Karl Retzlaw

SPARTACUS
Aufstieg und Niedergang

* * *

9. Bayrische Räterepublik


Ich erfuhr von der Ermordung Jogiches’ am Dienstag, den 11. März, und eilte zur Wohnung Budichs. Budich sagte, es sei ratsam, Berlin für einige Tage zu verlassen. L. P., die Gefährtin Budichs, habe vorgeschlagen, nach München zu fahren. Ich solle ihn begleiten. L. P. hoffte auf die Unterstützung ihres Bruders, der in München studierte. Außerdem hätte sie dort eine frühere Studienfreundin, zu der wir zuerst gehen könnten. Sobald das Fahrgeld beisammen sei, müsse abgereist werden. Daß Budich einen Auftrag oder den Rat der Zentrale der KPD erhalten hatte, glaube ich nicht, er war kein Mitglied der Zentrale und damals kein Parteiangestellter. Budich meinte, daß das Wüten der Noskebanden in einigen Wochen abflauen werde und daß wir in sechs bis acht Wochen wieder nach Berlin zurückkehren könnten. Diese Voraussage sollte sich erfüllen, doch unter nichtgeahnten Umständen.

Gegen Mittag des folgenden Tages ging ich zu meiner Mutter, um mich zu verabschieden. Meine Mutter wünschte, ich sollte kurze Zeit bleiben, um zu essen, und sie wolle inzwischen Wäsche für mich herrichten.

Die Wohnung hatte zur Straße hinaus eine Loggia. Ich legte mich in einen Liegestuhl. Des Luftzuges wegen schloß meine Mutter hinter mir die Tür und die Vorhänge. Ich war müde und abgehetzt und schlief ein. Nach ungefähr einer Stunde weckte mich meine Mutter und zeigte zur Straße hinunter. Ich sah einige Häuser weiter fünf Noske-Freikorpsler, die Gewehre schußbereit im Arm, abrücken. Mit ihrer gewohnten Ruhe erzählte mir meine Mutter, daß diese Gruppe mich wegholen wollte. Ein Mann habe die Wohnung durchsucht, während zwei Mann an der Tür gestanden hätten. Die weiteren zwei Mann hatten wohl am Haustor Wache gehalten. Meine Rettung war, daß ich geschlafen hatte und die Vorhänge geschlossen waren. Ich will nicht behaupten, daß die Burschen den Auftrag hatten, mich unter dem Vorwand des Fluchtversuches zu erschießen, doch hatten die Noske-Freikorpsleute den stillen Befehl, alle aus dem Weltkrieg bekannten Kriegsgegner zu ermorden. Wenn ein Haftbefehl gegen mich vorgelegen hätte, so wäre nicht der Nosketrupp, sondern Polizei gekommen.

Von meinem Versteck in Schöneberg ging ich täglich den weiten Weg zu meinen Freunden nach Moabit und abends mit Zeitungen und eigenen Berichten zu Budich, der seinen Unterschlupf immer noch nicht verlassen konnte. Die Wohnung befand sich in der vierten Etage. Budich war noch nicht kräftig genug, um die vier Treppen steigen zu können. Er ging noch mühsam gestützt am Stock. Es war Freitag geworden, als er mir sagte, daß wir sofort abreisen müßten. Auch die Wohnungsinhaber drängten darauf. Sie waren mittlerweile ängstlich geworden, weil auch in den „bürgerlichen“ Wohngegenden, so in Schöneberg, Wohnblocks von den Nosketruppen abgeriegelt und durchsucht wurden.

Budich gab mir eine Fahrkarte, ich holte meinen Karton mit Wäsche und wir trafen uns im Zug. Wir fuhren die Nacht hindurch und kamen am späten Vormittag des 15. März in München an. Der Empfang in der Wohnung der Mutter von L. P.’s Studienfreundin war unvergessbar freundlich. Die Mutter, eine schmächtige aschblonde Frau erschien mir als die personifizierte menschliche Schönheit und Güte. Neben der Tochter, die Ärztin war, gehörten zwei Söhne, die an der München Universität studierten, zur Familie, die in einer ruhigen Straße eine Etage in einem zweistöckigen, wuchtig und geräumig gebauten Haus bewohnte. Das große Wohnzimmer war mit schweren Möbeln, Teppichen, Gemälden und anderen Kunstgegenständen ausgestattet. Eine Wand wurde von einer Bibliothek eingenommen. Während Budich und L. P. mit der Familie Rapu über die Vorgänge in Berlin und über unsere Unterbringung in München sprachen, verbrachte ich einige Stunden mit den Büchern. Hier standen die Schriften der mir wohlbekannten großen Russen: Puschkin, Turgenjew und Tschechow, Dostojewski, Tolstoi und Gorki in russischer Sprache. Und neben Voltaire und Victor Hugo, Zola, Romain Rolland und Anatol France in Französisch, Benedetto Croce und Gabriele d’annunzio in Italienisch, standen Goethe, Heine, Hauptmann, Heinrich und Thomas Mann. Nur die Literatur der skandinavischen und englisch-sprachigen Länder war in Übersetzungen vorhanden. Hier lagen auch die Zeitschriften der Zeit: Das Forum, Der Ziegelbrenner, Aktion und andere.

Wir wurden eingeladen, über Sonntag zu bleiben. Zur Wohnung gehörten zwei Gästezimmer in der Mansarde. Am Sonntagmorgen fuhren wir alle mit der Bahn zum Ammersee, dann mit einem Motorboot zum südlichen Ufer des Sees, wo Bekannte der Familie Rapu ein Grundstück besaßen. Es wurde ein schöner Frühlingssonntag. Die Luft war recht frisch und der See bewegt, doch immer wieder kam die Sonne aus den Wolken hervor. Vom See aus sah ich zum ersten Male die Alpen, die im Süden klar und gewaltig hervortraten.

In Frau Rapu lernte ich eine der ungewöhnlichsten Persönlichkeiten kennen, die mir im Leben begegnet sind. Sie war eine Titanin der Güte und Hilfsbereitschaft. Mit der Zeit erfuhr ich Daten aus ihrem Leben. Sie war in Petersburg geboren, verbrachte aber mehrere Jahre ihrer Kindheit auch in Ostpreußen und Litauen auf Gütern, die ihrer Familie gehörten. Sie beherrschte die Sprachen der Dichter und Schriftsteller, deren Werke in ihrer Bibliothek standen, sie sprach Russisch, Deutsch, Französisch, Italienisch. Als junges Mädchen hatte sie die Lehrerin Vera Figner gekannt, die wegen ihrer Idee, „ins Volk zu gehen“, um Wissen und Kultur ins Dorf zu bringen, zwanzig Jahre in dem berüchtigten Kerker der Schlüsselburg gefangen gehalten wurde und deren Buch Nacht über Russland die aufwühlende Kraft der Erinnerungen Alexander Herzens hat. Zu Rapus frühestem Petersburger Bekanntenkreis hatte auch Sophie Perowska gehört, die revolutionäre Tochter des Gouverneurs, die im März 1881 am Attentat auf den Zaren Alexander II. beteiligt gewesen und gehängt worden war. Frau Rapu war durch Heirat deutsche Staatsbürgerin. Über die Jahrzehnte hinweg blieb Frau Rapu hilfsbereit, gütig und immer am kulturellen und politischen Leben in der Welt interessiert Sie reiste viel und sah viel. Obwohl sie keine direkten Beziehungen zur deutschen Arbeiterbewegung hatte, sagte sie immer wieder, daß eine Änderung der deutschen militaristischen Mentalität nur von der Arbeiterschaft her kommen könne, nicht vom Bürgertum. Hier hatte sie die gleiche Ansicht, wie sie früher in der russischen Sozialdemokratie, später auch bei den Bolschewiki, weit verbreitet war. Die Familie Rapu verließ mehrere Monate nach der Niederschlagung der Münchener Räterepublik diese Stadt. Sie lebte kurze Zeit in Berlin, verließ dann Deutschland, um sich im Süden anzusiedeln.

