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Am Tage meiner Abreise nach Sowjet-Rußland stand der Kurs 900 Papiermark für eine Goldmark; am Tage meiner Rückkehr, sieben Wochen später, gab es für eine Goldmark 1.784,– Papiermark. Wir bekamen das gleich auf dem deutschen Grenzbahnhof zu spüren. August Thalheimer, der deutsche Parteitheoretiker, der zu meiner Reisegruppe gehörte, wollte im Restaurant des Grenzbahnhofes ein Glas Wein spendieren und bestellte eine Flasche „Haute Sauternes“. Als der Kellner den Wein brachte, mußten wir alle unser deutsches Geld, das wir noch bei uns hatten, zusammenlegen, um die Flasche bezahlen zu können. Alle waren erschrocken über die Teuerung und sprachen von einer „Katastrophe“, die zum schnellen revolutionären Handeln zwinge.
Die deutsche Arbeiter- und Angestelltenschaft mußte in dieser Zeit erbittert um ihren Arbeitslohn kämpfen. Die Entwertung des Geldes ging so rasch vor sich, daß der am Ende der Woche ausgezahlte Arbeitslohn kaum reichte, ein Brot zu kaufen. Die Angestellten hatten inzwischen durch zahlreiche Streiks die wöchentliche Auszahlung ihrer Gehälter erreicht. Das Jahr 1922 wurde somit das streikreichste Jahr in der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Ungefähr 4.500 Streiks wurden offiziell registriert. Sicherlich sind ebensoviele Streiks in Kleinbetrieben gar nicht mitgezählt worden.
Mir waren die Schwierigkeiten, mit denen sich Klein- und Mittelbetriebe zu plagen hatten, wohl bekannt. Ich war seit Frühjahr 1922 zusätzlich halbtags im Kommunistischen Partei-Verlag „Vereinigte Internationale Verlagsanstalt“ tätig, der von dem Verlagsbuchhändler und Schriftsteller Arthur Seehof und Rosi Wolfstein, Mitglied des Zentralkomitees, geleitet wurde. Der Verlag konnte sich finanziell nicht halten, und das Zentralkomitee der Partei hatte das Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale ersucht, den Verlag zu übernehmen. Thomas hatte mich als seinen Bevollmächtigten eingesetzt. Da die Verlagsräume einige Male durch die Polizei besetzt, Bücher und Zeitschriften mit Lastwagen fortgeschafft worden waren, richtete ich auch für diesen Verlag geheime Lagerkeller ein. Ich erfuhr durch die Tätigkeit in diesem Verlag mit seinen ungefähr fünfzehn Angestellten praktisch die Plagen eines kleinen Unternehmens in der Inflation. Wenn die Rechnungsbeträge für gelieferte Bücher nach einigen Wochen beim Verlag eingingen, reichten sie kaum für das verauslagte Porto aus.
Es war ganz offensichtlich, daß die Inflation organisiert war. Die Großindustrie litt nicht darunter, sie wurde ihre Schulden los, und neue Investitionen erfolgten mit staatlicher Hilfe in Papiermark, exportiert aber wurde gegen Devisen. Die Umstellung der deutschen Industrie war überraschend schnell gelungen; in Deutschland war nichts zerstört worden wie in Frankreich, Belgien, Polen und Rußland.
Die formale negative Stimmzettel-Demokratie hatte keine Kontrolle über die Wirtschaft, so konnten die großen Industriellen wie Stinnes und ihre Manager wie Hugenberg (bevor dieser in das Zeitungswesen einstieg und zum Beherrscher der deutschen Generalanzeigerpresse wurde) nicht nur die Wirtschaft, sondern folgerichtig auch die Politik bestimmen. Eine positive Demokratie muß die Wirtschaft kontrollieren. Die gesamte, von der Wirtschaft dirigierte Presse verstand es, wirksam die Bevölkerung zu verhetzen und dieser zu suggerieren, die Inflation sei durch die Reparationstlieferungen bedingt. Dieser Behauptung stimmten alle Parteien zu, von den Deutschnationalen als Initiatoren über die Sozialdemokraten, die Gewerkschaften bis zu den Kommunisten. Obwohl das Jahr 1922 ein Jahr der schwersten innen- und außenpolitischen Spannungen war, hatte die KPD unter Führung von Ernst Meyer innerparteilich das relativ ruhigste Jahr der bisherigen Parteigeschichte. Die Partei richtete sich auf die Legalität ein, es wurden Parteihäuser und Druckereien gekauft. Im Jahre 1922 fand kein Parteitag statt, die Zentrale ging mit allen schwebenden Fragen zum Weltkongreß der Kommunistischen Internationale.
Während die meisten Mitglieder der Zentrale und die wichtigsten Leiter der Parteibezirke in Moskau waren, kam es in Deutschland zu einem entscheidenden Schritt vorwärts auf dem Wege zur nazistischen Diktatur. Die Regierung des Reichskanzlers Wirth, die aus der Zentrums-, der Sozialdemokratischen und der Demokratischen Partei bestand, trat im November zurück. Nachfolgerin wurde eine rechtsstehende Regierung aus Vertretern der Großindustrie. Reichskanzler wurde der Generaldirektor Cuno, Mitglied der großkapitalistischen Deutschen Volkspartei. Die neue Regierung tat jetzt, was Stinnes und Hugenberg seit 1921 forderten: Sie sabotierte die Reparationslieferungen und legte es darauf an, Frankreich zu isoliertem Vorgehen zu provozieren und die Entente zu sprengen. Das gelang ihr auch. Diese entscheidenden Änderungen erfolgten, ohne daß die damals zahlenmäßig sehr starken Arbeiterorganisationen KPD, SPD und Gewerkschaften die verderbliche Entwicklung der rechtsradikalen Politik stoppten. Die Arbeiterorganisationen versuchten nur die Härten zu mildern. Der Zerfall der Währung, die Enteignung der Sparer, der Rentner, des Mittelstandes setzte mit voller Wucht ein und brachte das Kleinbürgertum in Bewegung. Doch nicht gegen die Urheber des Unheils, sondern gegen die linken Organisationen. Zahlreiche „Propheten“, Sekten, Narren und Schwindler mit religiös-politischem Anstrich, wie sie stets in Katastrophenzeiten auftauchten, hatten Zulauf von Millionen Menschen und taten zusätzlich das Ihre, die kleinen Leute mit antijüdischen und nationalistischen Parolen zu verhetzen.
Wir in der KPD glaubten indessen, daß eine neue revolutionäre Situation heranreife. Der Parteitheoretiker Thalheimer hatte im Oktober 1922 den Entwurf eines neuen Parteiprogramms vorgelegt, der diese neue Situation erfassen sollte. Es hieß im Programmentwurf:
»Die kapitalistische Welt windet sich im Todeskampf! Die Stunde ihres Untergangs hat geschlagen. Und jetzt endlich nähert sich der zahllose Jahrhunderte erfüllende Befreiungskampf der unterdrückten und ausgebeuteten Volksmassen seinem Abschluß. Die Bourgeoisie, einschließlich ihrer sozialdemokratischen Lakaien, zetert über die gewaltsamen Methoden der Kommunisten, über den kommunistischen Terror. Die Klage der Bourgeoisie über kommunistische Gewalt ist grobe Heuchelei. Sie hat die proletarischen Erhebungen am Ende des Krieges in Mitteleuropa in Strömen von Blut erstickt. Sie hat den Terror, den politischen Mord, die Verschwörung zu ihrer stehenden Waffe gemacht.
Die proletarische Gewalt ist unvermeidlich, solange die bürgerliche Gewalt der Minderheit die breiten Volksmassen in Ausbeutung und Knechtschaft kalten soll. Sie wird überflüssig in dem Maße, wie die bürgerliche Minderheit sich der proletarischen Mehrheit unterordnet – wie sie ihre Klassenansprüche aufgibt.
