Josef Strasser

Der Arbeiter und die Nation

Der Internationalismus

Wir sind ausgegangen von der Feststellung, daß jeder Mensch gegensätzliche Interessen hat und daß, wer nicht im Widerstreit seiner Interessen verkümmern oder gar untergehen will, zwischen ihnen einen Ausgleich zustande bringen muß. Peter z.B. ist Fabrikant, Sportsmann, Deutschnationaler und noch vieles, vieles andere. In jeder Eigenschaft hat er bestimmte Interessen, und diese geraten miteinander in Widerspruch. Als guter Deutscher kann er keinen Tschechen sehen, aber als Fabrikant mag er die tschechischen Arbeiter nicht missen. Der Sport erfordert viel Zeit und noch mehr Geld, das Geschäft aber verlangt einen Mann, der den zur Aneignung und Akkumulation von Mehrwert erforderlichen sittlichen Ernst besitzt, also mit Zeit und Geld nicht wie ein Kavalier, sondern wie ein Krämer umgeht. Wie soll Peter diese – und tausend andere – Widersprüche lösen? Soll er, wenigstens soweit es die Rücksicht auf seinen Profit erheischt, seinen Tschechenhaß unterdrücken, oder soll er nur deutsche Arbeiter beschäftigen, also eine Schmälerung seines Einkommens riskieren? Soll er als Automobilist seine Fabrik vernachlässigen oder als solider Geschäftsmann seine sportlichen Neigungen, wenn schon nicht aufgeben, so doch zügeln? Und solcher Alternativen gibt es, wie gesagt, unzählige. Jeder Tag stellt den Menschen vor ein Entweder-Oder, täglich und stündlich geraten wir in Widersprüche.

Hier interessiert uns nur einer von diesen Widersprüchen, der zwischen Klasseninteresse und nationalem Interesse.

Aber besteht ein solcher Widerspruch? Was ist Klasseninteresse? Gibt es überhaupt ein besonderes Klasseninteresse? Diese Frage soll nicht bedeuten, ob die verschiedenen Klassen der Gesellschaft verschiedene Interessen haben, ob es also besondere kapitalistische, proletarische, kleinbürgerliche Interessen gibt, sondern: Hat eine Klasse neben ihren Klasseninteressen noch andere Interessen? Hat das Proletariat neben seinen proletarischen noch nationale, künstlerische, sportliche und sonstige Interessen? Oder ist es die Summe aller Interessen, die die Klasse hat?

Die letzte Frage ist zu bejahen. Ein Mensch gehört nicht nur mit einzelnen Seiten seines Wesens, sondern in seiner Totalität zu einer Klasse. Er ist nicht nur auf wirtschaftlichem und politischem, sondern auch auf jedem anderen Gebiet Proletarier oder Bourgeois, Großgrundbesitzer oder Parzellenbauer, kurz Angehöriger irgendeiner Klasse. Er hat kein Interesse, das von seiner Klassenlage unberührt bleibt, der Klassengegensatz zieht sich durch das ganze gesellschaftliche Leben, nicht nur durch einzelne Sphären desselben. Die Fragestellung: Wie verhalten sich Klasseninteressen und nationale Interessen zueinander? ist also falsch. Sie setzt als bewiesen voraus, was erst zu beweisen wäre: daß die nationalen Interessen nicht zu den Klasseninteressen gehören, daß also verschiedene Klassen dieselben nationalen Interessen haben und daß darum die Arbeiterklasse einer Nation im Nationalitätenstreit mit den anderen Klassen dieser Nation, nicht mit den Arbeiterklassen der anderen Nationen gemeinsame Sache machen muß. 

Wir müssen also anders fragen: Wie verhalten sich die nationalen Interessen eines Menschen zu seinen übrigen Interessen, das heißt, wie verhält er sich in dem Widerstreit, in den seine nationalen Interessen mit den übrigen geraten?

Ich bin ein Deutscher. Als solcher habe ich das Interesse, daß die deutsche Sprache, die deutsche Kultur, die deutsche Sitte möglichst weit verbreitet sind, denn je deutscher die Welt, je größer der Bereich des Deutschtums, desto leichter und bequemer wird mir das Leben. Ich kann in einem fremden Land umso leichter fortkommen, je besser man meine Sprache dort versteht, und ich werde mich dort umso rascher einleben, je mehr die Einwohner dieses Landes von deutschem Wesen beeinflußt sind. Als Deutscher hätte ich also eigentlich das Interesse, die ganze Welt zu germanisieren.

