Josef Strasser

Der Arbeiter und die Nation

Die Sprache

Der österreichische Nationalitätenstreit stellt sich in der Hauptsache als Sprachenstreit dar. Die meisten nationalen Fragen sind Sprachenfragen, und wenn man das Treiben der Nationalisten beobachtet, könnte man zu dem Schluß kommen, es sei ihnen auf dieser Welt nichts wichtiger als ihre Muttersprache. Die kleinste Sprachenfrage kann Parlament und Regierung in die größten Verlegenheiten stürzen: Straßentafeln und Stationsaufschriften haben in unserem teueren Vaterlande schon wildere Stürme hervorgerufen als die ernstesten sozialen Dinge. Unter den heiligsten Gütern der Nation scheint die Sprache das Allerheiligste zu sein.

Aber recht seltsam kontrastiert mit der glühenden Begeisterung der Nationalisten für ihre Sprache ihre – rohe Gleichgültigkeit gegen ihre Sprache. Nirgends wird ein schlechteres Deutsch gesprochen und geschrieben als im nationalen Lager. Man wird unter den führenden Persönlichkeiten des Nationalverbandes nicht allzuviele finden, die einen geraden deutschen Satz bauen können, und die Schreib knechte des Nationalismus, die Schriftleiter, ringen mit der so heiß geliebten Muttersprache wie mit einem Todfeind. Sie denken deutsch, sie fühlen deutsch, aber sie können nicht Deutsch. Und was hat der Nationalismus getan, um die Kenntnis der deutschen Sprache im deutschen Volke zu verbreiten und zu vertiefen? Nichts, absolut nichts. Mit seiner Liebe zur deutschen Sprache scheint es also eine ganz eigene Bewandtnis zu haben.

Und in der Tat: diese Liebe ist genau so groß wie die wirtschaftliche Bedeutung der Sprache für jene Bevölkerungsschichten, aus denen sich die Kerntruppen des Nationalismus rekrutieren.

Aber ist das möglich? Ist die Sprache nicht ein „ideales“ Gut? Was hat sie mit der Ökonomie zu schaffen? Und selbst angenommen, die Sprache hätte eine wirtschaftliche Bedeutung, müßte diese nicht für alle Volksgenossen dieselbe sein?

Wir wollen sehen.

Im Produktionsprozeß des Kapitals, in der Fabrik, in der industriellen Arbeit spielt die Sprache eine ganz untergeordnete Rolle. Der tschechische Proletarier kann in einer deutschen Stadt Arbeit finden, auch wenn er des Deutschen nur sehr mangelhaft mächtig ist, ja selbst wenn er kein Wort Deutsch versteht. Der Handarbeiter, ausgenommen allenfalls der Schriftsetzer, arbeitet nicht in einer Sprache, sondern in Holz, Metall, Garn usw. Das Gebiet seiner Muttersprache ist nur ein kleiner Teil des Gebietes, in dem er Arbeit finden kann. Seine Freizügigkeit wird durch seine Sprachkenntnisse nicht eingeschränkt, er ist auf kein bestimmtes Sprachgebiet angewiesen. Die Sprache hat also für ihn als Arbeiter sehr wenig zu bedeuten, sie gehört nicht zu seinen Erwerbsmitteln.