Am Montag nach der Fahrt zum Ammersee ging ich frühzeitig aus dem Haus, um mir ein Zimmer zu suchen. In knapp einer Stunde hatte ich eine Schlafstelle bei einem Flickschuster gefunden. Dieser hatte einen Zettel an sein Fenster geklebt: „Schlafstelle zu vermieten!“ Der Raum lag in einem Halbkeller, nur einige Stufen tief, er war gerade so groß, daß die eiserne Bettstelle und ein Gestell mit einer Waschschüssel Platz hatten. Für die Kleider waren Haken in die Tür geschraubt. Den Pappkarton, den ich vom Bahnhof holte, konnte ich unter das Bett schieben. Im Keller war auch der Ofen der Zentralheizung des Hauses, es war angenehm warm. Da ich noch nicht wußte, wie ich eine Arbeit finden würde und welche Art Arbeit, gab ich mich dem Schuster gegenüber als Student aus. Das hatte zur Folge daß ich 14 Tage im voraus Miete zahlen mußte. „Studenten hatte ich schon öfter“, sagte der Schuster, „die verschwinden immer, wenn sie was Besseres finden, und oft vergessen sie zu zahlen.“ Dies war meine Behausung für die nächsten sechs Wochen, bis ich wieder aus München flüchtete.

Ich mußte mich jetzt beeilen, Arbeit und Anschluß an die KPD zu suchen. Ich ging am gleichen Tage mit einigen Zeilen von Budich zur Münchner Roten Fahne, dem Organ der dortigen Partei, um die Adresse von Max Levien, dem Vorsitzenden der Kommunistischen Partei Bayerns, zu erfahren. In der Redaktion traf ich Eugen Leviné an. Leviné war erfreut, mich wiederzusehen, und sagte, daß er mit diesem Tage die Chefredaktion der Zeitung übernommen habe. Er sei erst knapp zwei Wochen in München. Zuvor war er von der Zentrale der KPD nach Rußland zum Gründungskongreß der Kommunistischen Internationale delegiert worden. Doch konnte er sich nicht durch die Fronten im Osten schlagen, und auch sein Versuch, über Schweden und Finnland zu reisen, war erfolglos geblieben. So ging er nach München.

Max Levien lernten wir noch am gleichen Abend auf einer öffentlichen Versammlung kennen, für die er als Redner angekündigt war. Budich, seine Gefährtin und ich waren rechtzeitig hingegangen, um einen Platz zu er halten. Wir erlebten ein ungewohntes politisches Schauspiel.

Die Versammlung fand in einem der großen Biersäle Münchens statt. Dicht gedrängt, auf Tischen und Stühlen sitzend und in den Gängen stehend, mögen wohl an die dreitausend Menschen im Saal gewesen sein. Obwohl noch eine Stunde Zeit war bis zum angekündigten Beginn, herrschte bereits ein beängstigendes Gedränge. Das Rednerpult stand auf dem Podium, von dem herab gewöhnlich Blechmusik in den Saal schmetterte. Das Podium wurde von Ordnern freigehalten.

Max Levien erschien mit einem zahlreichen Gefolge. Wie ich erfahren sollte, stellte dieses Gefolge fast die gesamte Kommunistische Partei von München dar.

Max Levien war eine interessante Erscheinung. Etwa 35 Jahre alt, mittelgroß, volles dunkles Haar – „Künstlermähne“ – Doktor der Naturwissenschaften und eine großartiger, schlagfertiger Redner. Nach der Begrüßung der Versammelten begann er: „Daß die Weltrevolution marschiert, wißt ihr ja alle ...“ Mit diesem Hinweis auf die ungarische Revolution und die letzten Siege der Roten Armee Rußlands erntete er schon rauschenden Beifall. Levien sprach ohne Manuskript, temperamentvoll, er beantwortete schlagfertig jede Frage und ging auf jeden Zwischenruf ein. Er hatte mehrere in- und ausländische Zeitungen vor sich liegen, aus denen er zwischendurch einige Sätze vorlas und sie kommentierte. Er kritisierte ironisch den Landtag, der dieser Tage zusammengetreten war und die neue Regierung des Sozialdemokraten Hoffmann gewählt hatte. Levien beschwor die Arbeiter- und Soldatenräte, sich nicht auflösen zu lassen, er beschwor sie und die Versammelten, wachsam zu sein gegen die Konterrevolution, er sprach von der Verknappung der Lebensmittel, von der steigenden Arbeitslosigkeit. Er wiederholte mehrfach, daß auch in Bayern die Niederschlagung der Arbeiterschaft geplant sei, wie es besonders in Berlin geschehen sei, er sprach über das Verbrechen des Weltkrieges und von der Ermordung Rosa Luxemburgs, Karl Liebknechts, Eisners. Levien liebte Vergleiche aus der Geschichte und durchsetzte seine Rede mit Anekdoten. Er erzählte Episoden aus Kriegen und revolutionären Kämpfen, er rief aus: „Ich halte es mit Napoleon, der sagte, wenn man Eierkuchen backen will, muß man Eier zerschlagen ...“ Levien hatte einen nahezu unerschöpflichen Vorrat an volkstümlichen Sprüchen, und er wurde des öfteren minutenlang durch Beifall und Zurufe unterbrochen, die ihn manchmal verleiteten bestimmte Redewendungen zu wiederholen. Die Rede dauerte über zwei Stunden; ich bemerkte keine Zeichen der Ermüdung weder bei ihm noch bei der Versammlung. Ich erlebte noch zwei oder drei Volksversammlungen mit Max Levien als Redner. Sie waren Wiederholungen der ersten. Ebenso turbulent ebenso interessant und, wie Levien es bald erleben sollte, voller Selbsttäuschung.

Die Unruhe und die politische Aktivität in München war unleugbar durch die Ermordung Kurt Eisners ausgelöst worden. Eisner war vom 8. November 1918 bis zum Tage seiner Ermordung am 21. Februar 1919 Ministerpräsident und Außenminister von Bayern gewesen. Er hatte der neugebildeten USPD angehört. Vorher war er jahrzehntelang Mitglied der SPD gewesen. Von Februar 1918 bis Mitte Oktober hatte er als Führer im Munitionsarbeiterstreik vom Januar 1918 in München im Gefängnis gesessen. Kurt Eisner war geborener Berliner. Er war mehrere Jahre, bis 1905, Chefredakteur des Vorwärts gewesen. Seit 1910 lebte er in München und arbeitete als Redakteur an der sozialdemokratischen Zeitung Münchener Post. Er war auch Mitarbeiter an der pazifistischen Zeitschrift Wilhelm Herzogs. Eisner, der von seinen Gegnern, auch in der eigenen Partei, meistens als „weltfremder Literat“ bezeichnet wurde, war ein klarsehender Politiker und Historiker. Er hatte vor dem Kriege wiederholt vor der Provozierung des Krieges durch die Militärkaste gewarnt.

Nach den Wahlen zum Bayrischen Landtag vom 12. Januar 1919, die Eisner und seiner Partei eine schwere Niederlage gebracht hatten, wollte er seine Ämter niederlegen. Auf dem Wege zum Landtag, Eisner ging zu Fuß, wurde er von dem Grafen Arco hinterrücks durch Schüsse in den Kopf ermordet. Der Mörder wurde durch Begleiter Eisners verletzt und kam in ein Krankenhaus, das der bekannte Chirurg Sauerbruch leitete. Der Landtagsabgeordnete Auer, Mitglied des sozialdemokratischen Parteivorstandes in Bayern, schickte dem Mörder einen Blumenstrauß ins Krankenhaus. Aus diesem Verhalten wurde geschlossen, und der Verdacht ist niemals beseitigt worden, daß gewisse Kreise der Münchner SPD den Mord zumindest gebilligt haben. Der gleiche Abgeordnete Auer hielt bei der Trauerfeier im Landtag die Gedenkrede auf Eisner.

