Victor Serge

 

Die Bedeutung der Mongolei

(1945)


Veröffentlicht in New Leader, New York 1945.
Victor Serge, Für die Erneuerung des Sozialismus: Unbekannte Aufsätze, Hamburg 1975, S.44-46.
Übersetzung aus dem Französischen: Marita Molitor.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive. [1*]


Mehrere Länder Zentralasiens, deren Namen der großen Öffentlichkeit noch fast unbekannt sind, werden ihr immer vertrauter werden. Die Probleme der ökonomischen und politischen Neuorganisation Asiens sind aufgeworfen worden. China hat auf der Kairoer Konferenz bezüglich des Wiederaufbaus seines gesamten Territoriums Zusagen erhalten, die schwer einzuhalten sein werden; es hat von den Russen die Räumung des Sinkiang oder chinesischen Turkestan zugesagt bekommen, ohne in Wirklichkeit seine Autorität in diesem großen Land wiederherstellen zu können, für das Handelsbeziehungen mit der UdSSR leichter und günstiger sind als mit dem entfernten China, das keine Industrie besitzt. Von den „Volksrepubliken“ Tanna-Tuwa und Mongolei, die de facto völlig sowjetisiert sind, aber de jure und vor allem aufgrund ihrer Traditionen, Sitten und Religion einen Teil Chinas bilden, war bisher noch nicht die Rede. Dies sind riesige, sehr schwach besiedelte Gebiete, die aber zu großem ökonomischen Fortschritt fähig sind und deren strategische Bedeutung fast ins Unendliche steigt. Die Steppen und Wüsten bereiten dem Flugzeug und dem Auto, diesen wesentlichen Instrumenten der modernen Eroberung, keine unüberwindbaren Schwierigkeiten mehr. Und wenn man die Wüste Gobi, die größte Wüste überhaupt, die die Mongolische Republik von den kommunistischen Territorien Chinas trennt, betrachtet, stellt man fest, daß ihre Breite nirgends mehr als 800 Kilometer befragt, das sind 3 Stunden mit dem Flugzeug. Im übrigen ist sie von Karawanen- und Autostraßen durchkreuzt.

Das Russische Reich, das seinen Expansionsbestrebungen in Richtung auf Zentralchina und die Mandschurei nachging, nutzte die chinesische Revolution von 1911 aus, um die gesamte sogenannte Äußere Mongolei und die geheimnisvolle Enklave Tanna-Tuwa, die zwischen der Mongolei und der fruchtbaren Region Minussinssk in Sibirien liegt, seinem Einfluß zu unterwerfen. Dieses kleine Land ohne eigene Physiognomie, zweimal so groß wie Portugal, mit weniger als 100.000 Einwohnern, besaß eine Selbstverwaltung, ergänzt durch eine rasche und wirksame russische Kolonialisierung, die durch blutige Strafverfolgungen erleichtert wurde. Die roten Partisanen fielen 1920 in das Land ein und verfolgten weiße banden. Eine revolutionäre Volkspartei wurde 1922 gegründet, und die UdSSR, die offiziell auf das russische Protektorat über Tanna-Tuwa verzichtete, unterstützte den Aufbau einer „unabhängigen Republik“, die diplomatische, ökonomische, finanzielle und militärische Beziehungen ausschließlich mit Rußland unterhält. Die besondere Situation Tanna-Tuwas läßt sich anscheinend nur mit den zum größten Teil noch nicht abgebauten Kohle-, Erdöl-, Gold-, Kupfer-, Eisen- und Asbestvorkommen erklären, die russische Geologen vor langer Zeit dort entdeckt haben. Durch die Zusammenarbeit mit Rußland wurde der Handel mit China ausgeschaltet; die landwirtschaftliche Kollektivierung wurde auf Kosten eines 1930 niedergeschlagenen Bauernaufstandes durchgesetzt. Die Unabhängigkeit Tanna-Tuwas wird augenblicklich nur durch schöne Briefmarken bestätigt.

Die Mongolische Republik, die größer ist als Frankreich, Spanien und Italien zusammen, scheint nicht solche Reichtümer zu besitzen, aber sie stellt eine Kreuzung der großen strategisch wichtigen Straßen dar. Sie hat eineinhalb Millionen Einwohner, zum größten Teil nomadische Mongolen, und ist relativ reich (die Statistiken geben etwa 10 Stück Vieh und Pferde pro Einwohner an). Die Russen trennten die Mongolische Republik 1911 von China ab; China erkannte ihr 1915 die Selbständigkeit zu. Während des Bürgerkrieges der Russischen Revolution versuchte die Weiße Armee des Baron Ungern-Sternberg mit der Unterstützung japanischer Agenten, dort ein „Mongolisches Reich“ zu errichten. Ungern war ein halbverrückter Sadist, er wurde von den roten sibirischen Partisanen, die in die Mongolei einfielen, verfolgt, gefangengenommen und erschossen. Die weiteren Ereignisse gingen nach dem üblichen Schema vor sich. 1. Bildung einer revolutionären Volkspartei, deren kommunistische Ausbilder in den Universitäten der Moskauer Partei unterrichtet worden waren; 2. Kongreß der Volksvertreter und Proklamation der Republik mit einer halbsowjetischen Verfassung; 3. lange, konfuse soziale Kämpfe auf zwei verschiedenen Ebenen: gegen die Feudalherren, den chinesischen Einfluß, den theokratischen Staat der buddhistischen Lamaklöster einerseits und parteiinterne Kämpfe andererseits, die fast genauso verliefen wie die, die die russische KP spalteten und auf die die gleichen ideologischen Entwicklungen und die gleichen Repressionen folgten; 4. Gründung eines russifizierten und sowjetisierten Staates, Bau von Schulen, Straßen, Fluglinien, Bildung einer Armee.