Es gibt aber Arbeitsprozesse, die ohne Sprache schlechthin undenkbar sind, in denen die Sprache die Rolle des wichtigsten Arbeitsmittels spielt, weil die Arbeit in diesen Arbeitsprozessen großen-, wenn nicht größtenteils in Hören und Reden, in Lesen und Schreiben besteht. Hierher gehören die Arbeiten im Zirkulationsprozeß des Kapitals, in Handel und Verkehr, in den Amtsstuben, in den Schulen usw. Alle diese Arbeiten können nur in einer bestimmten Sprache verrichtet werden. Der Lehrer kann die Kinder nur in einer bestimmten Sprache zu Gottesfurcht, Patriotismus und anderen Tugenden erziehen. Der Bürokrat muß die Parteien, die seine Ruhe stören, in einer bestimmten Sprache anschnauzen – unartikulierte Laute könnten ja die Autorität beeinträchtigen. Die Sprache ist also für die Spracharbeiter, wie man Beamte, Lehrer, Advokaten etc. zusammenfassend nennen kann, von der eminentesten Wichtigkeit. Ein Reichenberger Weber kann in Lodz oder Moskau mit ein paar polnischen und russischen Brocken sein Fortkommen finden, ein deutscher Lehrer aber mag der genialste Pädagoge sein, er ist ganz unbrauchbar, wenn er das deutsche Sprachgebiet verläßt, ohne die Sprache des Landes, das er aufsucht, vollständig zu beherrschen. Der Spracharbeiter ist, im Gegensatz zum industriellen Arbeiter, an das Sprachgebiet gebunden. Die Größe des Sprachgebiets hat also eine wirtschaftliche Bedeutung für ihn. Denn je größer das Gebiet seiner Sprache ist, desto mehr Arbeitsgelegenheiten hat er.

Nun leben die österreichischen Völker nicht in geschlossenen Territorien, und das gibt den Spracharbeitern verschiedener Nationalität die Möglichkeit, einander die Posten in Schule und Amt streitig zu machen, eine Verschiebung der Sprachgrenze zu versuchen. Da hat das Kapital in eine deutsche Stadt tschechische Arbeiter gebracht, tschechische Handwerker, Krämer, Gastwirte sind nachgekommen, und auch ein paar tschechische Ärzte und Advokaten haben sich eingefunden. Ist die Stadt nun noch deutsch oder ist sie gemischtsprachig? Soll jetzt nach wie vor nur deutsch oder deutsch und tschechisch amtiert und unterrichtet werden? Der Kampf um Amt und Schule entbrennt. Am hitzigsten führen ihn die Spracharbeiter und das Kleinbürgertum, aus dessen Nachwuchs sich die Spracharbeiterschaft ergänzt. Die Deutschen wollen, daß nur deutsch, die Tschechen, daß auch tschechisch amtiert und unterrichtet wird, denn jedes Amt, jede Schule bedeutet Arbeitsgelegenheit für soundso viele Spracharbeiter, und je nachdem eine bestimmte Sprachenfrage gelöst wird, verbessern sich die wirtschaftlichen Existenzbedingungen der einen Spracharbeitergruppe auf Kosten der anderen. Der Sprachenstreit ist ein wirtschaftlicher Streit zwischen den Spracharbeitern und Kleinbürgern verschiedener Nationen.