Aber ich kann dieses Interesse nicht zu meiner alleinigen Richtschnur machen, denn ich habe noch andere, stärkere Interessen. Welcher Art diese sind, das hängt von meiner wirtschaftlichen Lage ab. Als Fabrikant werde ich meinen deutschen Interessen zum Trotz tschechische Arbeiter ins deutsche Land ziehen. Als Händler werde ich mich im Verkehr mit Tschechen der tschechischen Sprache bedienen. Bin ich Hausherr, so werde ich einen guten Zahler einem schlechten als Mieter vorziehen, mag auch dieser ein Deutscher und jener ein Tscheche sein. Muß ich eine Hypothek aufnehmen, so werde ich zu einer tschechischen Bank gehen, wenn sie mehr borgt und weniger Zinsen nimmt als die deutsche Sparkasse. Will ich mein Haus verkaufen, so wird mir der meistbietende Käufer der liebste sein, auch wenn er ein Tscheche ist; ja wenn's geht, werde ich trotz meinem Deutschtum aus der Angst der guten Deutschen vor der slawischen Hochflut Kapital schlagen, also irgendeiner deutschnationalen Schutz- und Abwehrorganisation mein Haus zu einem sonst nicht zu erzielenden Preise anzuhängen versuchen. Als Handwerker werde ich mit Vorliebe tschechische Lehrlinge und Gehilfen beschäftigen. Als Beamter werde ich trotz meiner Begeisterung für die deutsche Sprache meiner Frau ein tschechisches Dienstmädchen halten. Rentiert sich's, so werde ich meine Einkäufe bei tschechischen Geschäftsleuten machen.

Das heißt: Geraten die nationalen und die wirtschaftlichen Interessen eines Menschen miteinander in Widerspruch, so erweisen sich die wirtschaftlichen Interessen als die stärkeren. Vereinzelte Ausnahmen können vorkommen. Einzelne Individuen können sich von ihrer Klasse loslösen, die Masse kann es nicht. Und die Klasse stellt ihre wirtschaftlichen Interessen über die nationalen Interessen, jede Klasse ist nur soweit national gesinnt, als es ihre wirtschaftlichen Interessen erlauben. Warum soll gerade das Proletariat die nationalen Interessen den wirtschaftlichen voranstellen? Würde es etwa besser fahren, wenn es, wo seine wirtschaftlichen Interessen mit den nationalen in Widerspruch geraten, diese über jene stellte? Wir haben bei der Betrachtung der diversen nationalen Güter gesehen, daß das nicht der Fall ist. Wir haben gesehen, daß, was das Bürgertum nationales Interesse nennt, nur bürgerliches Interesse ist. Für dieses kann der Arbeiter ebensowenig kämpfen wie für Lohnverkürzungen und Arbeitszeitverlängerungen. Allerdings sind Nationalität und Sprache auch dem Arbeiter nicht gleichgültig. Aber er begibt sich, wie wir gesehen haben, auf einen Irrweg, wenn er den nationalen Dingen eine höhere Bedeutung beimißt als der Klassenkampf erfordert. Für den klassenbewußten Proletarier ist der Proletarier das Maß der Dinge, nicht der Deutsche, der Katholik usw. Er beurteilt alles vom proletarischen, nichts vom nationalen, religiösen oder irgendeinem anderen Standpunkt. Wo nationale Streitigkeiten entstehen, da ergreift er als Proletarier, nicht als Angehöriger dieser oder jener Nation Partei. Das bedeutet der proletarische Internationalismus. Nicht mehr, nicht weniger – nicht Gleichgültigkeit gegen die nationalen Dinge, aber auch nicht deren unproletarische Überschätzung.

