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Warum ist es nötig, die Frage des Jahres 1923, die Taktik und Strategie der Partei von damals noch zu klären? Nicht in erster Linie, um die damalige Führung der Partei zu rechtfertigen, zu verteidigen. Das ist kein sehr erhebliches Objekt. Es lohnt sich nicht, darum eine lange Diskussion zu führen. Was Brandler, Thalheimer usw., die damals (neben anderen!) an der Führung der Partei beteiligt waren, für Qualitäten in der Führung bewiesen haben, das ist keine Frage von hervorragender Bedeutung. Der Hauptzweck der Diskussion kann nur der sein, aus den wirklichen Fehlern, die im Jahre 1923 von der Partei gemacht worden sind, die wirklichen lehren für die proletarische Revolution zu ziehen. Es wird oft wiederholt, daß wir, die damalige Führung der Partei, überhaupt nicht zugeben wollen, daß irgendwie ernsthafte Fehler im Jahre 1923 gemacht worden seien. Das ist absolut nicht der Fall. Eine solche Meinung konnte nur deshalb entstehen, weil eine Reihe zum Teil ausführlicher Erklärungen, die wir in den Jahren 1923, 1924, 1925, 1926 und noch später an das ZK der Partei gemacht haben, gar nicht zur Kenntnis der Parteimitglieder gelangt sind, so daß diese darüber gar nicht informiert sind und glauben müssen, daß wir überhaupt keine Fehler zugeben. So ist die Lage nicht. Aber es handelt sich darum, festzustellen, welcher Art die Fehler gewesen und welche Lehren daraus für die Zukunft zu ziehen sind? Hier ruht die Hauptbedeutung dieser Frage. Die Ereignisse des Jahres 1923 haben eine allgemeine Bedeutung insofern, als die Fragen der Taktik und der Strategie von, damals keine einmaligen Fragen, sondern allgemeine Fragen der Taktik und Strategie der proletarischen Revolution darin enthalten sind. Daraus folgt, daß man über die Fragen der kommunistischen Bewegung in Deutschland nicht zur Klarheit gelangen wird, ehe diese Fragen, die nicht nur Fragen der Vergangenheit sind, restlos geklärt worden sind. Daß sie durch die bisherige Diskussion weder formal noch sachlich geklärt worden sind, wird am besten bewiesen durch die Tatsache, daß die Lehren, die man später in Deutschland aus den Ereignissen dieses Jahres gezogen hat, nämlich die Folgerungen von Ruth Fischer und Maslow: der ultralinke Kurs, nahezu zum Zusammenbruch der Partei geführt haben.
Der erste Offene Brief, der im Jahre 1925 von der Exekutive der Kommunistischen Internationale an die deutsche Partei gerichtet wurde, stellte die Mißerfolge des ultralinken Kurses der Ruth Fischer und Maslow wohl fest, hütete sich aber, die Legende, die über 1923 erdacht worden war, zu liquidieren und klarzustellen. Es wurde damals erklärt, nicht die Linke habe Bankrott gemacht, sondern einige linke Führer. Und so war es möglich, dem Kurs einige der schlimmsten Spitzen abzubrechen, einige der gröbsten praktischen Dinge zu liquidieren, worauf aber dann ein neuer verschärfter Rückfall in den ultralinken Kurs gefolgt ist. Dieser zweite Rückfall, in dem wir ja noch heute stehen, ist der experimentelle Beweis dafür, daß man ohne wirkliche Klärung der Ereignisse von 1923, also der Fragen des Weges der proletarischen Revolution in Deutschland, einen sicheren, klaren und festen Gang der Partei nicht erzielen kann. Die Geschichte läßt sich nicht prellen. Es ist nicht möglich, durch kleine Tricks und Legenden um eine endgültige und klare Abrechnung herumzukommen. Die Rechnung muß vollständig beglichen werden.