Die bürgerliche Gewalt strebt danach, die gewaltsame Beherrschung der breiten Volksmassen zu verewigen. Die proletarische Gewalt strebt danach, sich selbst überflüssig zu machen.«
Die Zentrale akzeptierte diesen Entwurf, und Thalheimer nahm ihn zum vierten Weltkongreß der Kommunistischen Internationale mit. Deren Exekutive stellte den Entwurf jedoch zurück, weil Bucharin gerade an einem Programm der Kommunistischen Internationale arbeitete, nach dem sich die angeschlossenen Parteien orientieren sollten. Nach der Rückkehr der verantwortlichen Funktionäre der Partei aus Moskau wurde ein Parteitag für Ende Januar 1923 einberufen. Als dieser am 28. Januar in Leipzig zusammentrat – ich war wieder als Vertreter für Thomas anwesend – waren die außenpolitischen Entscheidungen bereits gefallen. Die französische Regierung hatte am 5. Januar 1923 die militärische Besetzung des Ruhrgebietes beschlossen; am 10. Januar befahl die deutsche Regierung die „passive Resistenz“, am 11. Januar marschierten Franzosen und Belgier in Essen ein, bis zum 26. Januar waren sämtliche Zechen des Ruhrgebietes besetzt. Außerdem noch wichtige Städte am Rhein entlang, bis Karlsruhe. Einige Tage vor dem Parteitag schrieb die Rote Fahne im Leitartikel:
»Die deutsche Nation wird in den Abgrund gestoßen, wenn das Proletariat sie nicht rettet. Die Nation wird von den deutschen Kapitalisten verkauft und vernichtet, wenn sich die Arbeiterklasse nicht dazwischen wirft. Entweder verhungert und zerfällt die deutsche Nation unter der Diktatur der französischen Bajonette oder sie wird durch die Diktatur des Proletariats gerettet.«
Die Zentrale ließ auch gleichzeitig mit dem Beginn des Parteitages auf Grund von Meldungen aus München in der gesamten Parteipresse einen Aufruf veröffentlichen, in dem von einem bevorstehenden Marsch der Nationalsozialisten auf Sachsen und Thüringen und vor Lösungsbestrebungen bayrischer monarchistischer Kreise, die mit französischer Unterstützung einen Block katholischer Staaten von der Pfalz bis Rumänien bilden wollten, gewarnt wurde. In dem Aufruf hieß es:
»In Bayern schlagen die Faschisten los! ... Bildet Arbeiterwehren. Zwingt die Arbeiterregierung zur Niederwerfung der landesverräterischen Putschisten. Nieder mit den Hitler- und Orgeschbanden! Schlagt ihr nicht die Putschisten nieder, so schlagen sie euch nieder!«
Ein Kommentar ergänzte den Aufruf unter der Überschrift:
»Vor Hitlers Putsch! Von allen Seiten laufen Faschistentrupps in München ein. Von dort wird gemeldet, daß Hitler bereits über 12.000 bis 14.000 Mann Bewaffneter verfügen kann. Die Faschisten glauben München und Bayern überrumpeln zu können, um dann nach dem Norden, nach Sachsen und Thüringen vorzustoßen.«
Die Delegierten des Parteitages waren sich darüber klar, daß die Partei aktiver werden mußte, wenn sie als revolutionäre Partei bestehen wollte. Sie waren sich auch bewußt, daß die Partei trotz der inneren Erholung allein nicht stark genug war, gegen die politische Entwicklung nach rechts anzukämpfen. Eine aktivere Politik erforderte einen Wechsel in der Führung. Der kontemplative Intellektuelle Ernst Meyer wurde abgewählt. Die Leitung übernahm der energische Pragmatiker Heinrich Brandler. Brandler gehörte zu den ersten Spartakusmitgliedern im Ersten Weltkriege. Der bisherigen Zentrale hatte er nicht angehört, weil er im Gefolge der Märzaktion 1921 zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt worden war. Inzwischen war er amnestiert worden. Brandler referierte auf dem Parteitag über die Notwendigkeit der Einheitsfront der Arbeiterorganisationen: Kommunisten, Sozialdemokraten, die Gewerkschaften und auch die Genossenschaften sollten eine Arbeiterregierung bilden, um Deutschland vor weiteren Verelendung oder gar Zerfall zu retten. Mit den von Brandler und Thalheimer vorgelegten Leitsätzen, die der Parteitag annahm, sollte die neue Politik der Einheitsfront der Arbeiterklasse eingeschlagen werden.
Es hieß in den Leitsätzen:
»Der Kampf um die Macht der Arbeiterklasse kann nur als Massenkampf, als Kampf der Mehrheit der Arbeiterklasse gegen die Herrschaft der kapitalistischen Minderheit siegreich geführt werden ... Das größte Hindernis der Entwicklung der Einheitsfront des Kämpfenden Proletariats ist der Einfluß der reformistischen sozialdemokratischen Führer.
Die Kommunistische Partei muß sich deshalb in jeder ernsten Situation sowohl an die Massen wie auch an die Spitzen aller proletarischen Organisationen mit der Aufforderung zum gemeinsamen Kampf zur Bildung der proletarischen Einheitsfront wenden. Neben der Eroberung dieser alten Organisationen (Gewerkschaften, Genossenschaften) muß die proletarische Einheitsfront zur Durchführung ihrer Ziele auch neue Organe schaffen, die die ganze Klasse erfassen (Betriebsräte, Kontrollausschüsse, politische Arbeiterräte) ... Nur die ganze Klasse ... vermag ... mit diktatorischer Gewalt alle Widersprüche der Gegenrevolution niederzuschlagen.
Der Kampf für die Arbeiterregierung darf die Propaganda für die Diktatur des Proletariats nicht schwächen, denn die Arbeiterregierung, wie jede Position des Proletariats im Rahmen des bürgerlichen demokratischen Staates, ist nur ein Stützpunkt, eine Etappe des Proletariats in seinem Kampfe um die politische Alleinherrschaft.«
Außer diesen Leitsätzen, an denen Brandler bereits im Gefängnis gearbeitet hatte, brachte er noch eine andere Entdeckung mit: Einen jungen Genossen namens Walter Ulbricht, der auf Empfehlung Brandlers auf diesem Parteitag zum ersten Male in die Zentrale gewählt wurde. Die oppositionelle Gruppe um Maslow-Ruth Fischer, Ernst Thälmann und andere, die ihre Anhänger in Berlin, Hamburg und im Ruhrgebiet hatten, lehnten die Parole der Arbeiterregierung ab und verlangten unentwegt die „Aufrollung der Machtfrage“, wie Ruth Fischer die Oppositionsparole in zahlreichen Parteiversammlungen formulierte. Die neue Politik der Einheitsfront und Arbeiterregierung wurde zu einer innerparteilichen Streitfrage, die jahrelang zu fruchtlosen Diskussionen führte und die Partei mehr lähmte als selbst die Folgen der opfervollen Märzaktion von 1921.
Der Parteitag beschloß außerdem einstimmig die Bildung von „Arbeiterwehren“ zum Schutze der erstrebten Arbeiterregierung und zur Abwehr der Putschisten aus Bayern. Es stellte sich jedoch bald heraus, daß weder die Zentrale noch die Bezirksleitung sich mit der praktischen Ausführung dieses Beschlusses befaßen konnten.
Ungefähr zwei Wochen nach dem Parteitag lud mich der Vorsitzende der Partei, Heinrich Brandler, ein, ihn in seinem Büro aufzusuchen. Er eröffnete das Gespräch mit der Mitteilung, daß er mich für die Gesamtleitung des „illegalen Parteiapparates“ und der „Arbeiterwehren“ vorgeschlagen habe. Die Zentrale habe zugestimmt, auch der Vertreter der Kommunistischen Internationale, „August Kleine“ = Guralski. Dieser hatte übrigens keine besonderen Vollmachten vom Exekutivkomitee. Verschiedene spätere Berichte, in denen es hieß, daß Kleine-Guralski Leiter des „Militär-Apparates“ gewesen sein soll, sind unwahr.
Ich nahm die Berufung an und erläuterte meine Ansichten über die Aufgaben: Die „Apparate“ müßten neu geschaffen werden. „Arbeiterwehren“ als überparteiliche Organe der Einheitsfront der Arbeiterklasse hätten nur dann einen Sinn, wenn sie von zuverlässigen Kadern aus aktiven Mitgliedern der kommunistischen Partei, dem Ordnerdienst (OD), geleitet werden. Der „O-D“ müßte die Führungskräfte, gleichsam die Offiziere der Arbeiterwehren stellen. Die Arbeiterwehren wurden bald in „Proletarische Hundertschaften“ umbenannt.