Wie alles Proletarische wird in der bürgerlichen Welt auch unser Internationalismus nicht verstanden. Und zwar mißdeuten ihn nicht nur unsere bürgerlichen Gegner, sondern auch unsere bürgerlichen Freunde, die Revisionisten. Jene meinen, daß der sozialistische Internationalismus eine Konsequenz unserer „rohen Gleichmacherei“ ist; nach ihrer Ansicht sind uns, wie überhaupt alle Differenzierung, so auch die nationalen Unterschiede ein Greuel, und wir wollen sie darum natürlich „abschaffen“. Über diese Auslegung des Internationalismus braucht man kein Wort zu verlieren; wer nicht zu begreifen vermag, daß die sozialdemokratische Gleichheitsforderung nichts anderes bedeutet als die Forderung nach der Aufhebung der Klassenunterschiede, mit dem kann man nicht reden. Umsomehr ist über die Mißdeutung des Internationalismus durch die Revisionisten zu sagen. In ihnen hat die proletarische Ideologie die bürgerliche erschüttert, und sie statten dem Proletariat den Dank dafür ab, indem sie seine Ideologie durch die bürgerliche zu erschüttern bemüht sind. Ihr Internationalismus ist also etwas ganz anderes als der des Proletariats, aber er entspricht auch nicht den unverfälscht bürgerlichen Vorstellungen vom Internationalismus. Ganz im Gegenteil: Erblicken die vom Sozialismus unberührten Bürgerlichen im Internationalismus den grimmigsten Widersacher des Nationalismus, so sind die revisionistischen Sozialdemokraten Freunde jedes Nationalismus, versteht sich nur jedes „wahren“, jedes „echten“ Nationalismus. Sie sind national „im edelsten Sinne des Wortes“. Der Internationalismus ist ihnen die Summe aller Nationalismen. Sie meinen: Jede Nation kann sich frei und ungehemmt entwickeln, keine braucht die anderen in ihrer Entwicklung zu stören oder sich von ihnen stören zu lassen. Der Internationalismus ist nach dieser Anschauung ein sittlich geläuterter Nationalismus, des Nationalismus höchste Vollendung und Superlativ. Der Nationalismus widerspricht nach der Meinung unserer Parteinationalen dem Internationalismus nicht nur nicht, er ist ihnen vielmehr dessen logische Voraussetzung. Die beiden gehören zusammen, sie ergänzen einander, einer ist die Korrektur des andern.

Dieser Internationalismus wäre ganz schön, aber er fußt auf einer falschen Voraussetzung. Es ist nämlich nicht ganz richtig, daß die Nationen unter allen Umständen nebeneinander leben können, ohne einander ins Gehege zu kommen. In der bürgerlichen Gesellschaft hat jede Nation die Tendenz zur Ausdehnung, also, wo sich dieser Tendenz Hindernisse entgegenstellen, zum Angriff. Und jeder nationale Kampf muß den revisionistischen Internationalismus ad absurdum führen. Denn was soll das Proletariat mit ihm anfangen, wo es zum Nationalitätenstreit kommt? Soll es, wenn zwei Nationen aneinander geraten, beiden Recht geben? Nach der Logik des nationalistelnden Sozialismus wäre das eigentlich das einzig Mögliche, nach der gemeinen Logik aber ist es das Unmöglichste. Sollen also die Arbeiter beiden Parteien unrecht geben? Es ist denkbar, daß beide unrecht haben, aber die Behauptung, daß im Nationalitätenstreit beide Teile unter allen Umständen im Unrecht sein müssen, wäre doch ein bißchen zu kühn. Doch die Arbeiter hätten noch andere Möglichkeiten: Im deutsch-tschechischen Streit könnte sich das deutsche Proletariat zur deutschen, das tschechische zur tschechischen Bourgeoisie schlagen. Aber in diesem Falle kämen die national fühlenden Sozialisten nicht nur mit ihrer eigenen Theorie in Widerspruch, sie müßten auch den nationalen Streit ins Proletariat tragen, also die Einheit und Einigkeit des Proletariats zerstören. Bleibt nur noch eins: Sie müßten den Nationalitätenstreit nach den Grundsätzen der nationalen „Gerechtigkeit“ zu schlichten suchen. Aber was ist national gerecht? Kein Mensch weiß es, das heißt jeder Nationale hält seine persönlichen nationalen Vorurteile für die lauterste nationale Gerechtigkeit. Der nationale Internationalismus oder internationale Nationalismus müßte also auch in diesem Fall zur Fortsetzung des nationalen Streites führen. Er würde sich zwar vom bürgerlichen Nationalismus durch seine Zahmheit unterscheiden, aber auch das nur am Anfange, später jedoch, wie uns das Beispiel des Separatismus zeigt, die bürgerliche Konkurrenz an Wildheit und Skrupellosigkeit noch überbieten. In jedem Falle wäre das Ergebnis eines solchen Internationalismus der nationale Hader im Proletariat.

Für das Bürgertum ist das natürlich ein Ziel, aufs Innigste zu wünschen. Eben darum kann das Proletariat diesem Ziele nicht zustreben, und nicht schroff genug kann es einen Internationalismus ablehnen, der zum Völkerstreit führt, das heißt zu einem Streit, in dem sich die Bürgerlichen jeder Nation von ihren proletarischen Volksgenossen die Kastanien aus dem Feuer holen lassen wollen. Das Proletariat kann sich nur zu einem Internationalismus bekennen, der die Überwindung der nationalen Gegensätze im Proletariat bedeutet, wie der Sozialismus überhaupt die Erkenntnis bedeutet, daß die Gegensätze zwischen einzelnen Proletariern oder zwischen verschiedenen Proletariergruppen belanglos sind gegenüber dem Gegensatz zwischen Bourgeoisie und Proletariat.


Zuletzt aktualisiert am 15.6.2008