistes überhaupt, sondern darin, daß „der Geist“ bei ihm zu einem Absoluten und Mystischen erhoben wird. Indem Marx diese Seiten aufhebt, hebt er den „Spiritualismus“ auf. Er hebt allerdings nicht die geschichtliche Rolle des menschlichen Geistes überhaupt auf. Gerade als Materialist behält er den rationellen Kern des Hegel’schen Mysteriums zurück und führt das Hegel’sche Absolute in seine natürlichen und gesellschaftlichen Schranken und Bedingungen zurück. Es geht also nicht an, den historischen Materialismus selbst zu mystifizieren und zu „spiritualisieren“.
 

2. Die Idealisierung der „ökonomischen Bedingungen“

Sie folgt logisch aus den gegebenen idealistischen Voraussetzungen und wird bewerkstelligt durch die idealistische Kategorie des „Sinns“. Wenn das Materielle, das Wirkliche überhaupt, sozusagen nur kristallisierter „Sinn“ ist, d.h. ein den menschlichen Zwecken Korrespondierendes, so müssen notwendigerweise auch die materiellen ökonomischen Bedingungen, mit denen es der historische Materialismus zu tun hat, ein idealistisches Wesen annehmen, womit das Wunder zustande gebracht wird, den historischen Materialismus selbst in ein idealistisches philosophisches System einzufügen. Allerdings – es ist der historische Materialismus, der von den Füßen auf den Kopf gestellt ist.

  1. „Die Welt“, sagt der Verfasser, „gibt sich uns mit jener Fülle des menschlichen Sinnes, mit der sie für uns existiert, während wir in ihr leben.“

    Die materiellen ökonomischen Bedingungen sind daher ihrerseits im Grunde ideeller Art, und die Anerkennung, daß sie das „bestimmende Element“ der „menschlichen Existenz“ sind, schließt also ein, daß ihr „Sinn“ vorher durch die „menschliche Existenz“ selbst bestimmt worden ist. Es handelt sich also hier letzten Endes um die Bestimmung der einen durch andere ideelle Elemente, wobei die menschlichen Zwecke das letzthin Bestimmende sind.
     
  2. „Es genügt“, sagt so der Verfasser, „sich der objektiven Bedeutung der menschlichen Existenz bewußt zu werden, um in den wirtschaftlichen Bedingungen das letzten Endes bestimmende Element der allgemeinen Struktur, der Erfahrung dieser Welt zu finden.“

    In seinem Übereifer, den ökonomischen Materialismus auf idealistischer Grundlage zu konstruieren, geht der Verfasser sogar viel weiter im ökonomischen Determinismus als zulässig ist. Über der gesellschaftlichen Bestimmtheit des menschlichen Denkens vergißt er seine Naturbestimmtheit. Diese Naturbestimmtheit ist aber die Grundlage, an der die gesellschaftlichen Faktoren formend und umformend ansetzen. Dieses „Vergessen“ ist kein Zufall. Es ist die Folge der Wegamputierung des naturwissenschaftlichen Materialismus aus dem historischen oder dialektischen Materialismus.

Eine Folgerung dieser Idealisierung der ökonomischen Bedingungen liegt auf der Hand und ist wichtig für die praktische Bedeutung und Auswirkung der „Phänomenologie“. Die menschlichen Zwecke sind in der Macht der Menschen. Im Gebiet des Ideellen ist der Mensch souverän. Die objektiven materiellen Schranken und Widersprüche des Kapitalismus fallen dann dahin. Die bürgerlichen und kleinbürgerlichen Klassen und Einzelnen erlangen so auf dem ökonomischen Gebiet volle Freiheit von den materiellen Bedingungen der kapitalistischen Wirtschaft – allerdings nur in ihrer Einbildung. Es gibt keine objektiven Gesetze mehr, die diese Wirtschaft ihrem Untergang zuführen, keine Verzweiflung! Alles ist dem Willen möglich – auch die Rettung.

Aber indem diese Ansicht den bürgerlichen und kleinbürgerlichen Klassen eine anscheinend unbeschränkte Freiheit des Handelns wieder eröffnet, entzieht sie diesem Handeln zugleich jeden objektiven Maßstab, jeden Kompaß, und liefert sie umso sicherer den blinden Naturgewalten des ökonomischen Geschehens und den ökonomischen Bedingungen in der kapitalistischen Welt aus. Die eingebildete absolute Freiheit schlägt um in das Ausgeliefertsein an die blinde Notwendigkeit, die Planung im Einzelnen in die Planlosigkeit im Ganzen; der zeitweilig neugewonnene Optimismus in den völlig unbegriffenen und von diesem Standpunkt unbegreiflichen Zusammenbruch – die „Götterdämmerung“, in der es sich nur noch darum handelt, dramatisch unterzugehen und alles noch Bestehende in den eigenen Untergang mit hineinzuziehen.
 

3. Die „Autonomie der Überbauten“

Der Verfasser beschreibt dies folgendermaßen:

  1. „Die Autonomie der Überbauten ist ebenso wesentlich für das Begreifen der Geschichte, als die Bewegung der Produktivkräfte. Aber wie kann man sich davon Rechenschaft ablegen, wenn es sich nur um „Reflexe“ des reellen Prozesses handelt.“ Vom Standpunkt des objektiven Idealismus kann selbstverständlich ein Ideelles („die Überbauten“) kein „Reflex“ eines Materiellen sein. Es kann keine kausalen Beziehungen zwischen den zwei Reihen geben, die ja beide für ihn ideell sind.

    Aber wenn die Überbauten, als das Ideelle in engerem und spezifischen Sinne genommen, als autonom, d.h. sich selbst bestimmend genommen werden, so ist auch eine Beziehung von ihnen selbst zu einem ideell gefaßten ökonomischen „Unterbau“ möglich. Wir landen so bei einem Gegenstück zu der berühmten Hegel’schen „Selbstbewegung der Idee“ – wenn auch der Verfasser und die Schule diesen Ausdruck aus guten Gründen vermeiden. Aus guten Gründen: Denn die Hegel’sche Idee ist immerhin noch die sich selbstbewegende Vernunft, während inzwischen bei den Existentialisten die Vernunft in die Krümpe gegangen ist.

Es ist übrigens eine triviale Verkennung, alle Reflexe des ökonomischen Unterbaues nur als „Illusionen“ zu nehmen. Auch die ökonomische Wissenschaft ist Reflex, d.h. Abbild der ökonomischen Wirklichkeit. Mehr als „Abbild“ sagt der Begriff Reflex nicht. Es kann falsches oder richtiges Abbild sein, Illusion oder Wissenschaft. Es ist ebenso falsch, der Illusion ihre Natur als Illusion, d.h. als falsches, verkehrtes Abbild einer zugrunde liegenden materiellen Wirklichkeit abzusprechen, weil sie zugleich als reelles Motiv auf Menschen wirkt. Es genüge, hierzu eine Stelle aus der bekannten Schrift von Antonio Labriola über den historischen Materialismus anzuführen, die da lautet:

„Die bewußten Absichten, die politischen Zwecke, die Wissenschaften, die Rechtssysteme usw., ehe sie das Mittel und Werkzeug zur Erklärung der Geschichte sind, sind gerade das, was erklärt werden muß, weil sie von bestimmten Bedingungen und Lagen abgeleitet sind. Aber das heißt nicht, daß sie reiner Schein und Seifenblasen sind. Daß diese Dinge von anderen abgeleitet sind, bedeutet nicht.daß sie nicht wirksame Dinge sind, und nur so ist es, daß sie während Jahrhunderten dem nicht-wissenschaftlichen und dem sich erst ausbildenden wissenschaftlichen Bewußtsein als die einzigen wahrhaft wirksamen erschienen.“ (Aus dem Spanischen übersetzt.)

Oder mit Friedrich Engels zu reden: Es fällt dem historischen Materialismus nicht ein, die Wirksamkeit von Motiven, d.h. bewußten Antrieben der Menschen zu leugnen. Aber er stellt die Frage: „Welche historischen Ursachen verwandeln sich in den Köpfen der Menschen in diese Motive“ oder anders „Welches sind die Motive dieser Motive“, d.h. ihre bestimmenden Ursachen?