Die Tätigkeit der Militärpropaganda (M-P), die Propaganda unter den Reichswehrsöldnern und den illegalen „Zeitfreiwilligen“, für die der Journalist Berthold Jacob. der Militärfachmann der Wochenschriften Die Weltbühne und Das Tagebuch, die treffende Bezeichnung „Schwarze Reichswehr“ gefunden hatte, müßte im Geiste des Antimilitarismus wie ihn Karl Liebknecht und, zwei Jahrzehnte zuvor die Sozialistische Internationale gefordert hatten, durchgeführt werden. Ich wies zugleich die Illusion zurück, daß im Falle eines Aufstandes der Arbeiterschaft, Teile der Reichswehr zu den Arbeitern übergehen würden. Dazu waren die Berufssoldaten und ihr Anhang, auch in der Zeit der größten Not in Deutschland zu gut versorgt. Ich sagte, daß ich weit eher befürchtete, daß sich die Reichswehr einer legalen Arbeiterregierung gegenüber nicht loyal verhalten werde. Um so nötiger sei der Versuch, sie zu neutralisieren. Der Nachrichtendienst (N-D) müßte die gegnerische Kampforganisationen „Stahlhelm“, „Nationalsozialisten“, „Jungdeutscher Orden“ und andere „Zeitfreiwilligen“ und besonders auch die Rüstungsindustrie gründlicher beobachten.
Brandler und die Zentrale billigten meine Vorschläge von der Gesamtarbeit der „Apparate“, und ich schied aus meiner bisherigen Verlagsarbeit bei Thomas aus.
Ich fand die Situation in diesen Tätigkeiten so vor, wie sie Radek in einer Sitzung des Exekutivkomitees festgestellt hatte, als er die Delegation der deutschen Parteizentrale fragte: „Was hat die Zentrale seit Abgang Levis eigentlich in dieser Hinsicht getan?“ und er hatte gleich die Antwort hinzugefügt: „Nichts!“
Beginnen mußte ich mit zeitraubender Vorsicht. Ich lehnte Auffassungen Brandlers und Eberleins ab, die durch Rundschreiben über die Bezirksleitungen diejenigen Parteimitglieder aufrufen wollten, die einmal in ihrer Militärdienstzeit oder im Kriege höhere Dienstgrade innegehabt hatten. Für so einfach hielt ich die Sache nicht. Zwar waren damals nicht wenige frühere Offiziere Mitglieder der KPD, aber ob diese überhaupt gewillt oder geeignet waren mitzuarbeiten, mußte ich erst in persönlichen Unterredungen feststellen. Dazu fuhr ich in diesen Wochen Tag und Nacht in Berlin und Deutschland herum, um mit den Personen zu sprechen, die mir von den Bezirksleitungen genannt wurden. In den meisten Fällen ergab sich, daß gerade die früheren Offiziere, die durch Kriegserlebnisse zu Pazifisten geworden waren, von einem eventuellen Bürgerkrieg ebensowenig wissen wollten, wie von einem nationalen Krieg. Doch fand ich auch frühere Offiziere, die sofort zur Mitarbeit bereit waren.
Die Not der Zeit, die Furcht vor einem neuen Losschlagen der Reaktion, die militärischen Vorbereitungen der Reichswehr, die ständigen Drohungen der „Völkischen“, der „Nationalsozialisten“ und des „Stahlhelm“ mit einem Aderlaß an der Arbeiterschaft und der Ausrottung der Juden in Deutschland waren meine unwiderlegbaren Argumente, um die kämpferisch eingestellten Mitglieder der KPD für die aktive Abwehr zu gewinnen. Strenge Konspirativität auch innerhalb der eigenen Partei war im Anfangsstadium der Arbeit geboten, obwohl der Stamm der Parteimitglieder aus überzeugten Kommunisten bestand. Ich fand auch in fast allen größeren Städten aktive Parteimitglieder und sogar kleine und größere Gruppen vor, die sich insgeheim bereits mit Kampfaufgaben für den Ernstfall beschäftigten. Andererseits waren die Zehntausende neuen Mitglieder, die im Laufe der letzten Jahre zur Partei gekommen waren, zum größten Teil nicht nur Neulinge in der Partei, sondern auch in der Arbeiterbewegung überhaupt. Diese neuen Mitglieder mußten erst mit den Grundbegriffen der Arbeiterbewegung und des Sozialismus vertraut gemacht werden. Sie ersetzten die etwa Hunderttausend nicht, die nach der „Märzaktion“ des Jahres 1921 die KPD verlassen hatten.
In Berlin traf ich im Büro der Zentrale einen Mann, dessen Bekanntschaft ich in Moskau gemacht hatte. Zusammen mit einem Freund hatte er mich in der Buchausstellung im Kreml besucht. Es war ein früherer Oberleutnant und Kadettenlehrer Wolfgang von Wiskow, Sohn des Baumeisters des modernen Dar-es-Salam im früheren Deutsch- Ostafrika. Ich verabredete mit Wiskow eine Unterredung, und als er zu dieser kam, war er wieder von seinem Moskauer Freund begleitet. Wolfgang von Wiskow wurde mein erster Mitarbeiter in der zentralen Leitung. Er war ein hochgebildeter, zurückhaltender Mann, der ebenfalls durch seine Kriegserlebnisse zum Antimilitaristen und Mitglied der KPD geworden war. Auch sein Freund wies sich als Parteimitglied aus. Er nannte sich Otto Steinbrück und war Stabsoffizier in der ungarischen Armee gewesen. Wie sie mir sagten, hatten sie sich in russischer Kriegsgefangenschaft kennengelernt. Unter den weiteren Mitarbeitern, die sich rasch zusammenfanden, sind einige, die hier ihre Karriere begannen und später in der Deutschen Demokratischen Republik bekannt wurden: Joseph Gutsche, Arbeiter in einem Berliner Großbetrieb; Gustl Mayer, Nordbayern; Wilhelm Zaisser, Ruhrgebiet, der spätere General Gomez im spanischen Bürgerkrieg, Theodor Neubauer, Thüringen; Albert Schreiner, Redakteur, Württemberg, heute Professor in Leipzig; Ernst Wollweber, Kassel, der spätere Minister für den Staatssicherheitsdienst der DDR; dann zwei weitere frühere Offiziere, die während der Bayrischen Räterepublik Kommandanten der Rätetruppen gewesen waren; der Redakteur Erich Wollenberg und der Medizinstudent Ernst Gänther.
Die genannten Funktionäre waren alle älter als ich, und sie hatten zum Teil schon wichtige Funktionen in der Arbeiterbewegung innegehabt. Ich hatte sie in den Besprechungen darauf hingewiesen, daß ich kein „Kommandant“ sei, daß jeder in seinem Bezirk selbst verantwortlich sei und daß das Signal zum Aufstand nicht unbedingt von den Zentrale kommen müsse. Wenn irgendwo schwere Kämpfe ausbrechen sollte, so müßte auch jeder selbst beurteilen können, ob sie lokal begrenzt sind oder ob sie sich über ganz Deutschland ausbreiten könnten. Nur dürfe sich niemand überraschen lassen. Hier sollte uns die Lehre Trotzkis maßgebend sein, der 1918 in einer Rede über den Verlauf der Russischen Revolution gesagt hatte:
»Die Revolution besitzt eine mächtige Kraft der Improvisation, aber sie improvisiert nie etwas Gutes für Fatalisten, Schlafmützen und Dummköpfe. Zum Siege gehört eine richtige politische Einstellung, Organisation und der Wille zum entscheidenden Schlag.
Das richtige Gefühl dafür, was er den eigenen Truppen zumuten und was er sich dem Feinde gegenüber erlauben kann, kennzeichnet den wahren Führer ... Improvisierte Truppen wollen von Männern geführt werden, nicht von Behörden ...«
Die kritischen Erkenntnisse Friedrich Engels über Möglichkeiten von Strassenkämpfen mangelhaft bewaffneter Massen gegen reguläre Truppen waren meinen Mitarbeitern bekannt, und sie hatten aus den Erfahrungen der deutschen Kämpfe der Jahre 1918 bis 1921 gelernt, Illusionen gab es unter diesen Genossen nicht. Wir gingen davon aus, daß die Kampfkraft der Reichswehr und ihrer Trabanten, der „Schwarzen Reichswehr“, der Militärverbände „Stahlhelm“ und „Jungdeutscher Orden“ nur durch den Aufstand von Millionen Menschen erstickt werden könnte und dort, wo die Reichswehr das Übergewicht hatte, könnte sie nur durch Stillegung der gesamten Produktion, des Verkehrs und der Versorgungsbetriebe zur Kapitulation gezwungen werden.