Wir fragen nun: Worin bestand die linke Oktoberlegende, auf der der ultralinke Kurs nach 1924 aufgebaut war, und die auch heute noch dazu dient, den ultralinken Kurs aufrechtzuerhalten und die Parteimitglieder abzuschrecken, unseren Argumenten Gehör zu schenken, indem immer wieder auf 1923 hingewiesen wird? Der Inhalt dieser ultralinken Legende läßt sich in wenige Worte zusammenfassen. Der Kern der Sache ist die Behauptung, daß das Jahr 1923 dem Jahr 1917 in Sowjetrußland gleichzusetzen sei, das heißt, die Behauptung, objektiv seien 1923 in Deutschland die Bedingungen für die proletarische Revolution ebenso reif gewesen wie 1917 in Rußland. Wenn in Rußland die Revolution siegte, dann dank der Führung der Partei durch das Zentral-Komitee mit Lenin an der Spitze. Wenn in Deutschland der Sieg im Jahre 1923 nicht erfochten wurde, dann aus dem Grunde, daß damals keine solche Partei und keine solche Führung bestand, daß die Führung grobe Fehler gemacht hat, daß sie die revolutionäre Situation „verschlafen“, „verpaßt“ habe oder sogar Verrat beging. So lautet die linke Legende. Weiter wird hinzugefügt, die damalige Führung der Partei habe im Jahre 1923 Verrat, Versäumnisse und Dummheiten begangen und dadurch die Revolution, die sonst objektiv reif war, vereitelt, weil sie opportunistisch eingestellt war. Die Taktik der Führung im Jahre 1923 sei die natürliche und notwendige Folge ihrer opportunistischen Einstellung gewesen, die sie auch in den Jahren zuvor bewiesen habe. Als Kernpunkte dieser „opportunistischen Einstellung“ werden folgende hervorgehoben: Erstens die Taktik der Einheitsfront, so wie sie die damalige Parteileitung und die Partei mit ihr betrieben haben. Sie wurde für falsch und opportunistisch erklärt. Zum Teil geschah dies direkt, indem man die Einheitsfronttaktik schlechtweg ablehnte, zum Teil in der Form, daß man sagte: Einheitsfronttaktik „von unten“ – was man auch darunter verstehen mag – ist erlaubt, Einheitsfront „von oben“ ist unerlaubt, weil opportunistisch. Ferner wird gesagt, daß die .damalige Leitung der Partei sich vorgestellt habe, daß man in einer Regierungs-Koalition mit der Sozialdemokratie die Macht erobern könne. Der Beweis dafür sei die Koalition mit der Sozialdemokratie in Sachsen und Thüringen, die wir eingegangen waren. Das dritte opportunistische Verbrechen bestand nach der linken Legende in der Vorstellung, daß man die Gewerkschaften von innen her für die kommunistischen Auffassungen solle erobern können. Die Losung der Eroberung der Gewerkschaften wurde im Frühjahr 1924 nach der Niederlage, als die linken Genossen durch das Land gingen, weit und breit für falsch erklärt. Ja, die Dinge gingen so weit, daß in Moskau in einer Konferenz im Januar 1924 von Maslow erklärt wurde, man müsse die Losung der Eroberung der Gewerkschaften aufgeben und ersetzen durch die Losung „Vernichtung der Gewerkschaften“. Die praktischen Folgerungen, die Maslow und die übrigen Ultralinken aus dieser Einschätzung des opportunistischen Kurses der vorherigen Zentrale gezogen haben, sind folgende. Erstens wurde als Lehre daraus gezogen, daß die Taktik der Einheitsfront aufgegeben werden müsse. Dies geschah unter dem Titel „Einheitsfront von unten“. Unter der Maske der Einheitsfront „von unten“ wurde tatsächlich die Einheitsfront überhaupt aufgegeben. Denn darunter verstand man, daß man überhaupt nicht mehr an proletarische Organisationen, an Gewerkschaften sowie an die unteren Organisationen der Sozialdemokratie herangehen dürfe, sondern die Einheitsfront von unten wurde so aufgefaßt, daß man versuchte, die sozialdemokratischen, christlichen und andere Arbeiter direkt, ohne Berücksichtigung der Tatsache ihrer Organisiertheit, zu gemeinsamen Aktionen mit der Kommunistischen Partei zu gewinnen. Wenn das Einheitsfront ist, so wäre es seht einfach. Aber das Besondere in der Aufgabe der Kommunistischen Partei in Deutschland und einer Reihe anderer Länder besteht doch eben darin, daß in. der Arbeiterbewegung zwei Richtungen existieren, und daß es sich um die praktische Lösung der Frage handelt: wie kann man gemeinsame Aktionen der Arbeiterschaft erzielen trotz grundsätzlicher Gegensätze? Wie kann man die Arbeiter in ihren Teilkämpfen zusammenführen? In einer Situation, wo nur eine politische Arbeiterbewegung existiert wie vor dem Kriege, entsteht solch eine Frage überhaupt nicht. Es ist das ein spezifisches Problem der Nachkriegszeit, das man nicht einfach abtun kann, indem man es ignoriert.