„Die Inkonsequenz (des nur naturwissenschaftlichen Materialismus a la Feuerbach) beruht nicht einfach darauf, ‚ideale‘ Motive zuzulassen, sondern darin, daß man nicht von ihnen ausgehend, auf ihre bestimmenden Ursachen zurückgeht. Und das sind letzten Endes materielle Ursachen“. (Friedrich Engels, Ludwig Feuerbach y el fin de la f ilosofia clasica Alemana, Moscu 1941, S.39)
 

4. Die Rehabilitierung der Religion

Die „Autonomie der Überbauten“ ist nicht umsonst. Sie führt logisch zur Rehabilitierung der Religion – jeder Religion. Denn ist nicht jede Religion ein „Inhalt des Bewußtseins“, eine „Sache“, um den Husserl’schen Ausdruck zu gebrauchen, oder eine „Erfahrung“, wie eine andere frühere Schule des subjektiven Idealismus sagt? Und sie ist eben dadurch und schon dadurch legitimiert, daß sie ein Inhalt des Bewußtseins ist?

  1. „Die klassischen Texte des Marxismus,“ sagt der Verfasser, „bestimmen zwar das Primat des ökonomischen auf eine für den Phänomenologen unannehmbare Weise. Die Überbauten werden als einfache Illusion betrachtet, die auf der ideologischen Ebene die „wirklichen“ Beziehungen wiederspiegeln, während die Originalität der „Phänomenologie“ gerade darin bestanden hat, den Wert aller Bedeutungen (oder Sinne) der menschlichen Existenz zu legitimieren. In Bezug auf die Originalität der Phänomenologie irrt sich der Verfasser aus Mangel an Kenntnis der Geschichte der Philosophie. Mit den „Tatsachen“ des „Bewußtseins“, die sich durch sich selbst legitimieren sollen, hat sich schon der junge Hegel herumgeschlagen. Er hat diesen Anspruch grob und schlagend abgewiesen. Die Originalität der Phänomenologie, oder vielmehr derjenigen aus der Schule, die den Marxismus damit ergänzen wollen, besteht lediglich in dem Anspruch, die Phänomenologie mit dem historischen Materiaiismus vereinbaren zu wollen. Die ist allerdings originell und bisher nicht dagewesen. Den Umstand, daß die Phänomenologen und Existentialisten den altbekannten „Tatsachen“ des „Bewußtseins“ einen neuen Namen geben, wie sie überhaupt die plattesten Trivialitäten mit neuen und absonderlichen Namen herausputzen, gestatten wir uns, nicht als Originalität zu betrachten. Oder soll man den Anspruch auf Originalität der Entdeckung der in der Geschichte der Philosophie und der religiösen Apologetik tausendfach plattgetretenen Trivialität, das Vitzliputzli und der fallende Stein, beides „Tatsachen des „Bewußtseins“, „Erfahrungen“ sind, die beide wirken und also gleichermaßen legitimiert seien, eben als das Originelle an der Phänomenologie und dem Existentialismus ansehen? Wir sind bereit dazu.

    Die Religion, folgert der Verfasser, wird auch in einer klassenlosen Gesellschaft fortbestehen.
     
  2. „In der klassenlosen Gesellschaft“, eignet sich das Subjekt den Gegenstand an, indem es sich in ihm wiedererkennt. Es gefällt sich darin, sich in seinem Werk anzuschauen. Das Absolute der Sache wird begriffen als ihre Identität mit dem Ich. Das Leben in dieser Welt nimmt mystischen Sinn an, nicht in Bezug auf eine Transzendenz, sondern im Genusse seiner Erfüllung. Es ist falsch, zu sagen, daß die Aufhebung der Entfremdung das Verschwinden jeder Religion nach sich ziehen wird, die Aneignung der menschlichen Wirklichkeit wird genossen in einer Religion der reinen Immanenz, wo „die Glückseligkeit nicht die Belohnung der Tugend ist, sondern die Tugend selbst.“

Worin unterscheidet sich dieses Kauderwelsch von Feuerbach’s „Kultus des (abstrakten) Menschen“ außer dadurch, daß Feuerbach wenigstens seine Religion noch in eine menschliche Sprache einzukleiden verstand. Aber in Wahrheit ist es ein Zurückfallen noch hinter Feuerbach, ja noch hinter Hegel. Die Feuerbach’sche Religion ist ausschließend und kritisch gegen die ihr vorangehenden, einschließlich des Christentums. Für Hegel war nicht schon die Anerkennung eines Göttlichen überhaupt Religion. Die phänomenologische Religion, wenn man diesen Ausdruck gebrauchen darf, anerkennt auch alle anderen Religionen als legitim. Man versteht, daß dies nicht nur eine historische und theoretische, sondern eine sehr praktische Seite hat, nämlich das praktische Verhältnis der phänomenologischen „Revolutionäre“ zu bestehenden Religionen, sei es dem Christentum in Europa, sei es dem Islam, dem Hinduismus, dem Buddhismus usw. gegenüber in den orientalischen Ländern.

Der Verfasser tut übrigens gut, die klassenlose Gesellschaft mit Gänsefüßchen zu versehen. Fragt man sich, welche gesellschaftliche Wirklichkeit der Schilderung der klassenlosen Gesellschaft entsprechen kann, die der Verfasser gibt, wonach in ihr das „Subjekt“ – also der Einzelne – im „Absoluten der Sache“, sein Ich erkennt, die „Entfremdung“ aufhebt und in seiner Arbeit „die Aneignung der menschlichen Wirklichkeit erkennt“, so kann es keinesfalls eine auf moderner Großindustrie beruhende sozialistische Gesellschaft sein, denn in ihr ist für den Einzelnen die „Entfremdung“ keineswegs aufgehoben. Das Produkt ist keineswegs eine individuelle Arbeit, es ist das Ergebnis von unmittelbar gesellschaftlicher Arbeit. Der Einzelne liefert nur einen Bruchteil davon. Er kann daher auch nicht mit Recht in ihm die „Identität mit seinem Ich“ erkennen. Das Werk oder Produkt enthält, wenn man es schon so idealistisch verschroben ausdrücken will, nur einen Bruchteil seines Ichs. Ferner, in einer solchen Gesellschaft, ist auch die „Aneignung“ im eigentlichen Sinne des Wortes nicht unmittelbar individuell, sie ist unmittelbar gesellschaftlich und nur mittelbar individuell. Und es ist nicht sein individuelles Produkt, daß der Einzelne sich aneignet – dies trifft nur zu auf die Reste der alten individuellen Wirtschaft, die sich noch in der neuen Wirtschaft erhalten, wie z. B. auf die Produkte des individuell bebauten Landstücks eines Kolchos-Bauern in der Sowjet-Union, oder des einem industriellen Arbeiters zugewiesenen Gärtchens.

Aber auch für eine großindustrielle sozialistische Gesellschaft im Ganzen ist die Arbeit, worauf schon Marx hingewiesen hat, nicht der Sejbstgenuß ihres Ich, sondern ein leidiger Naturzwang. Der Raum der Freiheit und des Selbstgenusses ist die freie Zeit, die Muße, die die vergesellschaftlichte Arbeit unter bestimmten Voraussetzungen für alle und in wachsendem Umfange schafft. Es ist nicht einmal der einfache Warenproduzent, der Handwerker, der selbstarbeitende Kleinbauer, für die die gegebene Schilderung zutrifft, denn eine Gesellschaft einfacher Warenproduzenten ist nur möglich ohne Austausch, und das heißt „Entfremdung“. Die Originalität dieser Schilderung ist eine echt philosophische ideelle Konstruktion, die nie und nirgends als Gesellschaft wirklich sein kann. Es sind entweder ausschließlich für den unmittelbaren Selbstgebrauch arbeitende individuelle Produzenten: primitive Landwirtschaft verbunden mit primitivem Handwerk, die ausschließlich für den Selbstgebrauch arbeiten. Das mag wohl „klassenlos“ sein, aber es ist keine Gesellschaft. Es gehört nicht zur Zukunft, sondern zur Vergangenheit der Organisation der menschlichen Arbeit.