Die Ausbildung des „O-D“ konnte nur politisch erfolgen. Waffentechnisch waren die Mitglieder auf ihre eigenen Kenntnisse angewiesen, sie sollten einander beraten und, wo es möglich war, auch üben. Was auf diesem Gebiet alles geschah, konnte ich zentral nicht kontrollieren.
Später hieß es in Geschichtswerken, die Vorbereitungen der KPD zur Machteroberung im Jahre 1923 seien dilettantisch gewesen. Das kann man nachträglich leichthin behaupten. Zur Zeit des Handelns entsprachen die Vorbereitungen den Möglichkeiten der politischen Situation und der Reife der eigenen Anhänger. Die politischen Entscheidungen lagen bei der Zentrale der Partei und nicht bei den „Apparaten“. Eine legale Staatsmacht, Reichswehr und Polizei mit hohem Sold und der Aussicht auf künftige Beamtenversorgung aufzubauen war bestimmt leichter. Für die Partei war es ein großer Fortschritt, daß es im Frühjahr 1923 nicht mehr möglich gewesen wäre, daß bei spontanem Zusammenströmen großer Volksmassen irgendein unbekannter Mann auf einen Wagen geklettert und Aufstandsparolen in die Menge geschleudert hätte, wie in Berlin im Januar 1919, nach dem Kapp-Lüttwitz-Putsch im Ruhrgebiet, in der Märzaktion 1921 in Mitteldeutschland. Jeder Mann, der jetzt in politischen Massenkundgebungen aufgestanden wäre, wäre von Parteimitgliedern sofort gestellt und überprüft worden, ob es sich um einen wildgewordenen Kleinbürger oder um einen Provokateur der Wehrverbände, der Reichswehr oder der politischen Polizei handelte. Die Partei hätte sich jedenfalls nicht mehr von den Ereignissen überrumpeln lassen. Mittlerweile waren auch schon mehrere tausend Mitglieder der KPD in kommunalen Körperschaften tätig und mit der Versorgung der Bevölkerung kleiner und großer Städte vertraut, das heißt, mit dem In-Betrieb- Halten der öffentlichen Einrichtungen wie Wasser-, Elektrizitäts- und Gasversorgung, Sanitätswesen, des Verkehrs usw. Es wäre Dilettantismus gewesen, technisch noch mehr vorbereiten zu wollen.
Die französische Regierung Poincaré und die deutsche Regierung Cuno wurden sich bald darüber einig, daß der eigentliche Feind die revolutionäre Arbeiterschaft sei. Beide Regierungen ließen auf demonstrierende Arbeiter schießen. Der Unterschied war, die französisch-belgischen Besatzungstruppen schossen auch auf rechtsstehende Demonstranten, die deutsche Polizei schoß nur auf linksstehende. Zu Beginn des Widerstandes hatten alle Arbeiterorganisationen den Generalstreik gegen die Besatzungstruppen durchgeführt. Weil die deutsche Regierung die Löhne und Gehälter in voller Höhe weiterzahlte, kamen dem Vorstand der SPD bald Bedenken über den weiteren Verlauf. Er fürchtete eine kriegerische Entwicklung und einen Umsturz ebenso sehr wie die bürgerlichen Mittelparteien.
Die KPD aber wollte jetzt in nationalistischen Phrasen den rechtsstehenden Parteien nicht nachstehen. Die Rote Fahne schrieb am 1. April 1923:
»Die Nation zerfällt. Das deutsche Bürgertum kann nicht einmal mehr die Grenzen seines Vaterlandes schützen ... es kriecht vor den Bajonetten Poincaré’s ... Nur die Arbeiterschaft kann die Nation retten. Sie erhält und erwirbt sich ihr Erbe, indem sie um es kämpft, indem sie sich – endlich – als herrschende Klasse konstituiert. Darum kann die Regierung, die Poincaré die Stirn bietet, nur die revolutionäre Regierung, eine Arbeiterregierung sein, die geboren und getragen ist vom kämpfenden Proletariat.«
Das war die nationalbolschewistische Sprache. Doch die Zentrale der Partei fürchtete, den Kampf nach zwei Seiten führen zu müssen. Sie rief gemeinsam mit dem Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale und der „Roten Gewerkschaftsinternationale“ eine geheime Konferenz nach Frankfurt am Main ein. Der Zweck dieser Konferenz sollte die „Aufhebung des Versailler Raubvertrages“ sein.
An dieser Konferenz nahmen französische, englische, russische Delegationen und Gäste teil. Ich nahm an der Konferenz teil und hatte auch den Auftrag, die Konferenz gegen Überfälle zu sichern. Die Beschlüsse der Frankfurter Geheimkonferenz bekräftigten die Forderung nach Bildung einer deutschen Arbeiterregierung. Die Parole „Poincaré die Stirn zu bieten“ wurde fallengelassen. Die Beschlüsse besagten, daß die revolutionären Arbeiter den Frieden wollen, daß sie sich jedem neuen kapitalistischen Krieg mit aller Kraft widersetzen werden. Die revolutionären deutschen Arbeiter seien bereit, den Frieden mit den schwersten materiellen Opfern zu erkaufen, um eine Frist für den Aufbau der proletarischen Macht zu gewinnen. Die revolutionären Arbeiter würden „dem französischen Imperialismus die Reichtümer, die sie bei der deutschen Bourgeoisie beschlagnahmen werden, in den Rachen werfen“. Sollte jedoch das internationale Kapital einem revolutionären Deutschland keinen Frieden gönnen, so würden das revolutionäre Deutschland und Rußland gemeinsam mit der Arbeiterklasse der Ententeländer die konterrevolutionären Angriffe abwehren und auch Siegen können.
Die Zentrale wollte ihre Politik von Moskau bestätigt haben, und wiederum fuhren Delegationen nach Moskau und blieben wochenlang dort. Die oppositionellen „Linken“ kamen mit dem Erfolg zurück, daß Ernst Thälmann, Ruth Fischer und je ein weiterer Vertreter der Linken des Ruhrgebietes und Berlins in die Zentrale aufgenommen wurden. Die Auseinandersetzungen zwischen der Zentrale und der Opposition wurden in die Öffentlichkeit getragen und hatten zur Folge, daß die gesamte Tätigkeit des „O-D“ und der Arbeiterwehren-Hundertschaften gestoppt werden mußte. Das gab den ersten Bruch in der kaum gefestigten Arbeit. Um diese Zeit waren die Wehrverbände, die Reichswehr und die Polizei zusammen zahlenmäßig um das Fünfzigfache stärker als der „O-D“. Nur die Erhebung der Arbeiterschaft als Klasse unter Führung der KPD hatte Aussicht auf Erfolg gehabt. Radek hatte in Moskau als Lehre der Märzaktion erklärt:
»Wo die Partei die Möglichkeit sieht, vorwärts zu stürmen, muß sie die Stürmer vorzubereiten suchen durch die Aufrüttelung der Massen durch die Verbindung der Partei mit den breitesten Massen. Wir müssen immer im Auge behalten, daß wir den Massen zwar einen Schritt voraus sein dürfen, daß aber die Distanz zwischen der Vorhut und den großen Massen nicht so groß sein darf, daß wir im isolierten Kampf niedergeschlagen werden können.«
Eine Einheitsfront wurde von der Sozialdemokratie und den Gewerkschaften abgelehnt. Die KPD schwenkte daraufhin wiederum auf den nationalistischen Kurs ein.
Im latenten Ruhrgebietskrieg gegen die französisch-belgischen Besatzungstruppen war die „Sabotageorganisation Heinz“ sicherlich die aktivste. Eine ihrer Dynamitkolonnen wurde von einem früheren Freikorpsoffizier Schlageter geleitet. Nach Verübung einiger Attentate wurde er verhaftet, vor ein französisches Militärgericht gestellt, zum Tode verurteilt und erschossen. Schlageter war von einem Mitglied seiner Truppe für Extrageld verraten worden und Schlageter selbst verriet bei seiner Vernehmung weitere seiner Gruppe.