Die ökonomische Bedeutung der Sprache für den Spracharbeiter wird noch gesteigert durch die bürgerliche, ja kleinbürgerlich-künstlerische Denkweise der Spracharbeiterschaft. Der manuelle Arbeiter führt, sobald er klassenbewußt geworden ist, den Kampf um die Verbesserung seiner Lage nicht, indem er seine Arbeitskollegen niederzutrampeln sucht, sondern indem er im Verein mit ihnen den Anteil seiner Klasse am Arbeitsprodukt zu vergrößern bemüht ist. Anders der Spracharbeiter. Ihm widerstrebt es noch, sich eine bessere Existenz durch die Anwendung proletarischer Methoden zu erkämpfen. Er kämpft um die Vergrößerung seines individuellen Anteils am Arbeitsprodukt, er will vorwärtskommen auf Kosten seiner Kollegen. Das führt zum Strebertum und zur Cliquenbildung. Cliquenbildend kann nun alles Mögliche wirken: Adelstitel, Vermögen, Beziehungen, Bildung, Religion, „Rasse“ und natürlich auch die Nationalität. Die deutschen Spracharbeiter begnügen sich nicht mit der Forderung: In dem Gebiet, das wir als deutsch ansehen, darf nur deutsch amtiert und unterrichtet werden. Sie verlangen nicht bloß, daß in diesem Gebiet Lehrer und Beamte des Deutschen vollkommen mächtig sein sollen. Nicht die Sprachkenntnis, die Nationalität soll dem Beamten und dem Lehrer die Qualifikation geben. Diese Forderung zeigt deutlich, daß die Begeisterung der Nationalen für die deutsche Sprache Humbug ist, daß es ihnen nicht um die Sprache, sondern nur um die wirtschaftlichen Interessen der Spracharbeiterschaft und ihres kleinbürgerlichen Anhangs zu tun ist. Denn wäre es anders, wäre die Liebe unserer Nationalen zur deutschen Sprache wirklich so heiß, wie sie vorgeben, so müßten sie es mit Freuden begrüßen, wenn Angehörige anderer Nationen die deutsche Sprache so weit erlernen, daß sie in ihr Unterricht erteilen oder Recht sprechen können, und diesen von der deutschen Sprache eroberten Nichtdeutschen dürfte das Fortkommen in deutschen Landen nicht erschwert werden. Aber unsere guten Deutschen sind Sprachzünftler. Nur der Deutsche soll seine Kenntnis der deutschen Sprache in Amt und Schule verwerten dürfen, und will der Tscheche deutsch amtieren oder unterrichten, so ist das – mag er auch das beste Deutsch sprechen und schreiben – unlauterer Wettbewerb. Bedarfes eines Beweises, daß ein Sozialist eine solche Politik nicht mitmachen kann? Wir lachen die Nationalen aus, wenn sie uns erzählen, sie würden sich dafür einsetzen, daß die Fabrikanten im deutschen Sprachgebiet nur deutsche Arbeiter beschäftigen, und wir würden die Vertreibung der nicht-deutschen Arbeiter aus dem deutschen Sprachgebiet, selbst wenn sie möglich wäre, als unsozialistisch verwerfen. Warum sollten wir den Spracharbeitern eine Extrawurst braten?(5)

Wenn wir behaupten, daß der Sprachenstreit ein wirtschaftlicher Streit zwischen den Spracharbeitern verschiedener Nationen ist, so bedeutet das natürlich nicht, daß er das Industrieproletariat, überhaupt die anderen Schichten der Bevölkerung nichts angeht. Auch der Handarbeiter hat sprachliche Interessen, aber sie sind ganz anderer Art als die des Spracharbeiters. Für diesen ist die Sprache ein Arbeits- und Erwerbsmittel, für den Industriearbeiter nur ein Mittel des Verkehrs und ein Bildungsmittel wie für jeden anderen auch. Die Spracharbeiter stehen, natürlich nicht eingestandenermaßen, auf dem Standpunkt, daß sich die Bevölkerung nach Amt und Schule, das heißt nach den wirtschaftlichen Bedürfnissen der Spracharbeiterschaft richten muß. Das Proletariat aber muß erklären: Umgekehrt! Amt und Schule haben sich nach den Bedürfnissen der Bevölkerung zu richten, das Publikum ist nicht für die Spracharbeiter, die Spracharbeiter sind für das Publikum da, und der Standpunkt der Spracharbeiter ist genauso verrückt, wie es verrückt wäre, wenn die Schuster erklärten: die Bevölkerung muß gezwungen werden, mehr Schuhe zu konsumieren, damit mehr Schuster beschäftigt werden können.

Das industrielle Proletariat ist also an der Sprache ganz anders interessiert als die Spracharbeiterschaft, und wenn die Nationalen behaupten, die Sprache sei ein gemeinsames Gut aller Volksgenossen, und die Sprachenfragen müßten darum von allen Klassen der Nation in derselben Weise behandelt werden, so ist das nur ein Versuch, die Arbeiter fremden Interessen dienstbar zu machen.

Aber wenn auch nicht zu bezweifeln ist, daß verschiedene Klassen derselben Nation verschiedene sprachliche Interessen haben, so ist noch nicht bewiesen, daß die sprachlichen Interessen der Arbeiterklassen verschiedener Nationen miteinander harmonieren. Es wäre möglich, daß die sprachlichen Interessen des deutschen Proletariats nicht nur andere sind als die der deutschen Spracharbeiterschaft, sondern daß sie auch mit denen des tschechischen Proletariats kollidieren. Wie stehts damit?