Oder ist es die Konstruktion einer Gesellschaft einfacher Warenproduzenten ohne Austausch, eine ideelle kleinbürgerliche Weltidee, weil ohne die Widersprüche gedacht, die ihr unvermeidlich anhaften, und die die Klassengesellschaft unvermeidlich aus ihr hervorgehen lassen. Den Nachweis, daß eine solche idealisierte Gesellschaft individueller Produzenten die Religion in irgendeiner Form nicht entbehren kann, können wir uns hier ersparen. Als der Kern der Konstruktion der „klassenlosen“ Gesellschaft des Verfassers entpuppt sich also der alte kleinbürgerliche Traum einer idealisierten Gesellschaft von individuell arbeitenden Produzenten -abzüglich der Widersprüche, die ihr anhaften, jenes überschwängliche Reich des „Ideals“, von dem Schiller singt:

„Was sich nie und nirgends hat begeben, Das allein veraltet nie.“

  1. „Der Mensch“, sagt der Verfasser an einer anderen Stelle, „verwirklicht sich in seiner Ewigkeit. Er spricht von einer (p) „fortwährenden Erneuerung, die sich als eine ewige Selbstverwirklichung darstellt.“

    Das erinnert an die Hegel’sche mystische ewige „Selbstverwirklichung des Begriffs“, nur daß hier die Mystik doppelt mystisch wird, da dem, was sich hier verwirklicht, die Hegel’sche Vernunft abgeht. Und zu allen übrigen mystischen Absurditäten bekommen wir zum Schluß noch das Aufhören der Geschichte, denn mit der erreichten „ewigen Selbstverwirklichung des Menschen“ wird seine „ständige Erneuerung“ ein bloßer Schein. Die unerträgliche Langeweile des jenseitigen „ewigen Lebens“ wird in diese Welt verpflanzt, um uns als die „klassenlose Gesellschaft der Zukunft“ vorgestellt zu werden: das phänomenologische oder existentialistische Paradies, das unvermeidlich die Krönung der phänomenologischen Religion der Zukunft ist. Wir danken.
     

8. Die phänomenologische Reformation

Prüfen wir nun zwei der Anwendungen der phänomenologischen Methoden auf konkrete Stoffe. Die eine auf die Erklärung der Reformation, die andere auf die der sozialistischen Revolution.

  1. „Die Reformation soll nach Marx die ideologische Form der Anstrengung sein, die im 16. Jahrhundert die Bourgeoisie gemacht hat, um sich von der päpstlichen Herrschaft zu befreien: der illusorische Reflex eines Kampfes wirklicher Interessen. Es ist klar, daß eine solche Erklärung gerade die Bedeutung der zu studierenden Erscheinung, als religiöse Erscheinung, aufhebt. Die Errichtung der Kirche als weltliche Macht war notwendig im Mittelalter, um das geistige Leben gegen die Brutalität der feudalen Sitten aufrecht zu erhalten. Mit der Entwicklung der Bourgeoisie und der zentralen Macht, die sie stützte (gemeint ist die Monarchie), kehrt die Sicherheit zurück, die erlaubt, ein regelmäßiges Leben zu führen, das einen geistigen Sinn annehmen kann. Es war nicht mehr nötig, die Welt zu verlassen, um Gott anzubeten: es genügte, seine tägliche Aufgabe ehrlich zu erfüllen, indem man sie mit einem absoluten Sinn durchdrang, insofern jede Sache gedacht wurde als eine Kundgebung des göttlichen Willens. Anstelle des Kultus des „außerweltlichen Gottes“, der allein möglich war zur Welt der Unruhen der Feudalität, trat von selbst im gelebten Leben ein Kultus des „innerweltlichen Gottes“ durch die Ausübung der bürgerlichen Tugenden, der Ehrlichkeit in den Geschäften, der Ehe, der Arbeit, des Sparens. Mit dem Fortschritt der Bourgeoisie und den neuen Bedingungen der materiellen Existenz zu Beginn der Neuzeit erscheint die kirchliche Organisation mit ihrem Apparat von Riten, Regeln als unnütz in Bezug auf das spontane religiöse Leben, auf die neue religiöse Erfahrung. Die Reformation des 16. Jahrhunderts hatte im Gegenteil einen dauernden Erfolg, weil sie die Forderung einer echten Erfahrung ausdruckte. Der Kultus des innerweltlichen Gottes schließt ein das Verlassen der Klöster, die Aufhebung der Riten und der Hierachie.

    Der Protestantismus ist die Religion der Bourgeoisie, die Form, in der sie ein wahrhaft echtes religiöses Leben leben konnte. Daher wurde auch der Glaube in den protestantischen Ländern leicht aufrecht erhalten. Die französische Bourgeoisie hingegen, die durch die königliche Macht gezwungen worden war, den Katholizismus zu erhalten, der nicht mehr einer wirklichen Erfahrung entsprach, wandte sich dem Antiklerikalismus und der Irreligiösität tat zu.“

Wir haben diesen Absatz über die Reformation in seinem vollen Wortlaut angeführt, um uns nicht dem Verdacht auszusetzen, irgendetwas weggelassen zu haben, was der Verfasser für wesentlich hält. Der Kern der Erklärung läßt sich aber in wenigen Sätzen zusammenfassen: Es existiert „autonom“ ein religiöses Bedürfnis, ein religiöses Leben. Da es autonom ist, so hat man nicht zu fragen, aus welchen gesellschaftlichen Quellen es stammt, und welches der konkrete Inhalt des Glaubens der mittelalterlichen Kirche und seiner Wandlungen ist. Wir erfahren nur, daß die süßere Form der mittelalterlichen Organisation der Kirche durch das Bedürfnis bestimmt war, das geistige Leben in den feudalen Wirren aufrecht zu erhalten. Zu diesem Zwecke mußte die katholische Kirche selbst eine feudale Organisation werden. Das religiöse Bedürfnis selbst ist ein primäres, weiter keiner Erklärung bedürftig. Der „außerweltliche Gott“ des mittelalterlichen Katholizismus wird ebensowenig erklärt. – Mit dem Aufhören der feudalen Wirren und dem Emporkommen der Bourgeoisie und der Entstehung einer starken zentralisierten monarchischen Staatsgewalt wird die mittelalterliche Organisation der Kirche überflüssig, zweckwidrig. Der Protestantismus schafft die neue Organisation der Kirche, um einem immer noch fortdauernden und keiner Erklärung fähigen religiösen Bedürfnis zu genügen. Dieses religiöse Bedürfnis wird jetzt durch einen „innerweltlichen Gott“ befriedigt. Durch äußere Gewalt verhindert, ihr religiöses Bedürfnis angemessen im Protestantismus zu befriedigen, wird die französische Bourgeoisie antiklerikal und irreligiös. Ihr religiöses Bedürfnis, da es sich nicht authentisch befriedigen kann, verschwindet einfach.

Kann man im Ernst über diese Kinderfabel diskutieren, die sogar noch weit hinter einer irgendwie ernst zu nehmenden bürgerlich-idealistischen Erklärung der Geschichte der Reformation zurückbleibt? Selbst die bürgerlichen Kirchen- und Dogmen-Geschichte hat von den Beziehungen der kirchlichen und dogmatischen Entwicklung zum materiellen Leben der Zeit in einem etwas reicheren und inhaltsvolleren Sinne Kenntnis nehmen müssen, wenn sie auch diese Zusammenhänge, wie nicht anders zu erwarten, in der verkehrten idealistischen Form darstellt, wo nicht etwa die bürgerliche Entwicklung unter bestimmten geschichtlichen Bedingungen sich etwa im Kalvinismus, seiner Organisation und seinen Dogmen ausdrückt, sondern wo, umgekehrt, eine bestimmte religiöse Entwicklung die Vorbedingungen für den Kapitalismus schafft, (s. Max Weber) Im übrigen wird diese phänomenologische kindliche Konstruktion durch einige wohlbekannte Tatsachen glatt über den Haufen geworfen.

Die „Außerweltlichkeit“ Gottes ist bekanntlich ebenso offizielles Dogma der protestantischen wie der katholischen Kirche. Umgekehrt durchzieht die „Innerweltlichkeit“ Gottes das ganze katholische Mittelalter als Lehre der Mystiker, in allen Ländern des Katholizismus. Die protestantische Mystik, die Fortsetzung der mittelalterlichen katholischen, war nie offizielle Kirchenlehre. Sie war immer nur eine der Strömungen oder Richtungen innerhalb des Protestantismus.

Ferner, es ist heute ein historischer Gemeinplatz, daß auch im Rahmen der katholischen Kirche selbst im Anschluß und als Gegenwehr gegen den Protestantismus sich innere Reformen durchsetzen, die dem bürgerlichen Bedürfnis entsprachen.