Weiter wurde die Folgerung gezogen, man dürfe nur Endlosungen aufstellen. Als allgemeine Losung wurde für die Zeit nach 1924 aufgestellt: „Organisierung der Revolution“, wobei auch das vollkommen falsch verstanden wurde. Am verhängnisvollsten wirkten sich diese ultralinken Folgerungen aus dem Jahre 1923 in der Gewerkschaftsarbeit aus. Ich erwähnte schon, daß Maslow im Januar 1924 in Moskau auf einer Konferenz die „Vernichtung der Gewerkschaften“ vorschlug. Es ist sehr bezeichnend, daß ein Mann wie Tomski, der lange Jahre Führer der russischen Gewerkschaften war, diese Losung zunächst annahm. Das zeigt, daß er keine wirkliche Vorstellung von den Kampfbedingungen der Gewerkschaften im Westen hatte. Diese grobe Formulierung wurde nachher korrigiert, aber in den Formulierungen über die Gewerkschaftsfrage blieben dann doch noch solche Schlupflöcher, daß es möglich war, eine geraume Zeit hindurch einen ultralinken Gewerkschaftskurs zu betreiben und auf die Gründung neuer Gewerkschaften hinzusteuern. Eine Handhabe hierfür bot die Formel: „Organisierung der Unorganisierten“. Die Folge war, daß der Einfluß der Partei in den Gewerkschaften, der im Jahre 1923 einen Höhepunkt erreicht hatte, mehr und mehr sank und fast vernichtet wurde.
Eine weitere Folgerung, die man aus 1923 zog, war die, daß erst mit dem Jahre 1924, mit dem Auftreten von Maslow und Ruth Fischer, die „Bolschewisierung“ beginne. Alles, was die Partei bisher getan hatte, und zwar gerade in den stürmischen Revolutionsjahren 1918-1923 und während des Krieges, war nach der linken Legende mehr oder weniger, Opportunismus. Jetzt erst beginne die wahrhafte Bolschewisierung. Daraus zog man die weitere Folgerung, daß man die alten Kader der Partei abstoßen müsse, daß die Partei sich hauptsächlich stützen müsse auf die jüngeren Kader, die noch nicht das Unglück gehabt hätten, durch die Schule des Spartakusbundes gegangen zu sein. Diese „Bolschewisierung“ führte zur Errichtung. eines Gewaltregiments in der Partei; zur Erstickung jeder freien Diskussion und jeder Kontrolle der Führung durch die Mitglieder. Das galt als „bolschewistisch“, bis der Offene Brief der Exekutive der Kommunistischen Internationale des Jahres 1925 die „Normalisierung des Parteilebens“ verlangte und das Parteiregiment, das Maslow und Ruth Fischer unter Beihilfe und Duldung der Exekutive eingeführt hatten, als eine wahre Karikatur auf das Wesen und die Bedürfnisse einer kommunistischen Partei bezeichnete.
Das sind; die praktischen Wirkungen der linken Legende über die Ereignisse des Jahres 1923, über die Politik der damaligen Parteiführung und die opportunistischen Sünden, die zu dieser Politik geführt haben. Wenn man solche praktischen Folgerungen vor sich hat, so läßt dies unbedingt darauf schließen, daß die theoretische Grundlage, auf der diese Folgerungen beruhen, nicht haltbar ist.
Wie entstand diese linke Legende? Dafür will ich einige dokumentarische Beweise anführen, einige Tatsachen, die auf die Methoden in der Führung der Kommunistischen Internationale, ein Licht werfen. Diese Tatsachen sind bis heute den meisten Genossen entweder unbekannt geblieben oder sie haben sie zum Teil wieder vergessen. Deshalb muß man sie wieder anführen. Da will ich zuerst die Tatsache erwähnen, daß bis in den Dezember 1923 hinein, also noch nach dem Oktoberrückzug von 1923, der damalige Führer der Kommunistischen Intertiationale, Sinowjew, wiederholt mündlich und schriftlich erklärt hat, daß die Taktik, die die KPD im Jahre 1923 eingeschlagen hat, im wesentlichen richtig sei. Diese Ansicht wurde ausdrücklich noch ausgesprochen in einer Reihe von Aufsätzen in der Prawda, die dann unter dem Titel Probleme der deutschen Revolution noch nach dem Oktober in deutscher Sprache veröffentlicht und in Deutschland verbreitet worden sind. Ich will eine Stelle hier anführen. Sinowjew sagt hier über die Taktik, die die Führung der deutschen Partei im Jahre 1923 eingeschlagen hatte, folgendes:
Es besteht nicht der geringste Zweifel, daß die deutsche Kommunistische Partei die Einheitsfronttaktik im großen und ganzen mit großem Erfolg angewendet hat. Durch die richtige Anwendung dieser Taktik hat die Kommunistische Partei die Mehrheit der deutschen Arbeiter erobert – ein Erfolg, von dem vor zwei, drei Jahren auch nur zu träumen schwierig war. (S.68.)