Der König von Bayern war im November 1918 ebenso plötzlich davongelaufen wie die Hohenzollern. Seine Hofschranzen hatten ihm geraten abzudanken. Obwohl die Wittelsbacher seit über 700 Jahren in Bayern geherrscht hatten, verschwanden sie unbemerkt, ohne daß ein revolutionärer Akt nötig gewesen wäre. Der bayrische Adel, die Offiziere und das monarchistische Bürgertum ließen ihr Herrscherhaus genauso fallen wie die Preußen ihre Hohenzollern. Es genügte die Ernennung der neuen Regierung des unabhängigen Sozialdemokraten Eisner mit dem Mehrheits-Sozialdemokraten Hoffmann als Stellvertreter. Bald stellte sich heraus, daß Hoffman stellvertretend für die Konterrevolution in dieser Regierung arbeitete. Er hatte sofort Verbindung mit Noske aufgenommen.

Der Begriff „Revolution“ wird sinnlos, wenn das Abtreten der Wittelsbacher und die Proklamation Bayerns zur Republik eine „Revolution“ genannt wird. Die Proklamation, die von Wilhelm Herzog entworfen war, enthielt den verhängnisvollen Passus, daß alle Beamten und Soldaten in ihren Stellungen zu bleiben hätten. Sie wurden auf die neue Regierung vereidigt. Der Eid auf die republikanische Regierung machte keinen Beamten zum Republikaner oder gar zum Demokraten.

Die bestimmende Ursache des Hasses gegen Eisner war nicht seine Ministerpräsidentschaft, sondern sein Buch, eine Dokumentensammlung über die Schuld der deutschen Regierung am Weltkrieg. Wegen der in diesem Buch vertretenen Ansichten dehnte sich die Rache der bayrischen Konterrevolution auch auf den Sekretär Eisners, Felix Fechenbach, aus. Ein bayrisches Gericht verurteilte ihn wegen angeblichen Landesverrats zu elf Jahren Zuchthaus. Nach Hitlers Machtübernahme wurde Fechenbach von den Nazis ermordet.

Nach dem Mord an Eisner übernahm der Zentralrat der Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräte die Regierung. In diesem Zentralrat waren die Mehrheits-Sozialdemokraten, die Unabhängigen, der Bayrische Bauernbund und die Kommunistische Partei mit Max Levien vertreten. Es fehlte nur der monarchistische Bayrische Volkspartei. Die am 12. Januar 1919 gewählten Landtagsabgeordneten waren nach dem Mord an Eisner in panischer Angst davongelaufen. Der Zentralrat der Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräte hatte es jedoch versäumt, die Mandate der weggelaufenen Abgeordneten für ungültig zu erklären. So kamen diese wieder zum Vorschein, nachdem durch die Agitation ihrer Parteigenossen im Zentralrat eine Mehrheit für das Zusammentreten des Parlaments gewonnen worden war. Max Levien trat aus dem Zentralrat aus.

Am 17. und 18. März 1919, als Budich und ich erst zwei Tage in München waren, war das Parlament zusammengetreten und hatte die Regierung Hoffmann gewählt. Hoffmann übernahm auch das Außenministerium und das für Unterricht und Kultur. In dieser Regierung saßen weiterhin drei Mehrheits-Sozialdemokraten, darunter Schneppenhorst, Minister für militärische Angelegenheiten, drei unabhängige Sozialdemokraten, ein Mitglied des rechtsstehenden Bauernbundes, ein bürgerlich-parteiloser Verkehrsminister. Die Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräte lösten sich jedoch nicht auf. So entstand eine Art Doppelherrschaft.

Die Massen der Arbeitslosen, in München waren es um diese Zeit mehr als dreißigtausend, waren durchaus kein „kommunistisches Heer“. Die Arbeitslosen füllten zwar die kommunistischen Versammlungen, aber auch die der anderen Parteien. Sie wählten und unterstützten in erster Linie die Mehrheits-Sozialdemokraten und die Unabhängigen. Zu den Arbeitslosen müssen, entsprechend ihrer Einstellung, auch die Soldaten der Garnison Münchens hinzugerechnet werden. Sie stammten zumeist vom Lande. Zurück ins Dorf wollten die wenigsten. Sie lungerten in den Kasernen herum, schimpften auf alles und jedes und erhofften von den Sozialdemokraten am ehesten Vorteile. Sie wählten in der Mehrheit Sozialdemokraten in die Kasernenräte – daneben sogar einige ihrer früheren Offiziere. Trotzdem mißtraute ihnen ihr sozialdemokratischer Minister für militärische Angelegenheiten, Schneppenhorst. Die Soldaten, die Arbeitslosen, die Bürger wählten in dieser Zeit nicht nach Überzeugung oder Sympathien, sondern wählten diejenigen, von denen sie sich angesichts der verfahrenen Situation den größten Nutzen versprachen.

Die Ereignisse, an denen ich direkten Anteil hatte oder deren Zeuge ich war, entwickelten sich von nun an in rastloser Folge. Schon am übernächsten Tag, am 21. März, nach dem Besuch bei Leviné und der Versammlung mit Levien, erhielten Budich und ich Einladungen, zu einer Besprechung in ein Lokal nahe dem Sendlinger Tor zu kommen. Es waren anwesend Levien, Leviné, Ferdinand Mairgünther, Redakteur an den Münchner Roten Fahne, der Matrose Rudolf Egelhofer, ein Bankangestellter Seidel, ein Hochschullehrer Dr. Schumann, Strobt und ein weiterer Münchner, dessen Name mir entfallen ist, ein Russe, Tobias Axelrod und ein weiterer Russe, den Leviné mitbrachte und der Albrecht genannt wurde, Budich und ich. Axelrod und Albrecht sprachen niemals in diesem Gremium, Axelrod war wenig interessiert, Albrecht konnte nur wenige Worte Deutsch. Max Levien, als Vorsitzender der Partei in München, leitete die Konferenz. Das Referat hielt Leviné. Es begann mit einem Bericht über die Revolution in Ungarn, die am Vortage, dem 20. März, unter Führung Bela Kuns ausgerufen worden war. Leviné kommentierte die aus Ungarn und Wien stammenden Meldungen sehr zurückhaltend. Die Nachrichten seien verworren und unvollständig. Die Kommunistische Partei begrüße die ungarische Revolution und die neue Regierung als einen Fortschritt auf dem Wege zur Weltrevolution. Zur Situation in München übergehend bemängelte Leviné, daß die KPD hinter den Ereignissen herlaufe, daß die großen Volksversammlungen mit Max Levien als Redner sehr begeisternd seien, sie jedoch für die Partei keine organisatorischen Ergebnisse hätten. Leviné sagte: „Die Massen berauschen sich an Worten und laufen dann auseinander ...“ Die KPD sei zahlenmäßig schwach, außerdem seien nur wenige Mitglieder politisch geschult. Bei der Neugründung der Partei seien nur wenige alte Funktionäre zu uns übergetreten. „Wir haben den Vorteil, eine junge unbelastete Partei zu sein, aber wir brauchen auch eine politische Disziplin.“ Die Rote Fahne werde wohl gekauft, aber wenig abonniert. Er werde als neuer Chefredakteur sich bemühen, die politische Situation klar zu schildern und die Politik der Partei in verständlicher Sprache darzulegen. Leviné schlug dann vor, daß die anwesenden zehn Funktionäre sich als Aktionsausschuß konstituieren sollten. Die Parteiorganisationen müßten ausgebaut und das Schwergewicht der Partei müsse in die Betriebe verlegt werden. Das knapp halbstündige Referat wirkte recht nüchtern. Budich ergänzte das Referat Levinés durch Vorschläge über die Formen des Ausbaues der Partei in den Betrieben und Wohnbezirken.

