Victor Serge

 

Die demokratischen Kräfte in der UdSSR

(1946)


Victor Serge, Für die Erneuerung des Sozialismus: Unbekannte Aufsätze, Hamburg 1975, S.50-52.
Übersetzung aus dem Französischen: Marita Molitor.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive. [1*]


Wenn man allgemein davor zurückschreckt, das Problem der Demokratie in Rußland – das heute aufgrund der Ereignisse in brutaler Weise aufgeworfen wird – zu erörtern, so hat das mehrere sichtbare Gründe: 1. Das totalitäre Regime hat in der Kriegszeit Stabilität und eine großartige Energie bewiesen. Man vergißt dabei, daß es nur durch die technische Intervention der anglo-amerikanischen Verbündeten vor der Niederlage bewahrt wurde, die es sich selbst bereitet hatte. – 2. Die kühne Eroberungspolitik dieses Regimes scheint eine verstandesmäßig nicht faßbare Macht anzuzeigen. Dabei ignoriert man die von der Revolution und dann vom Absolutismus, der – gewaltsam – auf die Revolution folgte, entwickelte Kampfpsychologie. Diese Psychologie propagiert nicht den Rückzug in schwierigen Situationen, sondern im Gegenteil die verzweifelte Offensive mit einer bewußten Machtübersteigerung. Das Regime ist nur deshalb so herausfordernd, weil es keinen anderen Ausweg hat. Es versucht wieder einmal, sich durch Plünderung, Expansion, Belagerungszustand im Inneren und Ausnutzung der nationalen Gefahr zu stabilisieren. – 3. Man fürchtet sich, seinen Vertretern, Agenten und Partisanen im Ausland zu widersprechen, die in diesem Punkt besonders empfindlich sind, eben weil sie wissen, daß die Forderung nach russischer Demokratie das entscheidendste Argument gegen sie ist. Wenn die, Weltöffentlichkeit sich in diesem Sinne einsetzen wurde, wäre der Totalitarismus demaskiert und gestellt. Aber in dieser Hinsicht gibt es, um die Dinge beim Namen zu nennen, zu viel Blindheit und Feigheit, Angst, die Realität zu sehen; Angst, in die Zukunft zu sehen; mangelnder Wille. Das steht in großem Gegensatz zu den Zeiten, als die russische Autokratie sich auf ihre Dreihundertjahrfeier vorbereitete, ihr Bündnis mit Frankreich und ihre Freundschaft mit England bekräftigte, während die meisten großen Intellektuellen der Welt nicht zögerten, die Verbrechen der Zaren anzuprangern und ihre Sympathie mit der zukünftigen Russischen Revolution zu bekunden. Der Mut unserer denkenden Welt hat stark abgenommen. – 4. Die Konservativen und Reaktionäre aller Länder fürchten Veränderungen, deren Konsequenzen ihnen unvorhersehbar erscheinen. Sie würden es im Grunde vorziehen, Verbindungen zu einem absolutistischen Regime aufzunehmen, das aber ein wenig flexibler, ein wenig aufgeklärter wäre. Man könnte gute Geschäfte machen! Wieder Blindheit, diesmal mit Absicht. Mit einem bewaffneten Totalitarismus kann man gute Geschäfte machen unter der Bedingung, daß man nicht sieht, wohin er führt; daß man nicht sieht, daß er von seinem Bedürfnis nach ökonomischer und politischer Expansion beherrscht ist und somit nur zum Krieg führen kann. Dagegen würde eine sozialistische Demokratie, die aufgrund ihrer sozialen Bestrebungen und ihrer Aufgeschlossenheit beunruhigend wäre (mit der man übrigens auch gute Geschäfte machen könnte, insofern als gute Geschäfte überhaupt noch möglich sind in dieser Welt ... ) zumindest Frieden und Verbesserungen in Europa garantieren.

Untersuchen wir jedoch, welche sozialen Kräfte in Rußland nach Demokratie drängen. Trotz der Industrialisierung ist die UdSSR zu mehr als 70% ein bäuerliches Land geblieben. Bevor die Bauern sich der staatlichen Zwangskollektivierung unterwarfen, haben sie mehrere Jahre Kämpfe geführt, deren Folgen die Hungersnot und die Deportation mehrerer Millionen Bauern waren. Das Kolchose-System ist etwas lockerer geworden, aber die Kolchosen werden weiterhin zu den Vertretern der Staatspartei verwaltet. Die Bauern wollen sich von dieser Vormundschaft befreien, die Führer ihrer Genossenschaften frei wählen, zuweilen zum Einzelanbau zurückkehren, nicht des größten Teils ihrer Produktion beraubt werden, auf alle Fälle die Sicherheit haben, sich im Winter satt essen zu können.