Es ist nicht gelungen, im Laufe des Jahres 1923 durch die Taktik der Einheitsfront die Mehrheit der deutschen Arbeiter für den Kampf um die Macht zu erobern. Aber eines ist richtig: ohne die Erfolge, die man durch die Taktik der Einheitsfront erzielt hat, hätte im Jahre 1923 die Frage der Machteroberung überhaupt nicht gestellt werden können. Kein Mensch hätte das wagen können, wenn wir etwa in den Gewerkschaften, im Metallarbeiter- und anderen Verbänden nur den Einfluß gehabt hätten, den die Partei unter Ruth Fischer oder heute in den Gewerkschaften hat. Nur durch die kolossalen Fortschritte, die wir durch diese Taktik gemacht hatten, konnte diese Frage überhaupt gestellt werden. Dann will ich noch einen zweiten Zeugen anführen, der – auch nach dem Oktober 1923 noch – dafür eintrat, daß die Taktik und Strategie, die die damalige Parteiführung eingeschlagen hat, im Grunde richtig war. Dieser Zeuge heißt Hermann Remmele. Die Stelle, die ich hier zitiere, ist entnommen den Ausführungen, die Hermann Remmele in der Sitzung vom 11. Januar 1924 des Exekutiv-Komitees mit den deutschen Genossen gemacht hat. Also, im Januar 1924 hat Hermann Remmele folgende Ausführungen gemacht:
Ich will darauf verweisen, daß zur Zeit der faschistischen Bewegung nicht etwa nur in Stuttgart, sondern auch in Mitteldeutschland, im Norden, Westen und Osten des Reiches überall die Demonstrationen durchgeführt wurden, trotz der Verbote. Wir haben dann in Thüringen, in Mitteldeutschland im Juli, in den Augusttagen die Verhältnisse gehabt, daß dit Arbeiter die Ernährung vollständig in die Hand genommen haben, Lastautomobile beschlagnahmten, auf das Land fuhren, um sich Lebensmittel direkt von den Bauern zu holen, so daß niemand mehr im Zweifel sein konnte, daß man unmittelbar vor großen Ereignissen stand. Zweifellos war der Cuno-Streik der Höhepunkt der Bewegung, aber nach meiner inneren Überzeugung war er auch der Wendepunkt in der Bewegung. Indem die Sozialdemokraten in die Große Koalition eingetreten sind, sind die sozialdemokratischen Arbeiter wieder mit Illusionen erfüllt worden.
Mitte August ist gewissermaßen durch den Eintritt der Sozialdemokraten in die Regierung ein Abebben der revolutionären Hochflut eingetreten. Wenn wir uns mit den Sozialdemokraten auseinandersetzten, zeigte sich, daß sie neue Hoffnung auf den Eintritt Hilferdings in die Regierung gesetzt hatten. Sozialdemokraten, die spontan in all den Kämpfen bei uns standen, die den Cuno-Streik mitgemacht hatten, alle diese Massen waren von neuen Illusionen erfüllt worden ...
Der Beschluß, daß unsere sächsischen Genossen in die Regierung eintreten sollen, ist allerdings durch Berichte und Darstellungen zustandegekommen, die der Grundlage entbehrt haben. Man hat diesen Beschluß auf Grund der Anschauung gefaßt, daß bereits eine Bewaffnung und Mobilisierung der Partei und der Massen in einem solchen Grad vorhanden ist, daß man eine solche Sache wagen könne. Man hat die Zersetzung des Gegners als viel weiter fortgeschritten angenommen, als sie es tatsächlich war ... War es richtig,, daß wir für einen Entscheidungskampf in dem Stadium, in dem wir uns befanden, rüsten konnten, Termin und Entscheidungsschlacht schon vorbereiten konnten? Die Frage haben wir verneint. Aus der besonderen Struktur Deutschlands Und den besonderen Klassenverhältnissen und Klassenkräften in Deutschland heraus sagten wir, wir standen noch nicht in dem Stadium, in dem wir den Termin für einen Entscheidungskampf festsetzen konnten. Wir sagten: ehe diese Entscheidungskämpfe kommen werden, werden wir durch eine Periode einer ganzen Reihe gewaltiger bewaffneter Einzelkämpfe hindurchgehen müssen ...