Wenn die Irreligiosität der französischen Bourgeoisie des 18. Jahrhunderts steh dadurch erklären soll, daß sie zwangsweise verhindert wurde, Protestanten zu sein, wie erklärt sich dann, daß die radikalste Kritik am Christentum und an der Religion überhaupt im 19. Jahrhundert in Deutschland gerade auf dem Boden des Protestantismus entstanden ist? Es genügen die Namen Friedrich Strauss, Bruno Bauer, Ludwig Feuerbach zu nennen, die alle Protestanten waren und ihre Kritik am Protestantismus anknüpften.

Wie erklärt sich „phänomenologisch“, daß dieselbe französische Bourgeoisie, die im 18. Jahrhundert ihr religiöses Bedürfnis verliert, weil sie es nicht in protestantischer Gestalt ausdrücken kann, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und im 20. Jahrhundert plötzlich wieder kirchlich und religiös wird – und zwar katholisch?

Wir können es uns ersparen, die naheliegenden und wohlbekannten historisch-materialistischen Erklärungen dieser Dinge hierzu wiederholen.

Zu einem Vergleich der phänomenologischen und der historisch-materialistischen Methode in der Religion und Kirchengeschichte sei es uns erlaubt, eine Stelle aus Antonio Labriolas Kleiner Schrift über den Historischen Materialismus anzuführen. Es handelt sich dabei natürlich nur um eine ganz summarische Behandlung. Die Stelle lautet:

„Denn, wenn wir uns auf einen Standpunkt stellen, der auf der anderen Seite der ideologischen Ansichten steht, vermöge dessen die Akteure der Geschichte Bewußtsein ihres Werks hatten, und worin sie im einzelnen das Motiv und die Rechtfertigung ihres Handelns fanden, so könnten wir in die irrige Meinung verfallen, daß die ideologischen Ansichten ein bloßer Schein waren, ein einfaches Manöver, eine bloße Illusion im gewöhnlichen Sinne dieses Wortes. Martin Luther, um ein Beispiel davon zu geben, wie auch die übrigen gleichzeitigen großen Reformatoren, wußte nie, wie wir heute wissen, daß der Antrieb der Reformation eine Stufe der Bildung des „dritten Standes“ und einer wirtschaftlichen Kurie war. Luther war der, der er war, als Agitator und Politiker, weil er glaubte, daß der Antrieb der Massen, die die Agitation bewegte, eine Rückkehr zum wahren Christentum und ein göttlicher Eingriff in den gewöhnlichen Lauf der Dinge sei. Das Studium der Wirkungen auf längere Sicht und die Stärkung des städtischen Bürgertums gegen die Feudalherren und das Wachstum der Landesfürsten auf Kosten der internationalen und der überterritorialen Macht des Kaisers und des Papstes, wie die gewaltsame Unterdrückung der Bauernbewegung und der ausgesprochen proletarischen Bewegung der Wiedertäufer, erlauben uns heute, die wahre Geschichte der wirtschaftlichen Ursachen der Reformation wiederherzustellen vor allem ihres Erfolgs, was der beste Beweis ist. Aber das heißt nicht, daß es uns möglich sei, das Geschehnis zu trennen von der Art, wie es geschah und die Gesamtheit der Umstände, die dabei zusammenwirken, vermöge einer nachträglichen Analyse, die subjektiv und simplizistisch ist, aufzulösen ... Aber das Ereignis geschah genau wie es geschah, daß es diese bestimmten Formen annahm, daß es diese Tracht anlegte, daß es in diesem Fanatismus seine Erklärung findet: darin besteht die Besonderheit seiner Umstände, die keine Absicht der Analyse veranlassen kann, aufzuhören, das zu sein, was sie waren. Nur die Liebe zum Paradox, die immer unzertrennbar ist von dem Eifer der leidenschaftlichen Vertreter einer neuen Lehre, kann einige zu dem Glauben veranlaßt haben, es genüge, nur den ökonomischen Moment nachzuweisen, (das nicht immer sicher und zuweilen nicht immer festzustellen ist), indem man den ganzen Rest als unnützen Plunder beiseite wirft, mit dem die Menschen sich willkürlich belastet haben, als Zutat oder als einfache Bagatelle, oder als etwas Nicht-Seiendes.“ (Antonio Labriola, Del materialismo historico, Valencia s.a., p.22/23).

Der Vergleich zeigt, denken wir, zweierlei: Erstens, daß die phänomenologische Kritik am historischen Materialismus an eine Karikatur von ihm anknüpft, und zweitens, daß der phänomenologische Erklärungsversuch des Verfassers an der Reformation eine wahre Kinderei ist – und zwar nicht nur wegen des Mangels an Kenntnis der einschlägigen Tatsachen, sondern wesentlich vermag die Methode selbst, die da als bei einem Letzten stehenbleibt, wo die Fragen erst anfangen: nämlich über das Warum und Wie geschichtlich gegebener Inhalte und Formen des Bewußtseins.
 

9. Die phänomenologische und wirkliche Revolution

Die zweite Anwendung der Methode betrifft die Theorie der Revolution. Die entscheidende Stelle darüber lautet:

  1. „Der Lauf der Geschichte erklärt sich nur durch den Klassenkampf, dessen Dialektik sich auf der Autonomie der Überbauten gründet. Die Produktionsbeziehungen müssen sich ändern, wenn sie von den Produktivkräften überholt sind. Aber diese Änderung erfordert einen Kampf und verwirklicht sich in Gestalt einer Revolution, gerade weil die alten Beziehungen sich erhalten dank dem enormen Überbau, der darauf beharrt zu leben, während er seine wirtschaftliche Grundlage verloren hat“.

Wie einfach sich die Dinge in der phänomenologischen Beleuchtung darstellen. Vermöge seiner „Autonomie“ beharrt der alte Überbau, während der Unterbau sich verändert hat. Die Revolution ist der Kampf zwischen Überbau und Unterbau, durch den ein neuer Unterbau geschaffen wird – neue Produktionsbeziehungen.

Man sieht auf den ersten Blick, daß man es hier mit einer idealistischen Theorie der Revolution zu tun hat. Wo anders als im Idealismus ist ein Überbau, ja, ein enormer Überbau möglich, der seine ökonomische Grundlage verloren hat? Diese „Theorie“ ist ein wahres Rattennest von sinnlosen Widersprüchen. Wohin gehören die Produktionsbeziehungen? Doch wohl zum „Unterbau“. Sie sind das Verhältnis der Klassen einer gegebenen Gesellschaft zu den entscheidenden Produktionsmitteln. Der Widerspruch zwischen Produktionsbeziehungen und Produktivkräften ist also ein Widerspruch im Unterbau der Wirtschaft selbst. Weiter: der „Überbau“ beharrt, während er seine „ökonomische Grundlage“ verloren hat. Wie kann er dann die alten Produktionsbeziehungen, die zum nicht mehr existierenden Unterbau gehören, erhalten? Wenn er sie aber erhält, so hat er doch wohl noch eine ökonomische Grundlage. Ferner: Wenn der „Überbau“ den alten Produktionsbeziehungen entspricht, woher kommt dann die Kraft, um diese Produktionsbeziehungen zu ändern? Es ist der revolutionäre Klassenkampf, der die Produktionsbeziehungen ändert. Der revolutionäre Klassenkampf ist ein politischer Kampf, der Kampf um die Staatsmacht. Die Staatsmacht gehört doch wohl zum „Überbau“. Aus dem Überbau kommt also die aktive Kraft der Revolution, die den ökonomischen Unterbau ändert, umstürzt: aber zugleich ist der „enorme Überbau“ die erhaltende Kraft für die alten Produktionsbeziehungen. Dies sind zweifellos Widersprüche, aber Überbauten, in denen sich die idealistische Grundeinstellung der Phänomenologen ausdrückt.

Oder vielleicht ist der „Unterbau“, die Ökonomie, ebenso autonom wie die „Überbauten“, und der revolutionäre Zusammenstoß ist der Zusammenstoß zweier Autonomien?