„Zellen“ oder „geheime Gruppen“, wie sie in manchen Schriften über die Ereignisse in Bayern vom März/April 1919 geschildert werden, gab es damals nicht. Der Begriff „Zelle“ als Parteieinheit war noch unbekannt. Die Umstellung der KPD auf die „Zellen“-Basis erfolgte praktisch erst in den Jahren 1927–29. Auf den Vorschlag Levinés wurde Budich zum organisatorischen Leiter des Aktionsausschusses gewählt. Levien gab zu bedenken, daß die partikularistischen Bestrebungen in Bayern unter den Arbeitern ebenso stark seien wie unter den Bürgern. Mit Rücksicht darauf sollten Nichtbayern bei öffentlichen Veranstaltungen zurückhaltend sein. Wo Unterschriften zu leisten seien, müßten Bayern unterzeichnen. So wurde beschlossen, daß möglichst alle Funktionen von zwei Mitgliedern des Aktionsausschusses zu besetzen seien. Alle Anwesenden stimmten den Vorschlägen zu. Zu meinem Partner wurde Mairgünther bestimmt.

Die Ereignisse trieben uns stürmischer vorwärts, als uns recht war. Täglich begleitete ich Budich, der am Stock von Versammlung zu Versammlung humpelte. Wir waren auf unsere Füße und auf die Straßenbahn angewiesen, ein Auto besaß niemand, für eine Taxe hatten wir kein Geld. Es war echt ermüdend und zeitraubend.

Wir besuchten nicht nur die eigenen Parteiversammlungen. Budich war auch in gegnerischen Versammlungen ein lebhafter und interessanter Diskussionsredner. Wir verschafften uns überall Zutritt. Ich blieb beobachtend im Hintergrund. Budich hatte die Gabe, mit dem gleichen Schwung vor fünf Personen oder vor hundert zu referieren.

Ich war der Verbindungsmann zu den anderen Mitgliedern des Aktionsausschusses und besorgte die Einladungen zu den Sitzungen. Auf Post und Telefon war kein Verlaß. Diese Botentätigkeit verunstaltete später meinen Steckbrief. Es hieß darin: „hat einen verkürzten Fuß“. Das stimmte nicht. Ich hatte mir die Füße nur wundgelaufen.

Persönlich lebte ich sehr bescheiden. Das Geld, das ich aus Berlin mitgebracht hatte, war bald verbraucht, ein Gehalt bezog ich nicht. Mittagessen hatte ich nur, wenn Budich mich dazu einlud. Ich wiederum wollte nicht über so alltägliche Dinge wie ein Mittagessen sprechen. Auf meinem Zimmer aß ich Brot, gelegentlich besorgte mir die Frau des Schusters auch Milch.

Bei aller Rastlosigkeit achteten wir doch sehr auf alle Vorgänge und Stimmungen in der Bevölkerung und besonders unter den Truppen der Garnison. Ich begleitete Budich in die Kasernen, um Soldaten zu Aussprachen einzuladen. Wenn wir nicht hineingelassen wurden, was auch vorkam, klebten wir die Einladungen an die Tore. Es gab Einheiten, die noch oder wieder fest unter dem Kommando der Offiziere standen. Das hing zum größten Teil von dem Sold ab und ob die Offiziere ihn zu beschaffen wußten. In jeder Versammlung konnte ich Soldaten beobachten, die uns teils freundlich, teils feindlich gesinnt anschauten.

Budich verkörperte äußerlich den Typ des preußischen Offiziers. Groß, schlank, dunkelblond, blaue Augen, scharfgeschnittenes Gesicht, scharfe klare Sprache, die nur zu oft ins „Berlinern“ verfiel. In Soldatenversammlungen redete er die Soldaten stets direkt an: „Ihr werdet hingehalten ... für die Kranken und Krüppel wird wenig getan ... Wir wollen keine Leierkasten-Abfindung ...“ Daß Budich schwer am Stock ging, wurde als folge einer Kriegsverletzung ausgelegt. Budichs Reden klangen stets mit einem Appell zur Organisation aus. Er war ein Organisator, dem zu wenig Zeit gegeben wurde.

Wir erfuhren bald, daß rechtsstehende Organisationen im Entstehen waren, die von Offizieren geleitet und bewaffnet wurden. Die Waffen wurden aus den Kasernen gestohlen. Über diese Verschwörungen war der sozialdemokratische Militärminister Schneppenhorst informiert. Er duldete sie, er verlangte nur, daß man nicht zu offen auftrat. Schneppenhorst hatte sogar einen von Noske nach München beorderten Freikorpswerber, der zu offen für die Konterrevolution sprach, festnehmen und abschieben lassen. Die wirkliche Stärke der Geheimorganisation kannten wir nicht. Vorerst waren sie nur in der Verbreitung von Gerüchten aktiv; sie hielten die Bevölkerung in ständiger Unruhe, sie sprachen über eine bevorstehende Hungersnot, über angeblich geplante Aktionen der Entente. Ihre Spitzel hatten sie überall. Sie erhielten Geld von der Regierung in Berlin, von Banken und Besitzbürgern.

Für uns waren das alles Anzeichen, daß keine Zeit mehr zu verlieren war. Im Aktionsausschuß wurden wir uns darüber klar, daß wir nur mit einer starken Organisation im Rücken überleben könnten. Der Münchner Schumann tötete uns in jeder Sitzung fast den Nerv, wenn er immer wieder sagte: „Wie ich meine Bayern kenne, gibt es hier noch ein Mordsblutvergießen.“ Er behielt recht. Aber er konnte uns niemals überzeugen, warum es dazu kommen müßte. Dieser Schumann war verheiratet mit einer stillen, intelligenten Frau, die sich nach den Münchner Ereignissen der KPD anschloß und unter dem Namen Herta Sturm eine bekannte Funktionärin in der deutschen Partei und in der Kommunistischen Internationale wurde.

Wir erreichten es durch Vertrauensmänner, Ende März in den Maffei-Werken während der Arbeitszeit eine Versammlung der gesamten Belegschaft zustandezubringen. Budich sprach über den Krieg und Zusammenbruch, Leviné erläuterte die Bedeutung und die Aufgaben der Betriebs- und Arbeiterräte. Er brachte Beispiele aus Rußlands Revolutionen von 1905 und 1917. Leviné hatte nicht die starke Stimme Budichs. Sein schmales, blasses Gesicht ließ ihn schmächtig erscheinen, das war er zwar nicht, aber auch nicht kräftig. Seine Zuhörer hielt er durch seine Klarheit und Ruhe in Bann.

„Ihr bestimmt euer Leben, wir als Partei wollen euch helfen, es besser zu gestalten ...; lassen die Betriebsleiter, wie es in Russland geschah, die Betriebe in Stich, so müßt ihr in der Lage sein, die Betriebe zu leiten ... die Klasse, die euch in den Krieg und in die heutige Armut gestürzt hat, darf nicht wieder an die Macht zurückkehren ... Wir sind keine Bürokraten, aber ohne eine revolutionäre, disziplinierte Partei können wir nichts erreichen ...“

Ich habe Leviné mehrere Male sprechen hören. Alle seine Reden hatten im Grunde einen pessimistischen Klang. Leviné kannte die deutsche Arbeiterbewegung besser als Levien und Budich. Er war schon vor dem Weltkrieg Mitarbeiter sozialdemokratischer Zeitungen gewesen. Um mit deutschen Arbeitern an ihren Arbeitsplätzen sprechen zu können, hatte er als Metallarbeiter in Fabriken gearbeitet. Seine Doktordissertation behandelte Fragen der gewerkschaftlichen Organisation. Er war ein Idealist ohne Illusionen. Wie auch Levien stammte Leviné, der 36 Jahre alt war aus wohlhabendem Hause.