In dieser spannungsgeladenen Zeit wurde beinahe in allen europäischen Ländern befürchtet, daß aus der Besetzung des Ruhrgebietes die Flammen eines neuen Weltkrieges schlagen könnten. Kaum aus Moskau zurück, fuhr bereits im Juni wiederum eine Delegation der KPD nach Moskau, um dort über die Situation in Deutschland zu beraten. Hier stand Radek auf, um den erschossenen Schlageter, den „Wanderer ins Nichts“, wie ihn Radek nannte, in einer Aufsehen erregenden Rede zu dramatisieren.
Die Schlageterrede im Wortlaut zu bringen würde in meinem Bericht zu weit führen, markante Stellen zu zitieren würde dem Geist der Rede nicht gerecht werden. Radek hatte den Werdegang Schlageters eingehend studiert. Er sprach es auch aus, daß Schlageter ein erbitterter Feind der Arbeiterschaft und haßerfüllter Judengegner war, daß nach Ansicht Schlageters und seiner Genossen der „innere Feind“ erst ausgerottet werden müßte, wenn Deutschland wieder einen Krieg führen wollte. Trotzdem bot Radek den Banden um Schlageter gemeinsames Vorgehen mit der Kommunistischen Partei gegen die Entente an. Der Weltrevolutionär Radek, der als polnischer Jude geboren worden war, sprach in dieser Rede so nationalistisch, wie es die Deutschnationalen ohnehin waren. Radek, der sonst nur von der „Kraft der revolutionären Arbeiterklasse“ sprach, beurteilte verhängnisvoll falsch die Geisteshaltung des deutschen Groß- und Kleinbürgertums, deren Idol eben Schlageter war, und deren „Führer“ in den folgenden Jahren Hitler wurde. In den Reihen der KPD schuf diese einmalige, rednerisch großartige Leistung Radeks starke Verwirrung.
Ich war mit Wiskow am frühen Morgen des 27. Juni 1923 auf dem Ringbahnhof Neukölln verabredet. Von dort wollten wir ein Lokal aufsuchen, um über die Arbeit der nächsten Tage, Kurse und Reisen zu sprechen. Ich hatte an einem Kiosk Zeitungen gekauft, und ich entfaltete während der Fahrt als erste die Parteizeitung Rote Fahne. Groß aufgemacht über die erste Seite brachte das Blatt die Rede Radeks über den „Wanderer ins Nichts“. Als Wiskow aus dem entgegenkommenden Zug stieg, schwenkte er seine Zeitung. Ich sagte, daß ich die Rede Radeks für eine Gemeinheit uns gegenüber halte. Er antwortete: „Ja, eine geniale Gemeinheit.“ So waren wir uns ohne weitere Worte einig, und ich sagte, daß es jetzt keinen Zweck habe, über die Arbeit zu sprechen, auch die geplante Reise ins Ruhrgebiet müsse unterblieben, wir müßten uns erst vergewissern, was die Schlageterrede zu bedeuten habe, ob auf der Konferenz der erweiterten Exekutive ein neuer politischer Kurs beschlossen worden war. Wir waren uns im klaren darüber, daß weitere Einheitsfrontangebote an die Arbeiterorganisationen – die bisher ohnehin erfolglos geblieben waren – mit dieser Rede sinnlos wurden.
Wiskow begleitete mich im Laufe des Tages zu einigen Berliner „O-D“-Leitern und wir sagten die für den Abend und für die nächsten Tage angesetzten Kurse ab. Ich wollte mich nicht Fragen aussetzen, die ich nicht beantworten konnte. Einige der „O-D“-Leiter hatten zu der Rede nichts zu bekunden, als mit dem Finger an die Stirn zu tippen. So ruhte die organisatorische Arbeit wieder einmal. Ich wollte erst vom Parteivorsitzenden Brandler hören, ob es sich um eine Eskapade Radeks handele oder um eine neue Parteipolitik. Die Parteizeitung Rote Fahne hatte beim Empfang der Schlageterrede die Weisung erhalten, im gleichen Sinne fortzufahren. Die Pogromhetze der völkisch-nationalistischen Verbände gegen das „Judenkapital“ wurde in der Roten Fahne als ein „Stück Klassenkampf“ bezeichnet. Die KPD lud Nazigruppen, ihre Todfeinde, zu Diskussionen in kommunistische Versammlungen ein.
Die Inflation nahm indessen immer mehr die Form der Enteignung großer Teile des Volkes an. Am 1. Juli 1923 stand der Kurs 38.000 Papiermark für eine Goldmark. Protestdemonstrationen und Schlägereien vor Lebensmittelgeschäften wurden von der Polizei mit Waffengewalt unterdrückt. Alte Leute und Rentner, die noch Schmuckstücke, Möbel und Teppiche besaßen tauschten diese gegen Lebensmittel. Die Selbstmordziffern stiegen täglich an. Die Bauern und die Hausbesitzer bereicherten sich in dieser Zeit, sie zahlten ihre Schulden und Hypotheken mit wertloser Papiermark zurück. Die Großindustrie aber forderte die Abschaffung des gesetzlichen Achtstunden-Arbeitstages und Einführung des Zehnstundentages um den billigen Export gegen Devisen verstärken zu können. Trotz alledem kam es in diesen Monaten zu keinen größeren Arbeitskämpfen.
In diesen Tagen hatte ich eine Unterredung mit Radek in der russischen Botschaft in Berlin. Ich suchte ihn gegen Mittag auf. Er lag noch im Bett, er sagte, daß er völlig erschöpft sei er habe eine ermüdende Reise gehabt. Zu beiden Seiten des Bettes lagen Berge von Zeitungen in verschiedenen Sprachen, die Radek in der Nacht und am Vormittag gelesen hatte. Ich fragte ihn, was seine Schlageterrede beziehungsweise der neue Kurs zu bedeuten habe, und erzählte ihm welche lähmend-verwirrende Wirkung diese Rede bei Arbeiterfunktionären habe. Radek tat erstaunt. Er sagte, daß doch jeder Revolutionär erkennen müsse, daß es sich hier um eine Taktik handele, um die Rechtsparteien von der KPD abzulenken. Er sagte, mit den stärksten Ausdrücken des Hasses und der Verachtung, daß die Sozialdemokratie und die Gewerkschaften untätig zusahen, wie das Volk enteignet und Deutschland zu Grunde gehe, die Kommunisten würden abgeschlachtet werden, wenn sie isoliert blieben. Allein konnte die Kommunistische Partei nicht die Kraft aufbringen, den deutschen parasitären Kapitalismus niederzuwerfen. Also müßten die Völkischen, überhaupt alle Nationalisten, die heute durch den Ruhrkampf aufgewühlt seien, der KPD gegenüber neutralisiert werden. Darum sei auch die Diskussion mit diesen Leuten nötig. Nach ungefähr einer Stunde kam ein Angestellter der Botschaft und meldete Radek, daß der Staatssekretär des Äußeren, Freiherr von Malzahn, im Korridor warte. Radek hatte seine Verabredung mit ihm vergessen. Jetzt hatte er nicht mehr die Zeit, um sich anzuziehen. Ich wickelte ihm einen Schal um den Hals, und er entschuldigte sich beim Eintreten Malzahns mit Halsschmerzen.
Ich konnte die Unterredung mit Radek nicht fortsetzen. Er fuhr nach Moskau zurück. Dort sah ich ihn ein Jahr später wieder; nach der Niederlage der KPD, die auch eine persönliche Niederlage für ihn war und zu seinem Ausscheiden aus der deutschen Parteiarbeit führte.