Aber wer Zusammenstoß sagt, sagt ursächlicher Zusammenhang, setzt die beiden Reihen, um die es sich handelt, entweder in das Verhältnis von Ursache und Wirkung oder von Wechselwirkung. Aber dann ist die Autonomie aufgehoben, die doch wohl die selbständige, unabhängige Gesetzlichkeit von verschiedenen Reihen von Tatsachen ist. Entweder hat also die Revolution zu fallen, oder die Autonomie. Die bloß verschiedene Gesetzlichkeit der beiden Sphären kann nicht gemeint sein, denn der Unterschied enthält die Identität, einen gemeinsam ursächlichen Zusammenhang, wodurch die Einwirkung beider verschiedener Sphären aufeinander erst möglich wird. Aber es ist ja gerade das Grunddogma der Phänomenologen, daß ein ursächliches Verhältnis zwischen den beiden Sphären ausgeschlossen sein soll. Ihre Gesetzlichkeit ist also nicht nur vermieden, sondern toto coelo verschieden. Sie sind ohne Zusammenhang unter sich wie die Leibnitz’schen Monaden, der erscheinende Zusammenhang ist nur falscher Schein, Täuschung; und nur ein ständiges göttliches Wunder kann den Zusammenhang zwischen Zusammenhanglosem stiften. Der Zusammenhang, der auf natürliche und materielle Weise nicht Zustandekommen kann, kann also nur auf übernatürliche ideelle Weise Zustandekommen.

Die phänomenologische Methode scheitert so hoffnungslos am Problem der Revolution. Stellen wir kurz die Zusammenhänge vom Kopf auf die Füße, so entwirrt sich der ideelle Rattenkönig. [1]

Und zwar sind die Verhältnisse verschieden bei der bürgerlichen und bei der sozialistischen Revolution. Bei der bürgerlichen Revolution entwickeln sich kapitalistische Produktionsformen neben den feudalen im Schöße der feudalen Gesellschaft selbst: Das Geldkapital, das Handelskapital und das industrielle Kapital in Gestalt der Manufaktur tritt neben das zünftige Handwerk in der Stadt. Auf dem Lande dominiert die feudale Landwirtschaft, aber es entwickeln sich dort bereits Inseln selbständiger bäuerlicher Wirtschaft.

So ist hier der Widerspruch im wirtschaftlichen Unterbau. Aber er ist es auch im Überbau. Den feudalen Klassen treten die bürgerlichen Klassen gegenüber, sie gewinnen die politische Führung aller nicht-feudalen Klassen. Die bürgerlich-revolutionäre Ideologie trägt in den großen Massen der Bevölkerung den Sieg davon über die Feudal-Reaktionäre. Es sind die feudalen Klassen – die keineswegs ökonomisch in der Luft hängen – die vor allem über die Staatsmacht verfügen (ein sehr wesentliches Stück des Überbaus), die die alten feudalen Produktionsbeziehungen erhalten wollen, weil sie die wirtschaftlichen Grundlagen ihrer privilegierten Klassenstellung [sind.] Es sind die bürgerlichen Klassen, als Führer des Volks, die die alten Produktionsbeziehungen berennen, den Teil des Überbaus erobern, der Staatsmacht heißt und mittels der revolutionären Staatsmacht, die noch bestehenden feudalen Produktionsbeziehungen, vor allem die Zünfte in der Stadt, die feudale Landwirtschaft usw. aufheben. Und nachdem sie die alten feudalen Wirtschaftsformen tatsächlich aufgelöst haben mittels des revolutionären Kampfes um die Staatsmacht, in Verbindung mit dem unmittelbaren Eingriff der bäuerlichen Massen in das feudale Eigentum auf dem Lande, setzen sie das bürgerliche Recht an die Stelle des feudalen Rechtes, was wiederum ein Stück Änderung des Überbaus ist. Prüfen wir nun diese Skizze der wesentlichen Züge der bürgerlichen Revolution in Bezug auf das phänomenologische Schema vom Verhältnis des Unterbaus zum Überbau, deren Konflikt das Wesentliche der Sache ausmachen soll und von der „Autonomie“ der beiden Sphäre, so sehen wir

  1. daß der Widersinn in beiden Sphären auftritt, dem Unterbau und dem Überbau,
  2. daß der Widerspruch in der ökonomischen Sphäre das Grundlegende ist, und daß die Widersprüche im Überbau davon abgeleitet sind.
  3. daß beide Sphären in der energischen und mannigfaltigsten Wechselwirkung miteinander stehen,
  4. daß die einzelnen Teile des Überbaus eine sehr verschiedene Rolle spielen. Der absolutistische Staat ist ein Teil des Überbaus. In der Periode der Revolution setzt er sich für die feudalen Klassen ein, er setzt Himmel und Hölle in Bewegung für die Erhaltung ihrer ökonomischen Stellung und ihrer politischen Macht. Die Ideologen im engeren Sinne des Wortes gehören auch zum Oberbau, und zwar bilden sie sozusagen sein oberstes Stockwerk. Die revolutionären Ideologien haben eine wesentliche Rolle zu spielen, sowohl im Kampf gegen die feudale Wirtschaftsbasis (Unterbau), wie gegen den absolutistischen Staat (Überbau) und gegen die feudal organisierte Kirche (die als ökonomische Potenz ein Teil des feudalen Unterbaus, als Trägerin einer bestimmten Ideologie einen Teil des feudalen Unterbaues, bildet).
  5. Der revolutionäre Kampf selbst wendet sich teils unmittelbar gegen die feudale Wirtschaft (der Aufstand der Bauern gegen die feudalen Grundbesitzer, die spontane Enteignung und Aufteilung des Großgrundbesitzerlandes usw.), teils unmittelbar gegen den Überbau (der politische Kampf gegen die absolutistische Staatsmacht) und mittelbar gegen den alten Unterbau (durch die revolutionäre Staatsgewalt).
  6. Der Widerspruch im ökonomischen Unterbau tritt hier in der Form auf, daß die kapitalistische Wirtschaftsform neben der feudalen existiert, daß sie in ihrer Entfaltung durch die feudale Wirtschaftsform gehemmt ist, und daß sie ihrerseits die alte Wirtschaftsform zersetzt. Das Nebeneinander der beiden gegensätzlichen Wirtschaftsformen führt an einem gewissen Punkt zu einem absoluten Rückgang der Produktion im ganzen: keine der bestehenden Klassen kann mehr leben unter dem Weiterbestehen dieses Gegensatzes, die aktive Kraft der Revolution können aber nur die Klassen stellen, die sowohl am stärksten leiden unter diesem Gegensatz, als auch die Kraft darstellen, die zur neuen Wirtschafts- und Gesellschaftsform positiv weiterführt.

Schließlich, um den toten Schematismus der phänomenologischen Theorie der Revolution noch weiter zu beleuchten, genügt es, die einfache Frage aufzuwerten: Wohin gehören dann die Klassen, die Träger des Klassenkampfes in Bezug auf Über- und Unterbau? Als wirtschaftliche Agenten gehören sie zweifellos zum Unterbau. Als politische Agenten gehören sie zum Überbau. Als Träger der Klassenideologie gehören sie zum obersten Stockwerk des Überbaus. Wie können Unterbau und Überbau autonom sein, wo sie nur verschiedene Seiten des Handeln eines und desselben kollektiven Subjektes darstellen?

Das besagt keineswegs, daß die Unterscheidung zwischen Überbau und Unterbau falsch oder unwesentlich ist. Aber es besagt jedenfalls, daß die Behauptung der Autonomie dieser beiden Seiten unsinnig ist, denn sie setzte voraus das Bestehen verschiedener Seiten des Handelns in einem und demselben Subjekt, ohne daß diese Seiten einen natürlichen kausalen Zusammenhang hätten.

Man kann diesen Zusammenhang idealistisch fassen, wie Hegel, wo etwa alle Seiten des griechischen Lebens unter eine ideelle Formel gebracht werden, man kann ihn materialistisch fassen, wie im historischen Materialismus. Aber ihn schlechthin aufheben, ist ein Widersinn, der Bankrott alles geschichtlichen Begreifens. Wenn für Hegel die Geschichte die Verwirklichung der Vernunft ist, so ist sie hier die existierende Unvernunft, die allenfalls beschrieben aber nicht begriffen werden kann.

Fassen wir nun den Widerspruch im ökonomischen Unterbau der kapitalistischen Gesellschaft ins Auge. Er ist spezifisch anderer Art als der Widerspruch in der niedergehenden feudalen Gesellschaft.

Die sozialistische Produktionsweise kann nicht in größerem Umfang im Rahmen der kapitalistischen, neben ihr, sich entwickeln und auf längere Zelt bestehen. Der Grund ist einfach. Der kapitalistisch-industrielle Betrieb ist zunächst als einzelner Betrieb entstanden. Er kann, auf Grund seiner wirtschaftlichen Natur, als Einsprengsel in anderen Wirtschaftsformen, darunter auch der feudalen, entstehen und bestehen. Der kapitalistische Wirtschaftssektor, der auf dem Boden der feudalen Wirtschaft entstand, ist zunächst nur eine Summe einzelner und vereinzelter Betriebe.