Man kann diese Stelle finden in der Broschüre Die Lehren der deutschen Ereignisse, S.40-44. Das sagt Hermann Remmele mit den unmittelbaren Erfahrungen des Jahres 1923 bis Januar 1924 hinter sich.
Eine Wendung trat – wie man dokumentarisch nachweisen kann – in der Beurteilung der Taktik der deutschen Partei durch die Exekutive erst im Dezember 1923 ein. Erst nachträglich sind wir imstande gewesen, die Ursachen und das Datum dieser Wendung festzustellen. Wie kam diese Wendung zustande? Wie kam es, daß Sinowjew und die Exekutive, die bis dahin die Taktik im wesentlichen anerkannt hatten, eine Wendung um 180 Grad machten? Der Zusammenhang ist folgender: Am 13. Dezember – wenn ich nicht irre – hielt der Gen. Radek in Moskau eine Rede in einer großen Parteiversammlung, in der er in die damals anhebende Trotzki-Debatte eingriff und in der er erklärte: Wenn die Mehrheit des russischen ZK sich gegen Trotzki wendet, so werde nicht nur er, sondern auch die Führung der deutschen und französischen, d.h. der hauptsächlichsten Parteien. Im Westen, sich gegen die Mehrheit des ZK der russischen Partei wenden. Das war am 13. Dezember. Einige Tage später sandte Sinowjew einen Brief an die damalige Zentrale der deutschen Partei ab, worin er den Kurs völlig änderte, den heftigsten Angriff gegen sie eröffnete, und wodurch die allgemeine Hetze gegen die damalige Führung eingeleitet wurde. Die eigentliche Ursache dieser Wendung war eine Panik, die in der Führung der russischen Partei, vor allem durch Sinowjew, verursacht wurde, und zwar dadurch, daß sie der Behauptung Radeks aufs Wort glaubten, daß sich die deutsche Parteileitung hinter Trotzki und gegen die Mehrheit der russischen Parteileitung stellen würde. Das war die Ursache der Wendung. Mit irgendwelchen Vorkommnissen in Deutschland oder in Frankreich oder in der Komintern als solcher hatte diese Geschichte gar nichts zu tun. Es war einfach die Folge eines Manövers im innerrussischen Fraktionskampf. Von dieser Rede Radeks erfuhren wir erst sehr viel später. Die Kampagne, das Trommelfeuer, waren in vollem Gange, Maslow usw. waren längst losgelassen, als wir – zur Zeit des 5. Kongresses – in Moskau von der eigentlichen Ursache dieser Wendung erfuhren. Das Eigentümliche dabei ist, daß diese Behauptung von Radek frei erfunden war. Niemand hatte ihn ermächtigt, zu sagen, daß wir an Trotzkis Seite kämpfen würden, wenn er angegriffen würde. Wir sagten zuerst, als wir die Nachricht von den Auseinandersetzungen mit Trotzki bekamen: ehe wir ein Urteil abgeben, müssen wir die Tatsachen kennen, die dem Streit zugrunde liegen. Sobald darüber etwas bekannt war, schrieb ich in der Internationale einen Artikel, der sich gegen die Auffassungen Trotzkis wandte. Es war also nicht einmal die wirkliche Stellungnahme unsererseits im innerrussischen Fraktionskampf, die die Wendung verursachte, sondern nur die Fiktion einer solchen Stellungnahme.
Der erwähnte Uriasbrief von Sinowjew leitete nach Radeks Rede diese Wendung ein. Kennzeichnend war weiter die Tatsache, daß bei den Verhandlungen in Moskau von Clara Zetkin und Wilhelm Pieck die Frage gestellt wurde, man solle sich offiziell von der Leitung der Exekutive erklären, wie man zur Frage des Rückzuges im Oktober 1923 stehe, ob er richtig gewesen oder nicht? Vorher hatte das Präsidium immer behauptet, er war richtig. Jetzt begann Sinowjew sich zu drücken. Er weigerte sich, trotz wiederholter Anfragen, darüber irgend etwas schriftlich festzulegen. Das hatte natürlich zur Folge, daß der ultralinken Legende freie Bahn gegeben war. Es konnte jetzt, ohne mit offiziellen Beschlüssen in Widerspruch zu geraten, von Maslow behauptet werden, dieser Rückzug war falsch, war Verrat, hat die Revolution ins Verderben geführt. Diese Folgerung wurde auch in der gröbsten und sinnlosesten Weise von Maslow und Ruth Fischer gezogen. In einer Resolution vom 6. März 1924, die auf dem Bezirksparteitag Rheinland-Westfalen in Gegenwart Ruth Fischers eingebracht wurde, heißt es über diesen Punkt:
Die Konferenz erklärt, daß im Oktober vorigen Jahres der revolutionäre Entscheidungskampf historisch notwendig war. Weder das Ausweichen vor dem Kampf, noch das Ersetzen des Endkampfes durch sogenannte Rückzugsgefechte, Teilaktionen oder ähnliches war zulässig.