Sicherlich war Radek einer der bemerkenswertesten Menschen dieser Zeit. Radeks Aufsätze über den deutschen Imperialismus der Kaiserzeit, die er vor dem Ersten Weltkrieg geschrieben hatte, sind noch heute die klarste und instruktivste Darstellung dieser Epoche. In Berlin trug Radek nicht seinen berühmten Puschkinbart wie in Moskau. Die Ähnlichkeit Radeks mit den Bildern Puschkins war auch auffallend und schmeichelte ihm anscheinend mehr als der Vergleich mit Machiavelli, den er oft zu hören bekam. Ich habe Radek eher mit Pater Joseph verglichen dem Sekretär des Kardinals Richelieu. Radek hatte wie Pater Joseph keine offizielle Funktion, er konnte Entscheidungen aushandeln aber nicht unterschrieben. Er verhandelte mit Staatsmännern, Parteiführern, Wirtschaftsleuten, Journalisten, die durch ihr Interesse an Rußland veranlaßt waren mit einem Russen zu sprechen, der über alle Fragen informiert war, der auch keinen Dolmetscher benötigte. Wohl alle, die mit Radek gesprochen haben, waren der Meinung, mit dem geistreichsten und bestunterrichteten Mann der Zeit gesprochen zu haben. Pater Joseph hatte das Glück, vor seinem Herren zu sterben. Radeks Meister, Lenin, starb jedoch bald und ließ ihn ohne gefestigte Position in der KPdSU zurück.
Berater Stalins zu sein, war für Radek keine besondere Ehre; er schätzte ihn nicht, Stalin ihn auch nicht.
Am gleichen Tage nach der Unterredung mit Radek erhielt ich vom Parteivorsitzenden Brandler den Bescheid, daß der Aufbau der „Proletarischen Hundertschaften“ mit verstärktem Eifer fortgesetzt werden müsse. Wo es möglich sei als Organe der Einheitsfront, wo nicht, als Parteiorgane unter Heranziehung kampfwilliger Parteiloser. Die Zentrale gab auch in diesem Sinne im Juli einen Aufruf an die Partei heraus, in dem zur höchsten Abwehrbereitschaft aufgerufen wurde. In diesen Aufruf hieß es:
»Das Kabinett Cuno ist bankrott. Die innere und äußere Krise droht in den nächsten Tagen zur akuten Katastrophe zu führen. Die süddeutschen Faschisten haben auf ihren Tagungen beschlossen: ... die Proklamierung des rheinisch-westfälischen Pufferstaates zum Anlaß zu nehmen ... – ihrerseits loszuschlagen – ... um sich ... ebenfalls vom Reiche loszulösen. Ludendorff und Hitler haben alles vorbereitet, um gegen Sachsen und Thüringen zu marschieren. Die norddeutschen faschistischen Organisationen ... haben alle Vorbereitungen getroffen zur militärischen Niederwerfung von Berlin und Hamburg ... Die Reichswehroffiziere bilden die Faschisten militärisch aus – ... Die Verbindung der Reichswehr mit den Faschisten ist die militärische Stütze der Konterrevolution, die bürgerlichen Parteien ohne Ausnahme unterstützen den Faschismus, um das Stinnesprogramm gegen das Proletariat durchzuführen. Die sozialdemokratischen Regierungsstellen, die Abgeordneten im Reich und in den Ländern haben Berge von Material über die Vorbereitungen der Faschisten und Reichswehrstellen zum Bürgerkrieg. Sie sind zu feige, das Material zu veröffentlichen und die Arbeiterschaft zur Abwehr aufzurufen.
– ... Die Partei muß sich aber darüber klar sein, daß die SPD und die Gewerkschaften im ersten revolutionären Abwehrkampf gegen den Faschismus völlig versagen werden, daß sie als Führer der Arbeiterschaft nicht in Frage kommen.«
Das Scheitern der Politik der „Einheitsfront der Arbeiterklasse“ stellte dem „O-D“ die Aufgabe, die „Proletarischen Hundertschaften“ jetzt als Parteitruppe aufzubauen und das Schwergewicht dabei in die Großbetriebe zu verlegen. Bisher hatten die „Proletarischen Hundertschaften“ nur in Thüringen und Sachsen, wo die Arbeiterschaft unter dem unmittelbaren Druck der Bedrohung aus Bayern stand, eine nennenswerte Stärke erreicht. In Berlin und im Ruhrgebiet dagegen hatten sich wohl zahlreiche Parteilose angeschlossen, aber nur wenige Mitglieder der SPD. Hier machte eine Änderung des Kurses keine Schwierigkeiten, da unter den Mitgliedern der KPD und auch unter Sympathisierenden sich die Auffassung verstärkte, daß die Partei im äußersten Falle allein kämpfen müsse, wenn die anderen Arbeiterorganisationen weiterhin passiv blieben.
Endlich gab mir der Parteivorsitzende auch die von Anfang an geforderte Vollmacht. eine Zeitschrift, eigens zur ideologischen Stärkung des „O-D“ und der „Proletarischen Hundertschaften“, herauszugeben. Dieser Zeitschritt gab ich den Namen Vom Bürgerkrieg. Sie sollte nur in die Hände von „O-D“-Funktionären kommen, keinesfalls in die Öffentlichkeit. Sie war auf Zeitungspapier gedruckt, ohne Umschlag, im Format der linksbürgerlichen Weltbühne. Die Redaktion besorgten Wiskow, Otto Steinbrück und ich. Im Vorwort zum ersten Heft schrieb ich, daß die Hefte, die in zwangloser Folge erscheinen sollten, die Erfahrungen der deutschen und der russischen Revolution behandeln werden, und forderte vor allem Mitglieder der Partei, die in Großbetrieben arbeiteten, auf, ihre Erlebnisse aus den Jahren 1918–1923 mitzuteilen. Es sollten in den Heften Vom Bürgerkrieg keine Rezepte, keine Kampfanweisungen, keine „Exerzierreglements“ gegeben werden, sondern Beispiele aus der Geschichte der revolutionären Kämpfe aller Zeiten. Die Funktionäre sollten anhand dieser Beispiele lernen, in ihrem Gebiet entsprechend dem Gebot der Stunde zu handeln.
Im ersten Heft Vom Bürgerkrieg wurde ein vom Parteivorsitzenden Brandler geschriebener und von der Zentrale der Partei unterzeichneter Aufruf gebracht, um zu bekräftigen, daß die gesamte Arbeit im Auftrage der Zentrale erfolgt. Das hatte ich zur Bedingung gemacht, um zu vermeiden, daß der Eindruck entstehen könnte, daß es sich um eine Sonderorganisation handelt. Es hieß in diesem Aufruf vom 11 Juli 1923:
»Wir Kommunisten können in dem Kampf gegen die Konterrevolution nur siegen, wenn es uns gelingt ohne und gegen die verräterische sozialdemokratische Partei- und Gewerkschaftsbürokratie die sozialdemokratischen und parteilosen Arbeitermassen mit uns gemeinsam in den Kampf zu führen – ... – Die gemeinsamen proletarischen Abwehrorganisationen müssen allen Widerständen zum Trotz unverzüglich aus den Betrieben heraus organisiert werden ... Die Pläne der Faschisten sind bis aufs einzelne militärisch durchgearbeitet. Sie haben die Losung ausgegeben, den Bürgerkrieg auf das brutalste und gewalttätigste durchzuführen. Alle Arbeiter, die den Faschisten Widerstand leisten – wenn sie gefangen werden – sollen erschossen werden. Zur Niederwerfung der Streiks soll jeder zehnte Mann der Streiken den erschossen werden. Der Faschistenaufstand kann nur niedergeworfen werden, wenn dem Weissen Terror der Rote Terror entgegengestellt wird. Erschlagen die Faschisten die bis an die Zähne bewaffnet sind, die proletarischen Kämpfer, so müssen diese erbarmungslos alle Faschisten vernichten. Stellen die Faschisten jeden zehnten Streikenden an die Wand so müssen die revolutionären Arbeiter jeden fünften Angehörigen der Faschisten Organisationen an die Wand stellen ... Die KPD muß das gesamte Proletariat unter ihrer Fahne in den Kampf führen ... Die Partei muß aber auch entschlossen sein, unter Umständen allein zum Kampf aufzurufen und allein die Leitung des Kampfes zu übernehmen ... Nur wenn wir den Willen zum Siege und zur Übernahme der Macht haben, wenn jeder Kommunist bereit ist, für die Rettung und Befreiung der Arbeiterklasse sein Letztes zu opfern, nur dann wird unsere Partei die Partei des Sieges sein. Nur dann wird sie die revolutionäre Arbeiter- und Bauernregierung aufrichten, die mittels der Sachwerterfassung und Produktionskontrolle auf Kosten des Großkapitals die Arbeiterklasse, Angestellten, Beamten, den schwerbedrängten Mittelstand vor Untergang und Versklavung retten und dem französischen Imperialismus eine kampffähige geschlossene Nation entgegenstellen ...