Die sozialistische Wirtschaft ist aber ihrem Wesen und ihren Lebensbedingungen nach von vornherein und unmittelbar gesellschaftlich. Die einzelnen Teile dieser Wirtschaft sind bestimmt und beherrscht vom Ganzen her.

Dies geht soweit, daß sie nur als sozialistische Weltwirtschaft ihre angemessene Form annehmen kann und nur als solche endgültig gesichert ist.

Der grundlegende Widerspruch im Unterbau der kapitalistischen Gesellschaft, von dem alle übrigen ökonomischen Widersprüche abgeleitet sind, ist der zwischen der gesellschaftlichen Form der Produktion und der individuellen Form der Aneignung, im Sinne der Trennung der wirklichen Produzenten und der Aneigner des gesellschaftlichen Produktes. Dieser grundlegende Widerspruch erscheint im Überbau als der Widerspruch zwischen der kapitalistischen Klasse, die die individuelle Aneignung darstellt (auch wenn der kapitalistische Staat die meisten Funktionen der Unternehmerklasse übernimmt) und der Arbeiterklasse, die der unmittelbare Agent der gesellschaftlichen Form der Produktion ist.

Es erübrigt sich, hier im einzelnen das phänomenologische Schema zu prüfen, seine Sinnlosigkeit liegt auf der Hand.

Der Überbau, der keine ökonomische Basis mehr haben soll, ist im Falle der sozialistischen Revolution noch unsinniger als im Falle der bürgerlichen Revolution. Was ist der kapitalistische Staat im Zeitalter der kapitalistischen Monopole, der großen Korporationen, Trusts, Syndikate usw. anderes, als das ausführende Werkzeug dieser Monopole? Und haben wir nicht im Kriege gesehen, wie die Leiter dieser Monopole unmittelbar und persönlich sich in die staatliche Leitung der Gesamtwirtschaft verwandeln. Verschmilzt hier nicht geradezu der kapitalistische Staat (Überbau) mit der kapitalistischen Wirtschaft (Unterbau) zu einem riesigen einheitlichen Ganzen? Und haben wir nicht gesehen, wie die gesamte „Ideologie“ (Presse, Radio, Schulen, Kirchen, Wissenschaft, Kunst usw.) statt der phänomenologischen Vorschrift entsprechend autonom zu sein, sich in ein einfaches Department der Kriegsleitung verwandelten?

Der Krieg ist aber keine Abnormität, die den kapitalistischen Charakter der Gesellschaft aufhebt. Vielmehr erscheint in ihm der kapitalistische Charakter der Gesellschaft in der zugespitztesten Form.
 

10. Der historische Materialismus ist erst in seinen Anfängen

Wie man sieht, bedeutet die phänomenologische Methode, außer daß sie den historischen Materialismus von den Füßen auf den Kopf stellt, nicht nur keine Erweiterung oder Ergänzung der Methode des historischen Materialismus, sondern sie schneidet ein ungeheures Feld der Forschung auf historischem und gesellschaftlichem Gebiet methodisch ab, indem sie jede kausale Verbindung zwischen den ökonomischen Grundlagen und den Überbauten, darunter auch den Ideologien im engeren Sinne des Wortes, verneint.

Und gerade hier wartet noch ein riesiges Feld der wissenschaftlichen Bearbeitung. Der historische Materialismus ist erst in seinen Anfängen, obwohl es nun rund hundert Jahre sind, daß er entstanden ist. Der Bearbeiter sind wenige, und sie wurden bis heute, und werden noch geraume Zeit, durch die unmittelbarsten und dringendsten Bedürfnisse des proletarischen Klassenkampfes in Anspruch genommen. Schon Antonio Labriola hat darauf hingewiesen, indem er seinen Vergleich zog zwischen der Bearbeitung der Darwin’schen Theorie und der des historischen Materialismus. Der Unterschied ist kein Zufall. Die Darwinsche Theorie, sowie die späteren Theorien der Entwicklung der Lebewesen fügen sich noch in den Rahmen der bürgerlichen offiziellen Wissenschaft. Die ganze Armee der bürgerlichen Wissenschaft steht ihr zur Verfügung. Der historische Materialismus aber ist revolutionär gegenüber der bürgerlichen Gesellschaft. Sie hat nicht nur kein Interesse, ihn zu fördern, vielmehr spannt sie im Interesse der Selbsterhaltung alle ihre intellektuellen Kräfte an, ihn zu bekämpfen. Darunter auch, und nicht zuletzt, die „Philosophie“. Man kann sogar sagen, daß ganze Gebiete der bürgerlichen Wissenschaft beherrscht sind von dem Streben, den historischen Materialismus zu bekämpfen, zu diskreditieren, zu fälschen oder ihm die Knochen zu erweichen. Heute, wo die bürgerliche Gesellschaft sich im Handgemenge mit der sozialistischen Revolution befindet, wo sie sich dem Entscheidungskampf nähert, wird auch der ideelle oder ideologische Kampf umso erbitterter. Und wie sie in Gestalt des Faschismus der Konterrevolution einen revolutionären Schein zu geben sucht, so auch auf dem ideellen Gebiet. Der philosophische Idealismus tritt auf in materialistischer oder halbmaterialistischer Maskerade. Die Dialektik taucht hier wieder auf, aber von den Füßen, auf die sie Marx-Engels gestellt, wieder auf den Kopf gestellt, noch tiefer mystifiziert als selbst bei Hegel, und aus einer Methode des vernünftigen Denkens in eine Methode und Apologie der dumpfen, vernunftlosen Instinkte der Selbsterhaltung einer Klasse verwandelt, die sich selbst des Lichts der Vernunft berauben muß, um gegen den Strom der historischen Vernunft ankämpfen zu können.

Diese Lage hat es mit sich gebracht, daß die Formen, in denen sich die materiellen gesellschaftlichen Verhältnisse in den Köpfen der einzelnen Klassen in Ideelles umsetzen, fast noch nicht untersucht sind. Schon Friedrich Engels hat auf diesen Mangel hingewiesen, und in der Zwischenzeit ist hier noch sehr wenig geschehen, aus Gründen, die naheliegen. In diese Lücke stürzt sich mit Begier die ideologische oder idealistische bürgerliche Wissenschaft. Sie hat allerhand Material zutage gefördert, aber sie ist methodisch unfähig, es wirklich wissenschaftlich zu bewältigen und darzustellen, was nur geschehen kann in der Form der Ableitung der ideologischen Spiegelungen aus ihren materiellen Grundlagen. Die Feststellung des Verhältnisses der materiellen ideellen Reihen zueinander durch den historischen Materialismus ist grundlegend, ist methodisch entscheidend. Aber die Grundlage ist noch nicht das Gebäude selbst. Man erlaube uns, hier einen Vergleich aus dem Gebiet der Mathematik zu wählen. Die Feststellung, daß von zwei veränderlichen Größen (Variablen), die eine die unabhängige, die andere die abhängige Veränderliche ist, ist grundlegend für ihre Untersuchung. Aber man weiß von einer mathematischen Funktion noch wenig, wenn man nur dies weiß. Diese Feststellung ist der Anfang, aber auch nur der Anfang.

Nehmen wir ein Beispiel. Die Untersuchung der Kategorien des Denkens, die Erforschung ihres inneren Zusammenhangs im Einzelnen, mit der gesellschaftlichen und natürlichen materiellen Grundlage ist in der Hauptsache erst noch zu leisten. Es kommt hinzu die Frage ihrer geschichtlichen Entwicklung und die vergleichende Untersuchung ihrer Entwicklung bei verschiedenen Völkern und Kulturen, und ihrer gegenseitigen Beeinflussung. Diese Vorgeschichte führt zu den grammatischen Kategorien der Sprachen, ein ungeheures Material, das weit über jede geschriebene Geschichte in die menschliche Vorgeschichte zurückführt und das, von diesem Gesichtspunkt aus, noch nicht einmal äußerlich geordnet, geschweige denn analysiert, oder mit den gesellschaftlichen Verhältnissen und der Entwicklung der Arbeitstechnik in Beziehung gebracht ist.