Der populärste Redner in Volksversammlungen und Vorsitzender der Kommunistischen Partei Bayerns blieb weiterhin Max Levien. Unsere Ausweise waren nur mit seiner Unterschrift gültig. In seiner ganzen Art war Levien der sympathischste Mensch. Vielseitig interessiert, war er in Schwabing zu Hause, wo er auch in einem Café seinen Stammtisch hatte. Bei nahezu allen Theateraufführungen und Konzerten, Vorträgen über Naturwissenschaften und Kunst, war er anwesend. Immer begleitet vom schönsten und intelligentesten Tituskopf des damaligen Deutschland. Im Café diktierte er der jungen Frau seine Artikel oder seine Korrespondenz. Unter den Büchern und Zeitschriften, die vor ihm auf dem Tisch lagen, war auch die Zeitschrift Der Ziegelbrenner. Des öfteren saß der Herausgeber dieser Zeitschrift bei Levien am Tisch. Es war ein Schriftsteller und Schauspieler namens Red Marut. Marut verließ München nach der Niederschlagung der Räterepublik und blieb verschollen. Die Vermutung, daß Marut mit dem in Mexico verstorbenen Schriftsteller Traven identisch ist, bleibt auch nach seinem Tode unbewiesen.

Ich sah Levien und seine Gefährtin fast täglich. Trotz seiner Bohemeneigungen mied Levien jede Extravaganz. Stets betont „gut bürgerlich“ gekleidet und glatt rasiert, machte er den Eindruck eines gutsituierten Gelehrten. Bei allen schöngeistigen Ansprüchen war Levien doch ein Parteimensch. Er wußte, daß jede politische Arbeit ohne eine Partei, das heißt ohne eine politisch gleichgesinnte oder interessierte Anhängerschaft, erfolglos bleibt. Levien hatte schon als junger Student der russischen Sozialdemokratischen Partei angehört, Leviné dagegen nicht. Levien war auch wohl mehr „Leninist“ als Leviné und Budich, die mehr von Rosa Luxemburg beeinflußt waren. Ich entsinne mich gut, wie Levien im Aktionsausschuß mehrfach sagte:

„Ich kann mich als Naturwissenschaftler nicht mit Instinkt und Spontaneität abgeben. Politischen Instinkt muß man haben, aber von Wert ist er nur, wenn er sich auf Wissen stützt.”

Mit organisatorischen Arbeiten befaßte sich Levien nicht. Doch er war, wie auch Leviné und Budich, ein unermüdlicher Arbeiter.

Trotz aller Aktivität blieb die KP bei den Arbeitern in der Minderheit; bei den Betriebsräten ebenso wie bei den Soldatenräten. In den Bauernräten war kein Kommunist vertreten. Die Partei erwartete Mitarbeit und Mitverantwortung. Der rasende Beifall in den überfüllten Versammlungen, den Levien als Redner erhielt, war daher kein Maßstab für die Stärke und den politischen Einfluß der Partei in der Bevölkerung. Eine andere Möglichkeit, ihren politischen Einfluß zu prüfen, hatte die KP nicht. An den Landtagswahlen hatte sie sich nicht beteiligt.

Die Arbeiterräte in den Klein- und Mittelbetrieben hatten selten eine Vorstellung von ihren Aufgaben und noch seltener eine Möglichkeit, ihre Funktionen auszuüben. Die Arbeiterschaft der beiden Großbetriebe Münchens, Maffei und Krupp, war in ihrer großen Mehrheit nicht „bodenständig“. Diese Facharbeiter stammten zumeist aus anderen Gebieten Deutschlands. Aus dieser Struktur erklärt sich zum Teil die Diskrepanz zwischen Wählerstimmen zum Parlament und zu den Betriebsräten. Zum Betriebsrat wurde „links“ gewählt, zum Parlament „rechts“. Entsprechend der Struktur der Bevölkerung in Bayern bestimmte jedoch die abwartende Landbevölkerung das politische Bild, nicht die aktive Industriearbeiterschaft.

Die Regierung Hoffmann provozierte die Bevölkerung und ihre eigenen Anhänger durch ihre Untätigkeit und Ratlosigkeit. Ich kenne kein Zeugnis aus dieser Zeit, in dem glaubwürdig angegeben wird, was diese Regierung in den drei Wochen ihrer Existenz gearbeitet oder wenigstens an Plänen zu einer Arbeit entwickelt hat. Diese Untätigkeit, Unfähigkeit und Ratlosigkeit war der eigentliche Auftrieb der Diskussion über die Errichtung einer Räteregierung. Die Führung in dieser Diskussion hatten die Unabhängigen Sozialdemokraten. Mitglieder der Kommunistischen Partei nahmen natürlich starken Anteil an dieser Diskussion. Zweifellos hatten die Kommunisten die klarste Vorstellung darüber, was eine Räteregierung bedeutete, auf welche Kräfte sie sich zu stützen hätte, welche Bedingungen zu erfüllen sind und welche Funktionen die Arbeiter- Bauern- und Soldatenräte in einer Räterepublik zu übernehmen haben. Dadurch gerieten die Führer der Kommunisten in die undankbare Situation der Warner. Die Reden Levinés und Leviens waren in den Räteversammlungen wie akademische Vorlesungen über die Konstituierung, das Wesen und die Aufgaben der Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräte und einer von diesen Räten getragenen Räteregierung. Die Kommunisten stellten immer wieder fest daß keine der notwendigen Vorbedingungen in Bayern gegeben waren.

Die Redner der Unabhängigen und auch einige Mehrheits-Sozialdemokraten gaben sich jetzt radikaler als die Kommunisten; sie beschimpften die Kommunisten als Bremser und Feiglinge. Ein Mitglied der Hoffmann-Regierung, der Minister für militärische Angelegenheiten, Schneppenhorst, rief in den Versammlungen am lautesten nach der Räteregierung. Wir hatten den Eindruck, daß er als Agent Provokateur beauftragt war, so zu reden. Er wurde später der haßerfüllteste Kronzeuge gegen die Kommunisten. Zugleich mit der Agitation für eine Räteregierung forderten die Mehrheits-Sozialdemokraten und die Unabhängigen die „Einheitsfront aller Arbeiterparteien“, einschließlich der Anarchisten. Auch dieser Vorschlag wurde von uns Kommunisten abgelehnt, weil wir eine Falle vermuteten. Wir verlangten eine klare Auskunft, welches Programm diese Einheitsfront haben solle. Wir Kommunisten empfanden es als eine Zumutung, mit der Partei eine Einheitsfront zu bilden, die für die Ermordung Liebknechts und Luxemburgs verantwortlich war und ebenso für die Niederschlagung und Auflösung der Arbeiter- und Soldatenräte in Berlin und anderen deutschen Städten und Gebieten. Max Levien hatte seit November 1918 in jeder seiner Versammlungen die Einheitsfront der Arbeitenden gefordert, doch unter der Voraussetzung, daß die Arbeiter der SPD sich von ihren Führern Ebert und Noske und allen, die für den Krieg gewesen waren, trennten. Entsprechend ihren Prinzipien bildeten die Anarchisten keine eigentliche Partei. Als Anarchisten bekannten sich die wunderbarsten, gebildetsten, moralisch hochstehendsten Köpfe: Gustav Landauer, Erich Mühsam, Silvio Gesell. Ihr Einfluß auf die Bevölkerung war nicht abschätzbar, keiner von ihnen war ein besonders guter Redner, aber sie waren mit der gesamten Boheme von München befreundet, sie waren ihr Mittelpunkt. Sie lehnten die KPD ab, ohne eine feindliche Einstellung zu zeigen. Mit Max Levien waren sie fast alle persönlich bekannt.