Der erste große militärische Organisator der Mongolei war Jakow Blumkin, der sozialrevolutionäre Ex-Terrorist, der 1918 in Moskau den deutschen Botschafter Graf Mirbach erschossen hatte; Blumkin selbst wurde 1929 in Moskau erschossen, weil er eine Unterredung mit Trotzki in Istanbul gehabt hatte. Der mongolische Chef der entstehenden Armee ist zur Zeit der Moskauer Prozesse während einer Reise mit der Transsibirischen Eisenbahn an einer Vergiftung gestorben. Die „Rechte“ der revolutionären Volkspartei wurden zur gleichen Zeit (1936-38) beschuldigt, mit den „Feudalherren, den Lamas und den japanischen Agenten“ zu sympathisieren und ohne Aufsehen exterminiert. In der Zwischenzeit wurde die Struktur der Mongolischen Volksrepublik auf folgender Basis stabilisiert: eine der Komintern angeschlossene Einheitspartei mit Pressemonopol; Verstaatlichung des Handels durch genossenschaftlichen Zusammenschluß nach sowjetischem Beispiel; Gründung einer mongolischen Staatsbank; Wirtschaftsabkommen mit der UdSSR; Planung, vergesellschaften der natürlichen Ressourcen und des Bodens, die als „Eigentum des werktätigen Volkes“ deklariert werden; kaum verschleierte russische Verwaltung und Polizeiregime.

Die sogenannte Innere Mongolei, die weiterhin chinesisch blieb und stärker bevölkert ist (man schreibt ihr zwischen 5 und 8 Millionen Einwohner zu), erlebte eine lange düstere Zeit. Eine revolutionäre Volkspartei versuchte, die Macht zu übernehmen, scheiterte und mußte schließlich in Ulan-Bator (ehemals Urga), der Hauptstadt der Mongolischen Republik Zuflucht suchen. Die Japaner ließen sich schließlich im Jahre 1937 dort nieder und gründeten eine Art vasallisches Fürstentum, den Khokohonto. Ein Teil der Inneren Mongolei untersteht jedoch heute dem Einfluß des kommunistischen China.

In den Jahren 1937/38 stand mehrmals der Ausbruch eines Krieges zwischen der UdSSR und Japan in dem Seengebiet bevor, wo die sowjetisierte Mongolei und die Mandschurei nahe der Transsibirischen und Transmandschureiischen Eisenbahn aufeinandertreffen. Eine mongolisch-russische Armee unter dem Kommando russischer Generäle leistete den japanischen Angriffen so heftig Widerstand, daß Tokio zögerte, sich energisch einzusetzen.

Die UdSSR erklärte sich bereit, ihre militärischen Verpflichtungen gegenüber der verbündeten Mongolei einzuhalten, d.h. einen extrem großen Konflikt für die Verteidigung dieser Position zu riskieren. Die UdSSR ließ sich im vorliegenden Fall von den besten defensiven Motiven leiten: die Besetzung der Äußeren Mongolei durch die Japaner hätte das ganze östliche Sibirien gefährdet, weil der Feind die Möglichkeit gehabt hätte, Irkutsk, d.h. das Gebiet um den Baikalsee anzugreifen und Sibirien damit in zwei Teile zu teilen. Der unmittelbar bevorstehende Zusammenbruch des japanischen Imperialismus nimmt der UdSSR jegliche Sorge in bezug auf diese lebenswichtige Region und verwandelt die Mongolische Republik in eine hervorragende Operationsbasis für die russische Expansion in Zentralasien und in Richtung auf das innere Chinas.

Die Äußere Mongolei verfügt in der Tat über ein mit dem Auto gut befahrbares Straßen- und Wegnetz, das von der Hauptstadt ausgeht. Ulan-Bator selbst ist über die Transsibirische Eisenbahn über eine Strecke von etwa 600 Straßenkilometern mit Werchneudinsk verbunden. Im Westen geht eine Straße nach Nordsinkiang; im Osten eine nach Khailar in der Mandschurei; im Süden mehrere nach China, allerdings durch die Wüste; ein Weg trifft in der Steppe auf den alten, unter dem Namen Seidenstraße bekannten, Karawanenweg, der seit dem Mittelalter China mit dem Iran verbindet und für den Handel mehrerer Zivilisationen eine so große Rolle spielte. Als die kommunistischen Armeen Chinas vor 10 Jahren sehr vorausschauenden Befehlen gehorchten und unter der Führung Mao Tse-tungs ihren erstaunlichen Rückzug auf die Gebiete, die sie heute besetzt halten, vornahmen, war es offensichtlich, daß sie eine Annäherung an die sowjetisierte Mongolei suchten. Sobald die Niederlage Japans in Jehol und Chahar (Innere Mongolei) zu spüren sein wird, wird die revolutionäre Volkspartei dieser Provinzen aus dem Untergrund hervortreten, und das kommunistische China mit seinen 80 Millionen Einwohnern und die Mongolische Volksrepublik werden sich zusammenschließen und einen territorialen Block entlang der Transsibirischen Eisenbahn bilden.

 

Anmerkung des MIA

1*.In der Ausgabe des Verlags Association wurden alle Substantive außer Eigennamen kleingeschrieben. Wir haben für diese Internet-Ausgabe zwecks Leserlichkeit die normale Großschreibung wiedereingeführt.

 


Zuletzt aktualiziert am 14.10.2003