Das Proletariat untersteht der Bevormundung durch die verstaatlichten Gewerkschaften sowie einer drakonischen Arbeitsgesetzgebung. Die Bildung echter Gewerkschaften und die Einführung einer Arbeitsgesetzgebung wie sie in den großen zivilisierten Ländern existiert, sind seine elementaren Forderungen. Das impliziert (auch für die übrige Bevölkerung) die Abschaffung der Pässe im Innern, das Recht, nach freier Entscheidung innerhalb des Landes umzusiedeln, das Streikrecht (das Lenin beibehalten wollte). Abgesehen von der zahlenmäßig schwachen Arbeiteraristokratie ist die materielle Situation des Proletariats oft schrecklich. Die Freiheit würde ihm den Weg zur Verbesserung eröffnen.

Die Techniker, Intellektuellen, Staatsbeamten (Lehrer, Postbeamte u.a. ...), die die Kader der Gesellschaft darstellen, können nichts anderes herbeiwünschen als eine rationalere, menschlichere, gerechtere Organisation, das Recht, Kritik zu üben und am Arbeitsplatz Vorschläge zu machen. Das von der Staatspartei gesteuerte Denken verursacht selbst in seinen geringsten Äußerungen bei den Wissenschaftlern, den Schriftstellern und Künstlern eine permanente Unsicherheit sowie ein Erstickungsgefühl, das die gegenwärtigen sowjetische Literatur glänzend zum Ausdruck bringt. Sie wollen freies Denken, freien Kontakt mit der Außenwelt, Ende der Zensur.

Alle Bürger – das weiß ich aus eigener Erfahrung – wollen Sicherheit: schlafen gehen, ohne Angst haben zu müssen, in der Nacht aus einem geringfügigen Grund abgeholt zu werden und in einem Konzentrationslager wieder aufzuwachen. Rückkehr zu einer wirklichen Legalität, zu einer Gerechtigkeit wie sie in zivilisierten Ländern üblich ist, zu den grundlegenden Freiheiten. Die Forderungen der alten Kämpfer decken sich mit denen der Bevölkerung. Die Armeekader werden zu Kriegstechnikern ausgebildet.

Die sogenannten föderativen, in Wirklichkeit aber beherrschten Nationalitäten, Türken aus Aserbeidschan, Georgier aus dem Kaukasus, Armenier, Mongolen, Ukrainer, Weiß-Russen führten und führen noch immer unendlich grausame Kämpfe für die wirkliche Autonomie – anstelle der rein sprachlichen und formalen Autonomie unter dem Schutz der Einheitspartei. Die administrative Beseitigung fünf autonomer Republiken, die während des Krieges des Defätismus angeklagt wurden, zeigt wie weit ihre Ablehnung gehen kann.

Die bloße Aufzählung der Tatsachen legt schon das elementare Programm der Demokratisierung der UdSSR nahe. – 1. Abschaffung der Pässe im Inneren; der von der Staatspolizei ausgeübten Geheimjustiz; der Konzentrationslager, in denen Millionen von Arbeitern ohne wirkliches Urteil und ohne Recht auf Verteidigung eingesperrt sind. – 2. Abschaffung der Einheitspartei, deren Diktatur durch Artikel 126 der Verfassung verankert ist. Politische Freiheit, freie und geheime Wahlen, Legalisierung der sowjetischen Parteien. Pressefreiheit. Meinungsfreiheit. – 3. Befreiung der Bauern durch wirklich freiwillige Kooperation. – 4. Bildung von Versammlungen, die auf der Basis der Meinungsfreiheit gewählt werden. Ein Pressestatut, das ehrliche Information sowie jeder Gruppe und jedem Einzelnen das Recht, seine Meinung zu veröffentlichen, garantiert. – 5. Gesetzliche Bestrafung der vom Totalitarismus an den Bürgern verübten Verbrechen im Anschluß an öffentliche Ermittlungen.

Die Kader der russischen Demokratie existieren, und sie sind es gerade, die den sowjetischen Organismus lebensfähig machen. Jeder, der in der UdSSR gelebt hat, kennt die Tüchtigkeit und Aufopferungsbereitschaft der „parteilosen Spezialisten“ und einer Minderheit von Parteifunktionären, die das Polizeiregime überlebt haben und in Wirklichkeit die menschliche Hülle dieses riesigen Landes darstellen, für die öffentliche Sache. Jedes Vertrauen, das in diese entrechteten Werktätigen gesetzt wird, ist höchst berechtigt.

 

Anmerkung des MIA

1*.In der Ausgabe des Verlags Association wurden alle Substantive außer Eigennamen kleingeschrieben. Wir haben für diese Internet-Ausgabe zwecks Leserlichkeit die normale Großschreibung wiedereingeführt.

 


Zuletzt aktualiziert am 14.10.2003