Man muß sich wundern, wenn man diese Dinge mit kaltem Blut liest, wie eine Parteimehrheit, wie eine Exekutive solche vollkommenen Absurditäten annehmen konnte. Es wird hier gesagt: Der Kampf, der Entscheidungskampf war absolut unvorbereitet, und trotzdem mußte die Entscheidung im Oktober gesucht werden. – Eine solche Behauptung ist doch direkt widersinnig, aber sie wurde glatt geschluckt. Das war in Deutschland der Höhepunkt der Oktoberlegende. Ihren Höhepunkt in Rußland erreichte sie in einer Reihe von Reden Trotzkis. Eine dieser Reden hielt er z.B. in Tiflis. Seine Absicht dabei war nicht, die Mehrheit der damaligen Führung der deutschen Partei zu treffen, sondern er wollte folgenden Beweis führen: 1923 ist die Revolution in Deutschland nicht siegreich gewesen, weil an der Spitze der Kommunistischen Internationale nicht Lenin gestanden hat, sondern der Opportunist Sinowjew. Er wollte also Sinowjew treffen, der damals der heftigste Gegner von Trotzki war, der mit Kamenew und Stalin den Hauptkampf gegen Trotzki führte. Trotzki gab danach in diesem Streit eine Schrift heraus: Die Lehren des Oktober, worin er seine Ansicht ausführlich niederlegte, zunächst über den Oktober 1917 in Rußland und dann auch über den Oktober 1923 in Deutschland. Und hier kann man die Oktoberlegende in ihrer schroffsten und, wenn man will, klassischen Form finden. Die Sätze, die hier in Betracht kommen, sind folgende:
Punkt 2. Deutschland. Noch interessanter ist die Frage der Niederlage des deutschen Proletariats im Oktober vorigen Jahres. Wir hatten dort in der zweiten Hälfte des vorigen Jahres eine klassische Demonstration der Tatsache gesehen, daß eine ganz außerordentlich günstige revolutionäre Situation von welthistorischer Bedeutung verpaßt werden kann.
Das war also die Lehre. Eine außerordentlich günstige revolutionäre Situation, die verpaßt worden ist durch die Führung, und zwar war es für Trotzki in erster Linie die Führung der Komintern, die dafür in Betracht kam.
Aber hier, an diesem Punkt, setzt nun auch eine Wendung ein in der Auffassung und in den Behauptungen der offiziellen Instanzen in Rußland sowie in Deutschland. Denn jetzt galt es, Trotzki gegenüber zu beweisen, daß sowohl seine Auffassung des Oktober 1917 in Rußland als auch des Oktober 1923 in Deutschland, wie sie von Trotzki vorgebracht worden ist, falsch seien, und man begann jetzt erst, sich um die Frage etwas zu kümmern, welches denn die objektiven Bedingungen im Jahre 1923 in Deutschland gewesen sind, ob wirklich die Behauptung richtig war, die Maslow verbreitet, die Sinowjew geduldet und die Trotzki zugespitzt hatte, daß objektiv im Jahre 1923 in Deutschland alle Bedingungen für die Revolution vorhanden waren wie im Oktober 1917 in Rußland. Und so begann jetzt von offizieller Seite die Revision dieser Auffassung, die Revision der linken Oktoberlegende. Ich will hier einige besonders charakteristische Stellen, durchaus nicht das Ganze, anführen. Ich erwähne zunächst einige Ausführungen des Gen. Bucharin aus einem Aufsatz über die Lehren des Oktober im Feuilleton der Prawda (Datum):
Nach Auffassung des Genossen Trotzki bestand also hier der Fehler, daß ein „klassischer“ Moment verpaßt wurde. Es war notwendig, um jeden Preis den entscheidenden Kampf aufzunehrnen; und der Sieg wäre unser gewesen. Hier zieht Genosse Trotzki eine volle Analyse mit dem Oktober in Rußland. Dort wie hier wurde vorgeschrieben. Dort entschloß man sich unter dem Drucke Lenins zur Aktion und siegte. Ohne den Druck Lenins – entschloß man sich nicht und verpaßte den geeigneten Augenblick. Jetzt aber, unter dem Einfluß der russischen Oktoberrevolution, erklärt man, daß die Kräfte für den entscheidenden Kampf ungenügend waren. Das ist das Schema der deutschen Ereignisse beim Genossen Trotzki.