Im Geist von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg laßt uns kämpfen!«
Es ist im Aufruf nur vom Kampf gegen die Faschisten, Separatisten und den französischen Imperialismus die Rede, nicht vom Kampf gegen die deutsche Staatsmacht.
Nach dem Aufruf der Zentrale brachte das erste Heft den Brief Lenins vom September 1917, den Lenin mehrere Wochen vor dem Aufstand in Petersburg geschrieben hatte. Wiskow und ich hatten diesen Brief Lenins mit Vorbedacht ausgesucht, um auch die Zentrale an die Bedingungen eines Aufstandes zu erinnern. Lenin hatte geschrieben:
»Ein Aufstand muß, wenn er erfolgreich sein soll, sich nicht auf eine Verschwörung, nicht auf eine Partei, sondern auf die vorgeschrittene Klasse stützen. Das zum ersten.
Ein Aufstand muß sich auf den revolutionären Aufschwung des Volkes stützen. Das zum zweiten.
Ein Aufstand muß sich stützen auf einen solchen Wendepunkt in der Geschichte einer anwachsenden Revolution, wo die Aktivität der vordersten Reihen des Volkes am größten, wo die Schwankungen in den Reihen der Feinde und in den Reihen der schwächlichen, halben, unentschlossenen Freunde der Revolution am größten ist. Das zum dritten. Eben durch diese drei Bedingungen bei der Behandlung der Frage des Aufstandes unterscheidet sich der Marxismus vom Blanquismus.
Aber wenn einmal diese Bedingungen vorhanden sind, so heißt es den Marxismus verraten und die Revolution verraten, wenn man darauf verzichtet, den Aufstand als eine Kunst zu betrachten.«
Die grundsätzliche Seite aber hatte Lenin genau elf Jahre vor diesem Brief, im September 1906, festgestellt, als er geschrieben hatte:
»In bestimmten Perioden scharfer wirtschaftlicher und politischer Krisen steigert sich der Klassenkampf bis zum offenen Bürgerkrieg, d. h. bis zum bewaffneten Kampf zweier Volksteile. In solchen Perioden ist der Marxist verpflichtet, auf dem Standpunkt des Bürgerkrieges zu stehen. Jede moralische Verdammung desselben ist vom Standpunkt des Marxismus unzulässig.«
Zur Vorbereitung des Kampfes fuhr ich in diesen Wochen fast Tag für Tag in Deutschland herum und sprach zu den O-D-Gruppen. Auf diesen Reisen gewann ich die Überzeugung, daß objektiv alle politischen Vorbedingungen für einen Abwehrkampf gegeben waren: schwerste materielle und seelische Not breiter Volksmassen, Furcht vor einem neuen Krieg und vor dem Losschlagen der Wehrverbände, der „Schwarzen Reichswehr“, der Völkischen und Nazis. Ich besuchte auch mehrere Aufmärsche dieser Organisationen und konnte feststellen, daß diese mit ihren Vorbereitungen viel weiter waren als wir. Ihre Organisatoren brauchten sich nicht zu verstecken, sie hatten nicht nur die behördliche Duldung, sondern auch Unterstützung. Bei Aufmärschen der Militärverbände erschienen zahlreiche frühere und auch aktive Offiziere in Uniform mit Orden und in manchen Städten hatten Kirchen aus diesem Anlaß geflaggt. Dagegen war zum Beispiel bei den Demonstrationen der KPD im Lustgarten zu Berlin hinter den Säulen der Bibliothek und des Domes, die den Lustgarten flankierten, und auf dem Dach des gegenüberliegenden Schlosses Polizei unter Leitung des sozialdemokratischen Polizeipräsidenten postiert, die ihre Maschinengewehre schußbereit auf die Demonstranten gerichtet hatten. Das war der Unterschied.
Die soziale Zusammensetzung der Teilnehmer an den konterrevolutionären Aufmärschen ließ mich erkennen, daß es selbst in dieser objektiv verzweifelten Situation keine einheitliche abwehrbereite Arbeiterklasse gab; Arbeiter waren auch Mitglieder in den konterrevolutionären Verbänden.
Wenn ich in Berlin war, organisierte Josef Gutsche meistens zwei Zusammenkünfte des O-D an einem Abend in verschiedenen Bezirken. Dazu bedurfte es keiner längeren Vorbereitungen. Die Mitglieder kamen zu den Zusammenkünften auch dann, wenn sie die Einladung erst eine halbe Stunde vorher erhalten hatten. Gutsche und ich fuhren mit Fahrrädern von einer Versammlung zur anderen. Das wurde alles pünktlich und unauffällig gemacht. Das Thema meiner Vorträge vor den O-D-Gruppen entnahm ich den Thesen der innerparteilichen Opposition: Aufrollung der Machtfrage. Ich mußte meinen Zuhörern klar machen, daß dazu eine Macht gehört. Ich benutzte keine militärische Literatur, sondern die Aufsätze Lenins und Trotzkis über die Revolution von 1905 bis 1917, die auch in den Heften Vom Bürgerkrieg erschienen, den Bericht des Amerikaners John Reed, Zehn Tage, die die Welt erschütterten, meine eigenen Erfahrungen im Weltkrieg und aus den Jahren 1918 bis 1923, Episoden aus der französischen Revolution und der Pariser Kommune, und ich sprach über Massenpsychologie nach dem Buch des Franzosen Le Bon. Natürlich ging ich stets von der Situation aus, in der wir uns befanden, und ich betonte einleitend stets meine Überzeugung, daß es jeden Tag um Tod und Leben der Kommunistischen Partei und auch der Arbeiterklassen gehen könne, daß bei einem Losschlagen der Wehrverbände, „Schwarze Reichswehr“, Völkische, Nazis, unübersehbare Volksmassen der Partei zuströmen würden, die es dann zu leiten gelte. Im O-D wurde nach jedem Vortrag diskutiert und über Erfahrungen und Beobachtungen berichtet. Neben ungeduldigen Äußerungen, daß es höchste Zeit sei loszuschlagen, gab es skeptische Stimmen die der Meinung waren, die Partei müsse warten, bis der Staat sich selbst in innerer Fäulnis auflösen würde, um dann dem Staat den letzten Fußtritt zu geben. Ich erlebte immer wieder, daß es leicht ist, im Prinzip Gleichgesinnte zu organisieren, aber eine konspirative Organisation zweckbestimmt beschäftigen, die Energien wachhalten läßt sich nur, wenn ein Termin gesetzt wird. Den Termin aber konnte nur die Zentrale der KPD bestimmen.
Nach fast jeder Reise in die deutschen Großstädte hatte ich eine Aussprache mit dem Parteivorsitzenden Brandler. Ich berichtete ihm über den Stand der Organisationen in den einzelnen Bezirken sagte ihm meine Meinung über die eigene und die gegnerische Stärke, und über meine Beobachtungen und meine Einschätzung der Situation. Meine Berichte und die des N-D waren immerhin gehaltvoll genug, um der Zentrale zu ermöglichen, sich ein ungeschminktes Bild der jeweiligen Situation zu machen. Ein Teil der Berichte wurde auch verabschiedet und veröffentlicht. Die Parteizentrale gab neben dem Zentralorgan Rote Fahne in dieser Zeit noch eine Sonderzeitschrift Chronik des Faschismus heraus, in der Einzelheiten über die Aufrüstung der Wehrverbände, der Nazis und Völkischen veröffentlicht wurden. Brandler glaubte an die Revolution und an seine maßgebende Rolle in ihr. Sein Glaube machte ihn optimistisch. Er ließ sich von Presseberichten über Demonstrationen und Streiks zwar nicht über die Machtverhältnisse, aber doch über den Grad der Revolutionierung täuschen. Er gebrauchte gern den Vergleich mit der „Kerenski-Periode“ (Juli–September 1917 in Rußland, von Lenin beendet). Brandler unterschätzte den Widerstandswillen der Bourgeoisie und den Einfluß der rechtsradikalen Wehrverbände. Ich möchte ein Beispiel berichten:
Ich hatte von Landarbeitern, die auf Güter bei Pasewalk in der Uckermark, etwa 100 Kilometer nördlich von Berlin, arbeiteten, eine Meldung erhalten, daß die „Schwarze Reichswehr“ dort größere Mengen Waffengelagert habe. Mit einigen O-D-Männern fuhr ich hin und stellte fest, daß die Meldung auf Wahrheit beruhte. Wir sahen in einer Scheune unter Stroh verdeckt Maschinengewehre, Kisten voller Handgranaten und Handfeuerwaffen, um mehrere hundert Mann bewaffnen zu können. Ich sagte Brandler, daß wir keine Möglichkeit hätten, die Waffen abzutransportieren und sie sicher zu verstecken. So schlug ich vor, das Versteck dem preußischen Innenministerium mitzuteilen. Auf alle Fälle müßten die Waffen der „Schwarzen Reichswehr“ und den Wehrverbänden weggenommen werden. Brandler lehnte meinen Vorschlag entschieden ab. „Wir lassen die Waffen, wo sie sind; wenn wir sie brauchen, holen wir sie uns,“ sagte er. Als ich mich einige Wochen später wieder Überzeugen wollte, ob die Waffen noch dort lagerten, waren sie fort. Landarbeiter erzählten mir, daß Mitglieder der Wehrverbände die Waffen abgeholt und auf die umliegenden Güter aufgeteilt hätten.