Die Aussprachen über die Einheitsfront und über die Bildung einer Räteregierung waren sehr stürmisch. Ich erinnere mich sehr gut, wie Leviné bekümmert nach Worten rang, wenn er persönlich stark angegriffen wurde und wegen des Tumults nicht weiter sprechen konnte. Max Levien dagegen ließ sich nicht niederschreien, er sprach robuster und schlagfertiger. Jahrelang warfen die Mehrheits- und die Unabhängigen Sozialdemokraten den Kommunisten vor, sie hätten in München ein falsches Spiel getrieben. Auch Toller behauptet das in seinen Memoiren. Diese Vorwürfe sind im Falle Bayerns nicht berechtigt. Wir Kommunisten propagierten die Räteregierung als die beste Regierungsform, aber wir erkannten, daß die Vorbedingungen für eine Räteregierung nicht gegeben waren. Nur darum warnten wir vor der Ausrufung der Räterepublik. Das war keine doppelsinnige Haltung. Zwischen der Propagierung eines Ziels und dessen Verwirklichung liegt ein weiter Weg.

Die Kommunisten fanden in den Volksversammlungen, in denen Max Levien referierte, mehr Verständnis für ihre Haltung als in den Delegiertensitzungen. Auch bei den Arbeiter- und Soldatenräten in München waren die Widersinnigkeiten vom November 1918 in Berlin und anderen Orten wiederholt worden, daß unter anderen auch kleinere Unternehmer und leitende Angestellte gewählt worden waren. Auch unter den Soldatenräten waren wiederum einige Offiziere. So saßen Gegner des Rätegedankens in maßgeblichen Funktionen, und es fiel ihnen nicht schwer, ein Arbeiten der Räte zu verhindern oder diese lächerlich zu machen. Es genügte, sinnlose Anträge zu stellen und damit zeitraubende Debatten zu entfesseln. Je mehr Arbeiter- und Soldatenräte nach solchen Versammlungen mit verwirrten Köpfen nach Hause gingen, um so leichter konnte man den Rätegedanken untergraben. Die Mehrheits-Sozialdemokraten fanden diese Zusammensetzung in Ordnung, die Unabhängigen Sozialdemokraten waren sich über die Folgen nicht im klaren.

Das war die Situation als die Regierung Hoffmann den Landtag einberufen wollte. Gegen die Einberufung protestierten die Mehrheits-Sozialdemokraten am lautesten. Die Unabhängigen und die Kommunisten schlossen sich an. Es war die Sozialdemokratische Partei von Augsburg, die in einer Versammlung am 3. April die Ausrufung der Räterepublik forderte und ihren Vorsitzenden, Ernst Niekisch, nach München schickte mit dem Auftrag, nicht länger mit der Ausrufung der Räterepublik zu zögern.

Am 4. April erhielt der Aktionsausschuß der Kommunistischen Partei eine Einladung, ins bayrische Kriegsministerium zu kommen. Es sollte über die Bildung einer Räteregierung verhandelt werden. Wir gingen gemeinsam hin, und bei unserem Eintreffen fanden wir eine Versammlung von vierzig bis fünfzig Personen vor. Von den Mehrheits-Sozialdemokraten waren der Militärminister Schneppenhorst und der Innenminister Segitz dabei; von den Unabhängigen die leitenden Funktionäre unter Führung Ernst Tollers, ferner die Anarchisten Gustav Landauer und Erich Mühsam.

Hier sah und hörte ich Toller, Mühsam und Landauer zum ersten Male. Die Versammelten, die schon geraume Zeit tagten, hatten sich geeinigt, uns die paritätische Beteiligung an einer Räteregierung anzubieten.

Leviné, als unser Sprecher, lehnte eine Teilnahme eindeutig ab und begründete unsere ablehnende Haltung. Unter den wütenden Beschimpfungen der Mehrheits-Sozialdemokraten verließen wir die Konferenz. Wir hatten anscheinend den Leuten einen noch undurchsichtigen Plan verdorben. Unsere Ablehnung stimmte überein mit unserem Spartakusprogramm. Rosa Luxemburg hatte eine Situation, wie sie jetzt in Bayern vorlag, vorausgesehen und geschrieben:

»Der Spartakusbund wird es auch ablehnen, zur Macht zu gelangen, nur weil sich die Scheidemann-Ebert abgewirtschaftet haben und die Unabhängigen durch die Zusammenarbeit mit ihnen in eine Sackgasse geraten sind.«

Die Regierung Hoffmann hatte inzwischen den Kommandanten der Münchner Garnison aufgefordert, Truppen zum Schutze des Landtages zu stellen. Der monarchistische Garnisonskommandant lehnte ab und erklärte, daß der Landtag keines Schutzes wert sei. Daraufhin verzichtete die Regierung auf den Zusammentritt des Landtages. Der Ministerpräsident Hoffmann und die Mehrheit seiner Minister flüchteten nach Bamberg. Nach dem unerwarteten Verschwinden der fünf Minister der Hoffmann-Regierung, die sich zwei Tage vorher bereit erklärt hatten, in eine Räteregierung unter Führung der USPD einzutreten, wurde trotzdem die „Räterepublik Bayern“ in der Nacht vom 6. zum 7. April 1919 proklamiert. In Augsburg erfolgt die Proklamierung einige Stunden früher als in München. Die erste Handlung der neuen Regierung war, den 7. April zum „Nationalfeiertag“ zu erklären. Am gleichen Tag folgten Dekrete, die die Münchner Universität und die Presse „sozialisierten“. Die neue Räteregierung bestand aus fünf Mitgliedern der Unabhängigen Sozialdemokraten, einem Mehrheits-Sozialdemokraten, drei Bauernbündlern, zwei Anarchisten und einem Kommunisten, Ministerpräsident und Außenminister wurde ein Dr. Lipp, den niemand von uns kannte, auch Levien kannte ihn nicht. Toller war nicht dabei, er war nach dem Rücktritt Niekischs Präsident des Zentralrates der Arbeiter-, Bauern und Soldatenräte geworden. Toller war somit das eigentliche „Staatsoberhaupt“.

Nachträglich erfuhren wir, daß die Ausrufung der Räterepublik schon für einige Tage früher geplant gewesen war. Sie war verschoben worden, weil die Mehrheits-Sozialdemokraten beantragt hatten, erst Delegationen in andere Städte zu entsenden, um zu erreichen, daß die Proklamation der Räterepublik gleichzeitig in den wichigsten Städten Bayerns erfolgte.

Es war den harmlosen Unabhängigen Sozialdemokraten und den noch harmloseren Anarchisten nicht aufgefallen, mit welchem Eifer sich die Führer der Mehrheits-Sozialdemokraten zu den Delegationen drängten. Außerhalb Münchens angekommen, denunzierten die Mehrheits-Sozialdemokraten ihre Delegationskollegen, die zum Teil verhaftet wurden, und erklärten, daß sie sich nur aus München hätten „absetzen“ wollen. Schneppenhorst, der die Delegation nach Nürnberg leitete, marschierte drei Wochen später mit den Freikorps-Truppen in München ein. Der Verdacht der Kommunisten, daß die Mehrheits-Sozialdemokraten eine Provokation planten, hatte sich als berechtigt erwiesen.