Nehmen wir die Schulfrage. In irgendeiner deutschen Stadt kämpft die tschechische Minorität um eine Schule. Wie sollen sich die deutschen Arbeiter dazu stellen? Sie müssen selbstverständlich verlangen, daß die tschechischen Kinder in der Schule ebensoviel lernen können wie die deutschen. Je besser die Schulbildung, mit der der Proletarier in die Fabrik kommt, desto leichter wird er für den Klassenkampf gewonnen werden. Steckt man nun die tschechischen Kinder in die deutschen Schulen, in denen sie, da sie des Deutschen nicht mächtig sind, dem Unterricht nicht folgen können, so lernen sie nicht nur selber nichts, sie hindern auch die deutschen Kinder, denen nun der Lehrer weniger Sorgfalt widmen kann, so viel zu lernen, als sie sonst hätten lernen können. Schon aus diesem Grund, den auch einsichtigere Deutschnationale gelten lassen, müssen die deutschen Arbeiter die Forderung nach der Errichtung tschechischer Minoritätsschulen unterstützen. Sie müssen das aber auch darum tun, weil sie nicht wollen können, daß eine ungenügende Schulbildung die tschechischen Schulkinder in die Gefahr bringt, daß sie Lohndrücker und Streikbrecher werden.

Und wie die Schulfrage, so müssen wir auch die Ämterfrage behandeln. Gericht, Polizei, jedes Amt spielt im Klassenkampf eine Rolle, in neunundneunzig von hundert Fällen eine für die Arbeiter nicht sehr angenehme Rolle. Sie wird noch unangenehmer, wenn der Arbeiter im Verkehr mit den Behörden nicht nur durch das gegen ihn gemachte und durch das Klassenbewußtsein der Beamten noch verschärfte Gesetz, sondern auch noch durch seine (oder, was dasselbe ist: der Beamten) Sprachunkenntnis benachteiligt wird. Wir müssen darum fordern, daß die Ämter auch den sprachlichen Bedürfnissen der Minoritäten Rechnung tragen.

Solange also Arbeiter die Frage der Schul- und Amtssprache vom Arbeiterstandpunkt behandeln, können nationale Zwistigkeiten zwischen ihnen nicht entstehen. Solche Differenzen können sich erst dann entwickeln, wenn sich Arbeiter vom proletarischen Standpunkt abdrängen lassen.

Anmerkungen des Verfassers

(5) Unsere Genossen im Parlament haben es getan. In der Debatte über den Dringlichkeitsantrag Körner gab Genosse Seliger am 20. März 1912 im Namen der Fraktion eine Erklärung ab, in der es heißt: „Der Grundsatz: 'Deutsche Richter für die deutschen, tschechische Richter für die tschechischen Bezirke' würde dann (wenn das Volk die Richter wählte) ganz selbstverständlich gelten. Wir erkennen daher den Grundsatz, daß für die deutschen Bezirke deutsche, für die tschechischen Bezirke tschechische Richter ernannt werden sollen, während für die gemischten Bezirke Richter aus beiden Nationen zu bestellen sind, auch unter der heutigen Gerichtsverfassung als berechtigt an.“ Dagegen wäre zu bemerken: Es ist durchaus nicht selbstverständlich, daß in einem deutschen Gerichtsbezirk nur ein deutscher, in einem tschechischen nur ein Tscheche gewählt werden würde. Im Jahre 1897 haben die deutschen Sozialdemokraten im dritten Wiener Wahlkreis den Tschechen Nemec, der damals noch Sozialdemokrat war, ins Parlament schicken wollen. Warum sollten deutsche Sozialdemokraten nicht auch bei einer Richterwahl einem Tschechen ihre Stimme geben dürfen? Wir können nur verlangen, daß ein Richter die Sprache, in der er amtieren soll, vollkommen beherrscht. Die Forderung aber, daß diese Sprache auch seine Muttersprache sein muß, läßt sich vom sozialistischen Standpunkt nicht begründen, und die Fraktion ist die sozialistische Begründung ihrer Anschauung auch schuldig geblieben.


Zuletzt aktualisiert am 15.6.2008