Die innerparteilichen Auseinandersetzungen über die Politik und die Taktik der KPD wurden mittlerweile so heftig und gehässig, daß sie einmal mehr zur Kommunistischen Internationale getragen wurden. Der Parteivorsitzende Brandler und die wichtigsten Mitglieder der Zentrale fuhren im Hochsommer 1923 nach Moskau und blieben wiederum mehrere Wochen fort. Gerade diese Wochen waren für die erwartete Volkserhebung entscheidend.
Vor der Reise nach Moskau war es noch zu einem Zwischenfall in der Zentrale der Partei gekommen. Der „Berater“ der Exekutive der Kommunistischen Internationale, Kleine-Guralski, hatte, unterstützt von der Opposition, beantragt, daß ich der Zentrale einen detaillierten Bericht über die Vorbereitung eines eventuellen Aufstandes geben sollte. Brandler stimmte erst zu, dann aber sagte er mir kurz vor der Sitzung, daß ich nur eine allgemeine Übersicht ohne Konkrete Einzelheiten geben sollte. So tat ich es. Kleine-Guralski protestierte: „Ich will wissen, wie viele Hundertschaften und Waffen vorhanden sind!“ schrie er, mit der Faust auf den Tisch schlagend. Obwohl ich der gleichen Meinung war wie Brandler, gab mir seine Weisung doch einen Schock, sie beruhte offensichtlich auf dem Mißtrauen gegen Oppositionelle, die schließlich gleichberechtigte Mitglieder der Zentrale waren. Ich mußte mich Fragen, wenn schon Mitglieder der Zentrale nicht hundertprozentig sicher sind, wer ist es dann? Schließlich lag ja die politische Führung der Revolution bei der Parteizentrale.
Die „Apparate“ der Partei entwickelten indessen eine Aktivität, die zu jeder Zeit auf die Abwehr eines Putsches der reaktionären Parteien und ihrer Wehrverbände eingestellt war. Die „Proletarischen Hundertschaften“ im Ruhrgebiet waren mittlerweile stärker geworden, als die in Sachsen und Thüringen, es folgten Berlin und Hamburg. Neben dem O-D und dem N-D war auch die M-D jetzt eifriger tätig. Naturgemäß nur an Orten, an denen Garnisonen des Hunderttausendmann-Heeres bestanden und wir Parteiortsgruppen hatten. Anti-Militärpropaganda war besonders schwierig. Wir konnten diesen Söldnern nicht ihre Existenz als Söldnergruppe versprechen, wir konnten ihnen aber auch nicht mit Auflösung drohen, falls wir an die Macht kommen sollten. Wir mußten versuchen, ihnen die Lage der arbeitenden Bevölkerung und die nationale Situation Deutschlands klar zu machen.
Gerüchte, daß die Reichswehr selber putschen wolle, erreichten uns fast täglich. Sie kamen meistens aus Küstrin an der Oder, wo die „Schwarze Reichswehr“ mit Wissen des Reichswehroberkommandos ihr Hauptquartier hatte. Ich fuhr nochmals nach Küstrin, wo eine kleine, recht aktive Ortsgruppe der KPD bestand. Es kamen auch Mitglieder nach Berlin, um uns über die Vorgänge in Küstrin und Umgebung zu berichten. Diese Genossen schafften unsere Flugblätter und die Tageszeitung Rote Fahne in die Kasernen. Die „Schwarze Reichswehr“ selbst war mehr auf die Forts in der Umgebung verteilt. Für diese Leute galt nur die Losung „Nationaler Befreiungskampf“. Sie waren bereit, sich derjenigen Partei anzuschließen, die den Kampf aufnahm. Jedoch waren die Berufssoldaten der Reichswehr in dieser Zeit fest in der Hand ihrer Offiziere und der oberste Chef, Generaloberst von Seeckt, konnte auch weiterhin seine Verachtung für die Regierung zeigen, wie er es schon einmal getan hatte, als er gefragt worden war, hinter wem die Reichswehr stehe. „Hinter mir“, hatte Seeckt geantwortet.
Die Enteignung der Volksmassen durch die Entwertung des Geldes ging hemmungslos weiter. So gründlich, wie die konservativ-bürgerliche Regierung das deutsche Volk enteignete, haben die Bolschewiki die besitzende Klasse in Russland nicht enteignet. Die Arbeiter konnten ihre Lage auch nicht verbessern; die täglichen Streiks blieben ergebnislos, was an einem Tag erreicht wurde, war am nächsten Tag überholt. Die Sozialdemokraten und die Gewerkschaften lehnten es auch jetzt noch ab, mit den Kommunisten gemeinsam vorzugehen. Massenstreiks breiteten sich über den lokalen Rahmen hinaus aus und erreichten Mitte August im Anti-Cuno-Streik, der sich von Berlin nach Ostpreußen und westlich bis zum Rhein ausbreitete, den Höhepunkt. Doch wie bei der Abwehr des Kapp-Putsches schlossen sich die Arbeiter Bayerns und Südwestdeutschlands nicht an, sie verhielten sich wiederum passiv.
Eine dramatische Zuspitzung ergab sich durch die Arbeitsverweigerung der Drucker der Reichsdruckerei in Berlin, die es ablehnten, weiterhin Hunderttausendmarkscheine zu drucken. Die Regierung stand nun ohne Geld da, sie konnte die täglichen Zahlungen nicht leisten. Am gleichen Tag brachte die kommunistische Fraktion im Reichstag einen Mißtrauensantrag gegen die Regierung Cuno ein, der zu aller Überraschung vom Reichstag angenommen wurde. Die Regierung trat zurück. Doch jetzt wurde nicht die erwartete Arbeiterregierung aus Sozialdemokraten und Gewerkschaftlern gebildet, die die Unterstützung der KPD gehabt hätte, sondern eine bürgerlich-sozialdemokratische Koalitionsregierung unter Führung eines bisherigen alldeutschen Industriemanagers, Gustav Stresemann. Ein Sozialdemokrat wurde Finanzminister, ein weiterer Kolonialminister. Die Sozialdemokraten nahmen die Verhöhnung hin, den Minister ohne Finanzen und den ohne Kolonien zu stellen. Doch von nun an stieß der Kampf der Kommunisten gegen die Regierung auf den Widerstand sozialdemokratischer Arbeiter.
Die Börse begrüßte die neue Regierung mit dem tiefsten Sturz der Währung, Ende Juli war der Kurs 100.000 Papiermark für eine Goldmark. 14 Tage später, bei der Vorstellung der neuen Regierung im Reichstag, wurden 650.000 Mark für eine Goldmark notiert.
Der KPD-Vorsitzende Brandler, die wichtigsten Mitglieder seiner Zentrale und die Führung der Opposition saßen währenddessen untätig wartend in Moskau; die maßgebenden russischen Verhandlungspartner waren von Moskau abwesend. Offensichtlich schätzte die Exekutive der Kommunistischen Internationale die Lage in Deutschland als nicht so brennend ein.
Zuletzt aktualiziert am 11. Januar 2023