Dies sind gewiß nicht heute die dringlichsten Aufgaben für den dialektischen Materialisten. Ich führe sie nur an, um denjenigen jungen Leuten, die mehr oder weniger gutgläubig sich von der bürgerlichen Wissenschaft einreden lassen, daß der historische oder dialektische Materialismus ein toter Hund, passé, sei und ersetzt oder ergänzt werden müsse durch den von ihnen in immer neuen Formen wieder aufgewärmten alten idealistischen Kohl: daß der historische oder dialektische Materialismus in Wahrheiterst in seinen Anfängen ist, daß hier ungeheure Stoffgebiete noch der Bearbeitung harren, und daß auch die Methode selbst erst im Rohzustand ist und erst im Zusammenhang mit weiterer Stoffbearbeitung weiter zu entwickeln ist.

Aber um an dieser Entwicklung aktiv teilzunehmen, muß man zu allererst den alten idealistischen Kohl vollständig hinter sich gelassen haben und entschlossen sich dem neuen Ausgangspunkt zuwenden, so wie man in der neueren Astronomie erst fortschreiten konnte, wenn und nachdem man vollständig mit dem ptolemäischen System gebrochen hatte und den Ausgangspunkt vom Standpunkt des Kopernikus nahm. Oder wie man in der Entwicklungsgeschichte der Organismen erst wirklich fortschreiten konnte, nachdem man mit dem Prinzip der Unveränderlichkeiten der Arten gebrochen hatte, und seinen Ausgangspunkt von Darwin nahm.

Der historische Materialismus seinerseits hat zum „Unterbau“ das Verhältnis der psychischen zu den physischen Vorgängen. Gehemmt durch die idealistischen Vorurteile, harren hier die allerelementarsten Fragen noch einer methodischen, materialistischen Inangriffnahme, geschweige denn der Beantwortung. Vielleicht müssen hier erst noch weitere Fortschritte der physikalischen und chemischen Forschung und der physiologischen Methoden hinzukommen, ehe hier auch nur die einfachsten Fragen wirklich wissenschaftlich in Angriff genommen werden können. Welche materiellen Vorgänge (um hier den allgemeinsten Ausdruck zu nehmen) entsprechen etwa der Weiterleitung eines Gesichtseindrucks durch die Nerven in den zentralen Nervenapparat höherer Tiere?Was entspricht materiell einer Gesichtsempfindung? Was entspricht materiell einer Vorstellung?, usw. usw.

In einer Zeit, wo Millionen von Dollars dazu verwandt werden, um Gase oder andere Mittel herzustellen, die erlauben sollen, die Nerventätigkeit feindlicher Armeen und damit ihre Tätigkeit überhaupt zu lahmen, ist da nicht viel zu erwarten.

Erst wenn in einer neuen Gesellschaft die dringendsten, elementarsten und materiellen Bedürfnisse befriedigt sein werden, wird der historische Materialismus und der Materialismus überhaupt ungehemmt seinen Flug zum Wissen um des Wissens willen, als der höchsten und würdigsten Tätigkeit der Menschheit, unternehmen und die elementarsten Fragen in Angriff nehmen können, die heute nicht einmal als Fragen der positiven Wissenschaft gestellt werden, und wo sich daher die „philosophische“, religiöse und sonstige ideologische und mystische Scharlatanerie ungehemmt breit machen kann.
 

11. Die veränderte Lage des Kleinbürgertums und ihre ideelle Spiegelung in Phänomenologie und Existentialismus

Die Feuerbach’sche Philosophie spiegelt die Lage des deutschen Kleinbürgertums gegenüber der herannahenden bürgerlichen Revolution wieder. In der Phänomenologie und dem Existentialismus spiegeln sich die veränderte Lage des Kleinbürgertums von heute, rund hundert Jahre später, wieder.

Worin bestehen die wesentlichen Veränderungen dieser Lage? Zu allererst hat sich die allgemeine Signatur der Zeit verändert und damit der Boden, auf dem sich die kleinbürgerlichen Klassen bewegen.

In Europa ist die Zeit der bürgerlichen Revolution längst abgelaufen. Der Kapitalismus ist dort nicht mehr nur im Niedergang, er ist im Untergang begriffen. Die allgemeine Signatur der Zeit ist der Gegensatz zwischen der sozialistischen Revolution und der kapitalistischen Gegenrevolution.

Dort, wo an sich die bürgerlich-demokratische Revolution [auf] der geschichtlichen Tagesordnung steht (z.B. in vielen Ländern des Ostens) wird diese Bewegung untergeordnet dem beherrschenden Gegensatz zwischen sozialistischer Revolution und kapitalistischer Gegenrevolution. Zugleich werden alle lokalen, kleinbürgerlichen Bewegungen untergeordnet dem Kampf zwischen der kapitalistischen Expansion, an deren Spitze der amerikanische Kapitalismus steht, und der sozialistischen Expansion unter der Führung der Sowjetunion. Alle revolutionären und gegen revolutionären Bewegungenwerden so unter diesem allgemeinen und beherrschenden Gegensatz der Zeit polarisiert.

Es sei dies an zwei Beispielen erläutert, die geographisch weit auseinander liegen: Spanien am westlichen, China am östlichen Ende des eurasiatischen Kontinents. Nehmt Spanien. An sich, aus den inneren Bedingungen dieses Landes heraus, ist dort die antifeudale bürgerlich-demokratische Revolution noch nachzuholen. Aber diese Bewegung ordnet sich heute der allgemeinen Auseinandersetzung zwischen sozialistischer Revolution und kapitalistischer Konterrevolution und gleichzeitig dem Gegensatz zwischen dem anglo-amerikanischen Block einerseits und der Sowjetunion mit ihrer Einflußsphäre andererseits unter.

China am anderen Ende steht unter demselben Gesetz. Daher sehen wir jetzt überall die Arbeiterklassen und ihre revolutionären Parteien als die führenden Kräfte auch der bürgerlich-demokratischen Revolution. Die bürgerlich-demokratischen Revolutionen, da wo sie noch durchzuführen sind, sind überall nur Momente des umfassenden und höheren Gegensatzes zwischen sozialistischer Revolution und kapitalistischer Gegenrevolution geworden.

Vor hundert Jahren waren die revolutionären sozialistischen Ausbrüche nur vorübergehende „Exzesse“ im Laufe der bürgerlich-demokratischen Revolution. Die Arbeiterklasse war praktisch ein Bestandteil des kleinbürgerlichen demokratischen Heerlagers. Heute sind umgekehrt bürgerlich-demokratische Revolutionen nur noch Durchgangsstufen zu sozialistischen Revolutionen (mit möglichen kürzeren oder längeren Pausen zwischen der Ouvertüre und dem Stück selbst).

So ist die allgemeine Situation des Kleinbürgertums heute sein Gegenüberstehen der sozialistischen Revolution. Das Kleinbürgertum von heute ist so eingezwängt zwischen Großbourgeoisie und Arbeiterklasse. Es gibt keinen Ausweg, keine Lösung mehr vom Boden des Kleinbürgertums. Von diesem Boden aus ist seine Stellung und sein Schicksal nicht einmal zu begreifen.

Alles was es tut, um sich als Kleinbürgertum wirtschaftlich und politisch zu erhalten, schlägt, es weiß nicht wie, in sein Gegenteil um. Es kann sich mit der bestehenden Lage nicht abfinden, die es zermalmt zwischen den Mühlsteinen des Monopolkapitalismus. So wird es also „revolutionär“ – in den Grenzen des Kleinbürgertums. Es erhebt die Fahne des kleinbürgerlichen Sozialismus. Es ist bereit, die äußerste Gewalt anzuwenden für die Erhaltung des kleinbürgerlichen Eigentums, der kleinbürgerlichen wirtschaftlichen Selbständigkeit, der kleinbürgerlichen politischen Selbstbestimmung, der kleinbürgerlichen Tradition und Kultur. Aber unter den gegebenen allgemeinen Zeitbedingungen ist das, was subjektiv als kleinbürgerliche Revolution vom Kleinbürger gemeint ist, objektiv die faschistische Konterrevolution. Um sein kleinbürgerliches Eigentum zu verteidigen, verteidigt der Kleinbürger das großbürgerliche Eigentum. Das kleinbürgerliche Eigentum wird nach dem Sieg der faschistischen Konterrevolution umso rascher, gründlicher und barbarischer vom Großkapital mit Hilfe des faschistischen Staates zerstört.