Aber auch hier bei der Einschätzung von 1924 hatten wir ein Reich der Schematisierung und das traurigste Reich grauer Abstraktion vor uns. Genosse Trotzki stellt dar, wie die Geschichte geschrieben worden wäre, wenn im russischen ZK die Gegner des Aufstandes die Mehrheit gewesen wäre; es hieße dann, daß die Kräfte zu gering wären, daß der Feind schrecklich stark war usw.
All das ist nur äußerlich überzeugend; ja, wahrscheinlich würde man die Geschichte in dieser Weise schreiben, das ist aber keinesfalls ein Beweis dafür, daß die Kräfte der deutschen Revolution im Oktober 1923 verschätzt wurden. Falsch Ist namentlich, daß der Moment ein „klassischer“ war. Denn die Sozialdemokratie erwies sich als viel stärker, als wir dachten. Eine Analogie mit dem russischen Oktober ist hier überhaupt wenig am Platze. In Deutschland gab es keine bewaffneten Soldaten, die für die Revolution waren. Wir konnten nicht die Parole „Frieden“ herausgeben. Es gab keine bäuerliche Agrarbewegung. Es gab keine solche Partei wie die unsrige. Aber abgesehen von allem, erwies es sich, daß die Sozialdemokratie sich noch nicht überlebt hat, diese konkreten Tatsachen waren also zu widerlegen. Zur Zeit der entscheidenden Ereignisse erklärte sich das EKKI für die Oktoberlinie. (Von Bucharin unterstrichen.) Nun, da diese Kraft der objektiven Verhältnisse einen Nichterfolg erlitt und als Kraft der rechten Führung der Mißerfolg „größer als notwendig war“, gibt jetzt Genosse Trotzki der gerade den rechten opportunistischen -zur Kapitulation neigenden Flügel unterstützt, und die Linken wiederholt bekämpft hat, eine „tiefsinnige“ theoretische Grundlage seiner Konzeption, holt damit zum Schlage gegen die führenden Kreise der KI aus.
Ganz unzulässig ist es aber, an manchen Fehlern festzuhalten, an denen Genosse Trotzki auch jetzt noch festhält. An den Lehren (den tatsächlichen Lehren) des deutschen Oktober ist, daß vor der Aktion das große Inschwungsetzen der Massen notwendig ist. Diese Arbeit ist aber stark zurückgeblieben. In Hamburg z.B. gab es während des Aufstandes keine Räte, und unsere Parteiorganisation war nicht imstande, die Zehntausende von Streikenden in den Kampf hineinzuziehen. In ganz Deutschland fehlten die Sowjets: In der Auffassung des Genossen Trotzki war es ja richtig, wenn die Sowjets durch die Betriebsräte „ersetzt“ würden. In Wirklichkeit konnten die Betriebsräte aber nicht ersetzen, da sie nicht die gesamte Masse, einschließlich der rückständigsten, indifferentesten so zusammenschlossen, wie es die Sowjets in kritischen und gespannten Momenten des Klassenkampfes taten.
So schrieb Bucharin gegen Trotzki im Jahre 1925; und wohlgemerkt, es war der Bucharin, der damals mit der Mehrheit des Politbüros, mit der Mehrheit der Zentrale der russischen Partei den Kampf gegen Trotzki führte. Dann griff hier auch Kuusinen ein, der heutige Sekretär der Komintern. Es griff ferner ein Krupskaja, die Frau des Gen. Lenin, und schließlich griff auch Stalin in die Debatte über die Revision der linken Oktoberlegende ein. Kuusinen sagte in einem Aufsatz gegen Trotzki:
Man muß hier hinzufügen, solche Momente wie das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein einer Millionenarmee auf der Seite der Revolution wurden nicht nur von Trotzki, sondern auch von Maslow und den anderen Genossen außer acht gelassen.