Der Aktionsausschuß der Kommunistischen Partei kam jeden Tag in einem Lokal in der Sendlinger Straße zusammen. Die täglichen Diskussionen drehten sich in erster Linie um den Aufbau der Kommunistischen Partei, die ja erst Anfang März, also vor ca. 5 Wochen gegründet worden war, ferner um die Stimmungen in der Arbeiterschaft; es wurden Berichte gegeben, wie es in den Betrieben aussah, wie in den Wohnbezirken. Ein ständiges Thema war die Werbung von Mitgliedern. Wir mußten unzufriedene frühere Mitglieder der SPD von der Notwendigkeit der Gründung einer neuen Arbeiterpartei überzeugen. In der Frage der Ausrufung der Räterepublik mit der USPD und den Anarchisten waren wir einer Meinung: wir hielten sie nach wie vor für ein sinnloses Abenteuer. Darum beschlossen wir auch unser Parteimitglied Wilhelm Reichardt aus der Partei aus, weil er ohne unsere Einwilligung als „Minister für militärische Angelegenheiten“ in die „Scheinräterepublik“, wie wir die Toller-Mühsam-Regierung nannten, eingetreten war. Alle Mitglieder des Aktionsausschusses äußerten ihr Unbehagen über die neue Situation, zumal die „Scheinräterepublik“ ihr Programm veröffentlicht hatte, das in fast allen Forderungen mit unserem Programm übereinstimmte. Der erste Punkt des Zwölfpunkteprogramms der Regierung lautete: „Diktatur des klassenbewußten Proletariats“, der zwölfte Punkt: „Bündnis mit den Räterepubliken Rußland und Ungarn und Zustimmung zu den sich daraus ergebenden Maßnahmen“.

Das Programm und alle Erlasse der Räteregierung blieben auf dem Papier. Es gab keine Organisation und zu wenige Menschen, die willens waren, Programm und Dekrete durchzuführen. Die im Amt gebliebenen königlich-bayrischen Beamten arbeiteten nicht. Sie saßen in ihren Büros und warteten ab. Noch mehr Ärger machte uns die Aktivität des Ministerpräsidenten und Außenministers Dr. Lipp. Dieser schickte an die russische und die ungarische Regierung bombastische Telegramme, die bei den Empfängern einige Verwirrung stifteten. Lenin und der Vorsitzende der erst im März 1919 gegründeten Kommunistischen Internationale, Sinowjew, antworteten auf diese Telegramme und ersuchten um klare Informationen. Wir hatten damals keine Möglichkeit, die russische und die ungarische Regierung und die kommunistischen Parteien darüber zu unterrichten, daß wir, die Kommunistische Partei Münchens, an dieser Räterepublik nicht beteiligt waren. Nachdem Lipp auch anderen Stellen unverständliche Telegramme geschickt hatte, wurde er von Toller abgesetzt.

Doch schon nach einigen Tagen, am 11. April, erklärten Levien, Leviné und Budich im Aktionsausschuß, daß es nicht möglich sei, weiter abseits zu stehen. In der Arbeiterschaft, in öffentlichen und Betriebsversammlungen wurden Entschließungen angenommen, in denen die Nichtbeteiligung der Kommunistischen Partei an der Räteregierung getadelt wurde, gleichzeitig verlangten andere Entschließungen, daß Max Levien die Regierung übernehme.

Leviné erbot sich, noch einmal in einer Konferenz der zum Teil inzwischen neugewählten Betriebsräte und der revolutionären Soldatenräte, diese bezeichneten sich neuerdings als „revolutionär“, die Situation und ihre Konsequenzen darzulegen. Ich war in dieser Konferenz anwesend. Das Auftreten und das Referat Levinés in dieser Versammlung sind mir die Jahrzehnte hindurch unvergessen geblieben. Aus den unzähligen Versammlungen und Konferenzen, die ich in den vergangenen viereinhalb Jahrzehnten erlebte, hebt sich in meiner Erinnerung immer wieder die Gestalt Levinés heraus.

Leviné sah die Machtverhältnisse klar, ebenso klar sah er den Zusammenbruch voraus. Durch andauernde Zwischenrufe unterbrochen, sagte er:

“Ich freue mich über den revolutionären Elan und über die Ungeduld, endlich zu revolutionären Taten zu kommen, aber wir sind hier nicht die Arbeiterschaft, sonder nur ein Vortrupp. Doch einem echten revolutionären Willen wird die Partei sich fügen.“

Daraufhin wählten die Versammelten ein Komitee von zwanzig Personen, das eine neue Regierung bilden sollte. Toller stimmte zuerst spontan zu. Er hatte die Unhaltbarkeit seiner Regierung schon eingesehen. Jedoch nahm er nach der Beratung mit seinen Ministerkollegen und den Funktionären seiner Partei, die ebenfalls in der Versammlung waren, seine Zustimmung wieder zurück. Levien lenkte sofort ein und beantragt, den vor einer Stunde gefaßten Beschluß zurückzustellen und die Versammlung zu vertagen. Es war inzwischen Mitternacht geworden.

Als am folgenden Vormittag unser Partei-Aktionsausschuß wieder zusammentrat, beschloß er, der Toller-Regierung jede Unterstützung anzubieten und sie bei einem Angriff durch die Freikorpstruppen zu verteidigen. Levien wurde beauftragt, zu Toller zu gehen, um ihm diesen Bescheid der Partei mitzuteilen.

Doch es war zu spät. Die „weißen“ Truppen in der Stadt schlugen los. Ich sollte ein zweites Mal Gelegenheit haben, Leviné zu schützen. Ähnlich wie im „Vorwärts“ im Januar in Berlin. Um Levinés eigenen Ausdruck zu gebrauchen, verlängerte ich seinen Urlaub auf Erden.

Ob es eine Verwechslung war oder ein Wink, ich konnte es niemals fest stellen. Ein Soldat kam auf der Straße im Laufschritt auf mich zu grüßte und sagte, daß in der Kaserne Befehlsausgabe für die Aktion sei. Ich ging sofort dorthin. Soldaten und einige Zivilisten standen dicht gedrängt im Schulungsraum der Kaserne. Aschenbrenner der frühere Stadtkommandant von München, verlas gerade Befehle, die durch Kuriere von der Regierung Hoffmann aus Bamberg gekommen waren. Es werde noch heute losgeschlagen. Es war Sonnabend, der 12. April. Die Regierungsgebäude und der Bahnhof sollten sofort besetzt werden. Dann verlas der Sprecher Namen und Adressen von Mitgliedern der Toller-Räteregierung und der Führer der Kommunistischen Partei, Levien, Leviné, der Redakteure der Roten Fahne und andere. Der zweite Sprecher, Dürr, der frühere Kommandant der Wache des Hauptbahnhofs, befahl, bei Widerstand oder Fluchtversuch sofort von der Waffe Gebrauch zu machen. Hier gab es Gelächter und Grinsen. Man hatte verstanden, daß die genannten Personen zu erschießen seien.

Ich verließ die Kaserne ebenso unbemerkt, wie ich sie betreten hatte, und eilte zu der Wohnung, in der Levien, Leviné, Budich, Egelhofer und zwei oder drei andere Mitglieder des Aktionsausschusses eine Besprechung abhielten, zu der ich unterwegs gewesen war, als der Soldat mich ansprach. Ich berichtete über das Gehörte und wir beschlossen, den Aktionsausschuß und die wichigsten Funktionäre der Partei zum Lokal in der Sendlinger Straße zu rufen. Diese Zusammenkunft fand am Abend statt. In der gleichen Zeit besetzten die „weißen“ Truppen das Regierungsgebäude und den Hauptbahnhof und verhafteten zwölf Mitglieder der Räteregierung und des Zentralrats. Toller war nicht im Wittelsbachpalais, er war auf einer Reise nach Berlin begriffen, kehrte aber in Nürnberg um, als er dort die Nachricht vom Putsch erhielt. So wurde die erste Räteregierung gestürzt.