Anscheinend gewinnt das Kleinbürgertum in der faschistischen Konterrevolution die ausschließliche politische Macht. Es stellt überall die Masse der faschistischen Partei, den Führer-Diktator, und die lokalen Diktatoren, die „Gauleiter“. Sozial, klassenmäßig wird es nur umso unbedingter ausführendes Werkzeug des Großkapitals. Es sehnt sich nach dem Frieden, es bekommt den Krieg. Es hat die bürgerliche Demokratie zum alten Eisen geworfen aber jeder der Kleinbürger will Herr sein. Aber beim Führerprinzip ist jeder der neuen Herren bis auf den Höchsten zugleich der Sklave einer riesigen und blinden Parteimaschine. Die bürgerliche und kleinbürgerliche Tradition und Kultur gehen unter in der Rückkehr zur Barbarei des Urwalds. Die Religion wird heidnischer, primitiver Aberglaube. Der Patriotismus verwirklicht sich in der nationalen Kapitulation und dem nationalen Untergang. Die gewollte Herrschaft der eigenen Nation über alle anderen schlägt um in die Verfehmung der eigenen Nation durch die anderen.

Die Familie wird vom faschistischen Staat und der faschistischen Partei zersetzt und aufgelöst. Die sozialistische Revolution hebt auch das kleinbürgerliche individuelle Eigentum in der Perspektive auf – aber zugleich wird das Eigentum verwandelt in gesellschaftlich kollektives Eigentum.

Dies ist der einzige wirkliche Ausweg für das kleinbürgerliche Eigentum. Aber er geht über die Negation des individuellen Eigentums. Ebenso tritt an die Stelle der individuellen die kollektive wirtschaftliche Selbstbestimmung. Diese materielle Lage und ihre Widersprüche spiegeln sich charakteristisch ideell wieder. Die rationalen Gesetze der kapitalistischen Wirtschaft bestimmen den Untergang des Kleinbürgertums als Klasse. Daher wendet es sich dem Irrationalismus in seinen verschiedenen Formen zu. Die äußerste Form ist der reine Wunderglaube, und der Glaube an den wundertuenden allmächtigen „Retter“, der an die Zeiten der Zersetzung der antiken Gesellschaft erinnert, an das geistige Mittel, in dem das Christentum entstanden ist.

Das Kleinbürgertum bildet sich ein, über den Klassen zu stehen, weil es zwischen kapitalistischer und Arbeiterklasse steht. Der philosophische Ausdruck dieser Einbildung ist der subjektive Idealismus, der über den Gegensatz von Idealismus und Materialismus zu stehen glaubt. Dieser subjektive Idealismus sieht zugleich den Schein des Materialismus zu erwecken, sowie die faschistische Konterrevolution mit dem Schein der Revolution auftritt.

Als Reflex der Widersprüche, denen das Kleinbürgertum ausgesetzt ist, erscheint die Dialektik. Aber diese Widersprüche sind von ihm unbegriffene, unbeherrschte, blinde. Es ist daher irrationelle, mystische, idealistische Dialektik. Die „Autonomie der Ideologie“ führt so zum „Mythos“, oder der „Mystik“, in der politischen Praxis zum groben Betrug der „Masse“ durch die „Elite“. Für die phänomenologische „Revolution“ verschwindet der ökonomische Unterbau unter dem alten „Überbau“. So ist kein Gegenstand mehr vorhanden für die revolutionäre Umwälzung der Eigentumsverhältnisse. Es bleibt also beim bürgerlichen Eigentum, nur daß es vielfach die Hände wechselt. Ferner: Aus der Vorstellung, daß das Subjekt frei nach seinen Zwecken mit der kapitalistischen Wirtschaft schalten könne, ergibt sich als Folgerung der „Staatskapitalismus“, d.h. die Aufhebung des Privatkapitalismus auf dem Boden des Kapitalismus, [und] damit zugleich die äußerste Steigerung seiner inneren Widersprüche. Die Religion wird erhalten, indem sie entleert wird. Es ist die Religion, gleichgültig welche. Die Religion kann aber wirklich existieren nur als bestimmte Religion, jede [andere] ausschließend, abstoßend gegen alle anderen. Die Rettung der Religion „im allgemeinen“ ist zugleich ihre Verflüchtigung. Die Gleichgültigkeit gegen ihre bestimmte Form wird Gleichgültigkeit gegen die Religion überhaupt. Die Religion wird Mittel zum Zweck. Sie wird Staatszweck, auf derselben Stufe wie andere „Mythen“. Der konterrevolutionäre Terror spiegelt sich wieder in der Einbildung von der Allmacht des Subjektes, des Subjektes als Weltschöpfer. Das Objekt ist nichts. Es ist „mein Produkt“ und nur „mein Produkt“. Daher der Nihilismus, die unbegrenzte Zerstörungswut ... Der Untergang des „Subjekts“ ist der Weltuntergang.
 

12. Der Ausweg geht nur über die Negation

Nur der historische oder dialektische Materialismus, die auf dem Boden der Arbeiterklasse entwickelte Gesellschaftswissenschaft, erlaubt dem Kleinbürgertum, nicht nur die rationelle Einsicht in seine Lage und ihre Aussichten, sondern auch ein zweckmäßiges, revolutionäres Handeln als Klasse, eine wirkliche Beherrschung und Gestaltung seines eigenen Schicksals. Dieses schließt auf dem ideologischen Gebiete ein den vollständigen Bruch mit dem Idealismus, mit aller „Philosophie“, mit den „Traditionen“ des Kleinbürgertums. Was das Kleinbürgertum auf der individualistischen Grundlage verliert, gewinnt es auf der kollektiven Grundlage wieder, und es ist dies der einzige Weg dazu, mit Ausnahme allerdings seiner spezifischen Ideologien, einschließlich der Religion. Eine Gesellschaftsform, die im Prinzip und in steigendem Maße praktisch die Natur und ihr eigenes gesellschaftliches Leben rationell beherrscht, hat weder mehr Bedürfnis für Religion, noch für irgendeine andere Mystik. Ihren Platz nehmen Kunst und Wissenschaft ein.

Aber der Durchgang zu dieser höheren Stufe geht nur durch die Negation. Das ist eine harte Zumutung für das Kleinbürgertum. Der historische oder dialektische Materialismus wurzelt nicht in den materiellen Lebensbedingungen des Kleinbürgertums. Für die Klasse in ihrer Breite wird also in der Regel nicht der Bruch mit der ihr eigenen Ideologie der Ausgangspunkt für die revolutionäre Umstellung sein. Dies wird höchstens für einzelne zutreffen. Der Ausgangspunkt wird das revolutionäre Handeln sein unter dem gebieterischen Zwang äußerster materieller Nöte. Dies Handeln verändert die materiellen Bedingungen der Handelnden selbst, und wird in der Folge auch ihrem Denken neue Horizonte eröffnen und ihnen helfen, die Schalen ihrer „autonomen“ Ideologie zu sprengen. Die „sozialistische Gesellschaft“ bedarf weder mehr einer spezifisch kleinbürgerlichen, noch irgend einer anderen „Ideologie“.

„Wenn der Purpur fällt, so muß der Herzog nach.“ Schiller, Fiesco.

 

Fußnote

1. Rattenkönig: Ausdruck für nach der Geburt miteinander verklebte Schwänze junger Ratten im Nest. die sich nicht mehr voneinander lösen können.



Anmerkung der Herausgeber

Der vorliegende Text wurde anhand des vorhandenen Manuskriptes von A. Thalheimer veröffentlicht. Dabei sind bereits erfolgte frühere Veröffentlichungen des Textes unberücksichtigt geblieben.

Zur Vorbereitung der Herausgabe bedurfte es einer geringfügigen Überarbeitung des Manuskriptes, die sich hauptsächlich auf die Korrektur bzw. Ergänzung von Satzzeichen etc. beschränkte, wo dies zum Verständnis und der Lesbarkeit des Textes notwendig war. Die zum gleichen Zweck an einigen wenigen Stellen gemachten Einfügungen sind durch eckige Klammern [ ] gekennzeichnet.

Die vom Autor im Text angebrachten Unterteilungen, gekennzeichnet durch a), b), c), usw. stellen zum Teil Gliederungshilfen, zum Teil Ortsverweise auf den Aufsatz von Tran-Buc Tao dar. Ein entsprechender Anhang war jedoch dem Manuskript nicht beigefügt


Zuletzt aktualisiert am 18.7.2008