Krupskaja sagte gegen Trotzki:
Genosse Trotzki will, daß der Oktober studiert werde. Er will jedoch die Rolle der Einzelpersonen und der Strömungen im Zentralkomitee studieren. Aber nicht dies muß studiert werden, sondern die internationale Lage in den Oktobertagen sowie das damalige Kräfteverhältnis der Klassen. Diese Frage übersieht Trotzki. Deshalb unterschätzt er die Rolle des Bauerntums. Ferner muß die Partei zur Zeit des Oktobers studiert werden. Trotzki schreibt viel über die Partei, verwechselt jedoch die Partei mit dem Führerstabe. Die Parteiführung, organisatorisch losgelöst von der Partei, hatte nicht zu Siegen vermocht.
Genosse Trotzki versteht nicht die Rolle der Partei im ganzen und auch nicht die Rolle der Geschlossenheit der Partei; Für ihn ist die Partei eben gleichbedeutend mit dem Führerstabe. Auch jetzt meint Genosse Trotzki, daß die Bolschewisierung in der Auslese des entsprechenden Führerstabes bestehe. Solch ein rein administrativer Standpunkt ist unrichtig. Richtiger ist die Einschätzung der Rolle und der Bedeutung der Masse; wie dies die Bolschewiki im Oktober gemacht haben. Trotzki vergißt diese Seite der Frage.
Bei der Einschätzung der deutschen Ereignisse unterschätzt Genosse Trotzki die Passivität der Massen.
Die Genossin Krupskaja betont hier auch die objektiven Umstände, den Zustand der Klassenkräfte im Oktober 1923 und sagt, daß diese zu untersuchen und festzustellen das Entscheidende sei und nicht die subjektiven Faktoren, auf die Trotzki sich stützt. Zuletzt will ich noch eine Äußerung von Stalin anführen, die nicht unmittelbar, aber doch in engster Verbindung damit steht; und die er dem Gen. Wilhelm Hertzog gegenüber machte, der ihn nach den Bedingungen des Sieges der proletarischen Revolution in Deutschland fragte. Was Stalin damals sagte, wirft ein sehr klares Licht auf die Art, wie die Frage über das Jahr 1923 richtig gestellt werden muß, und auf die Frage, welches die Bedingungen für den Sieg der proletarischen Revolution in einem Lande wie Deutschland überhaupt sind. Stalin sagte:
Dieser Umstand ist nicht die einzig günstige Bedingung der deutschen Revolution. Zum Siege dieser Revolution ist es außerdem unbedingt notwendig, daß die Kommunistische Partei die Mehrheit der Arbeiterklasse vertrete, daß die Kommunistische Partei die entscheidende Kraft in der Arbeiterklasse werde. Es ist unbedingt notwendig, daß die Sozialdemokratie zerschlagen und entlarvt, daß sie zur nichtigen Minderheit in der Arbeiterklasse herabgedrückt werde. Ohne dieses ist die Diktatur des Proletariats undenkbar. Damit die Arbeiter siegen können, muß sie ein Wille begeistern, und die Arbeitermassen müssen von einer Partei geführt werden, die das unbestrittene Vertrauen der Arbeiterklasse besitzt. Wenn innerhalb der Arbeiterklasse zwei konkurrierende Parteien von gleicher Stärke vorhanden sind, so ist ein bleibender fester Sieg, selbst bei sonst günstigen Bedingungen, unmöglich. Lenin bestand als erster besonders hierauf in der Periode vor der Oktober-Revolution als auf die notwendigste Vorbedingung des Sieges des Proletariats.
Was Stalin hier sagt, bedeutet, daß ein dauernder, fester Sieg der Kommunistischen Partei und der proletarischen Revolution nur möglich ist, wenn die Sozialdemokratische Partei bereits zu einer nichtigen Minderheit herabgedrückt sein wird, wenn die große Masse der Arbeiter bereits einheitlich der kommunistischen Führung folgt. Wenn man diese Frage stellt in bezug auf das Jahr 1923, wenn man sie auch nur oberflächlich prüft, ob es zutrifft, daß damals, 1923, der Einfluß der Sozialdemokratischen Partei bereits zu einem nichtigen Faktor herabgedrückt worden sei, so muß man das unbedingt verneinen. Dies war durchaus nicht der Fall.
Damit war die Revision der linken Oktoberlegende eingeleitet. Sie wurde aber nicht zu Ende geführt, und deshalb müssen wir gerade die Frage behandeln, die eben von der Genossin Krupskaja ganz richtig gestellt wurde: die Frage der objektiven Klassenkräfte, die Frage des direkten Machtverhältnisses zwischen KPD und SPD, die Frage der wirklichen Machtfaktoren.
Zuletzt aktualisiert am 18.7.2008