Levien und Leviné glaubten damit die Räterepublik erledigt und begaben sich zu einem Ausweichquartier. Budich, Egelhofer, Strobt und ich sowie andere Mitglieder des Aktionsausschusses und Funktionäre blieben im Lokal Sendlinger Straße. Budich übernahm jetzt die Leitung der Abwehr des Putsches. Egelhofer wurde zum Stadtkommandanten ernannt, ich zum Kommandanten des Sendlinger Tor Viertels. Alle anwesenden Funktionäre gingen in ihre Stadtbezirke, um die Parteimitglieder zu alarmieren. Diese sollten sich in ihren Stadtbezirks-Lokalen versammeln. Jetzt zeigte sich ein uns alle überraschender revolutionärer Elan. Es kamen nicht nur unsere Parteimitglieder, sondern Tausende von Arbeiter, die sich zum Kampf zur Verfügung stellten. In der Stadt kam es mittlerweile überall zu Zusammenstößen mit den weißen Truppen, es wurde geschossen, Kampflärm dröhnte durch die Stadt. Alles verlief noch ohne Verluste, außer am Hauptbahnhof.

Ich kann hier keinen Bericht über die einzelnen militärischen Aktionen geben. In diesen 24 Stunden verblieb ich im Lokal in der Sendlinger Straße und im Bereich des Sendlinger Tors. Die Sendlinger Straße ließ ich vom Marienplatz bis zum Sendlinger Tor-Platz absperren, in aller Eile Barrikaden aus Wagen und Gerümpel bauen, die ein einziger Kanonenschuß hinweggefegt hätte. Doch die Barrikaden waren besetzt von begeisterten Arbeitern, die bereit waren, sie zu verteidigen. Doch zu Kämpfen kam es hier nicht. Als Abteilungen der weißen Truppen anmarschiert kamen und die kampfbereiten Arbeiter sahen, zogen sie sich zurück.

Am Hauptbahnhof wurden mittlerweile die ersten Morde verübt. Egelhofer schickte drei unbewaffnete Parlamentäre zur Wache des Hauptbahnhofes, um sie zur Übergabe aufzufordern. Die drei Parlamentäre wurden sofort von den Weißen erschossen. Daraufhin wurde der Bahnhof von unseren Arbeitern gestürmt. Der Kommandant der Bahnhofswache, der die drei Parlamentäre ermorden ließ, konnte jedoch flüchten.

Budich und ich wußten nicht, wo sich Levien und Leviné aufhielten. Ich war zwischendurch zu ihren bisherigen Wohnungen geeilt. Beide waren in den letzten zwölf Stunden nicht nach Hause gekommen. Endlich kam Seidel, der Münchner Bankangestellte, der später zum Tode verurteilt und erschossen wurde. Seidel hatte die Wohnung, zu der sich Levien und Leviné begeben hatten, als Versteck für den Ernstfall besorgt. Seidel führte Budich und mich zur Wohnung und wir trafen Levien und Leviné dort an. Es kam zu einer heftigen Auseinandersetzung. Budich tobte: „Wie konntet Ihr Euch so vorzeitig zurückziehen, unsere Sache ist nicht verloren, wenn wir sie nicht selber aufgeben, der Putsch der Weißen ist niedergeschlagen, es geht jetzt hier um die Arbeiterklasse, nicht nur um die Partei, die Kommunistische Partei muß jetzt die Macht übernehmen!“ Leviné war sehr bedrückt, er verlangte ein Parteiverfahren gegen sich, auch Levien verteidigte sich, daß er nicht genügend informiert worden sei.

In der Aktionsausschußsitzung am Montag, den 14. April beantragte Budich die sofortige Bildung einer „echten“ Räteregierung. Von unserem Tagungslokal fuhren Leviné, Levien, Budich, Seidel und ich zu den Maffeiwerken und beriefen eine Belegschaftsversammlung ein. Leviné und Budich gaben einen Bericht über den konterrevolutionären Putsch der weißen Truppen. Die gesamte Belegschaft legte daraufhin die Arbeit nieder und marschierte geschlossen in die Stadt. Levien, Leviné und Budich gingen an der Spitze des Zuges. Die Mitglieder des Aktionsausschusses tagten in Permanenz. In der Nachmittagssitzung wurde die Machtübernahme einstimmig gutgeheißen und der Generalstreik beschlossen, der sich auf zehn Tage erstrecken sollte. In diesen zehn Tagen lagen allerdings die Osterfeiertage. In der gleichen Sitzung erklärte Leviné, daß es jetzt nötig sei, die weiteren Maßnahmen mit der Zentrale der KPD abzustimmen. Die Politik der letzten zehn Tage war ohne Verbindung mit der Zentrale gemacht worden. Budich schlug vor, mich zu beauftragen, ein Mitglied der Zentrale nach München zu holen. Leviné erklärte, daß auf keinen Fall Paul Levi kommen solle. Er schlug Paul Frölich vor. So wurde es auch einstimmig beschlossen. Leviné schrieb meinen Auftrag auf die Innenseite meines Hut-Schweißbandes. Über die internen Vorgänge sollte ich mündlich berichten und betonen, daß es jetzt kein Zurück mehr geben könne. Ein Ausweichen würde die Auflösung der Partei in Bayern bedeuten und vor allem aber dürfe die Partei jetzt die Arbeiterschaft nicht im Stich lassen, sie nicht enttäuschen. Alle Gegenargumente kämen zu spät.

Ich ging von der Sitzung direkt zum Bahnhof und reiste mit dem nächsten Zug. Der Zugverkehr war zwar eingeschränkt, doch fuhren die Fernzüge, wenn auch mit großen Verspätungen. Die meisten Mitglieder der Zentrale der KPD hatten Berlin in den Märztagen verlassen und befanden sich zu dieser Zeit in Leipzig. Am folgenden Vormittag kam ich in Leipzig an. Unterwegs sah ich bereits Vorbereitungen zum Aufmarsch der Freikorpstruppen gegen München. Schon auf dem Bahnhof von Regensburg wurden die Reisenden von Soldaten mit weißen Armbinden kontrolliert.

Paul Frölich hatte in Leipzig einen Verwandten, dessen Adresse ich mitbekommen hatte. Ich suchte ihn auf, und er führte mich sogleich zu Paul Frölich. Die Grüße von Leviné genügten ihm, er war sofort einverstanden, mit mir nach München zu fahren. Doch mußte ich zuerst meinen Auftrag bei Paul Levi erfüllen. Frölich nannte mir das Café, in dem ich Levi von 11 bis 12 Uhr vormittags antreffen würde. Sicherlich würden dort auch noch andere Mitglieder der Zentrale anzutreffen sein, sagte Frölich. Ich hatte noch Zeit, mich zu waschen und ging zum Café, in dem ich Paul Levi antraf. Er schrieb gerade an einem Artikel, der noch zur Druckerei sollte. Ich zeigte Levi meine Vollmacht, persönlich kannten wir uns bereits. Ich berichtete über die Münchener Vorgänge, soweit ich sie selbst miterlebt hatte.

Levi und die anderen Mitglieder der Zentrale waren in großen Zügen über die Entwicklung in München informiert. Sie hatten auch die meisten Ausgaben der Münchner Roten Fahne erhalten. Die Zentrale hatte am 11. April, also vor meiner Ankunft in Leipzig, einen Aufruf veröffentlicht, in dem es hieß: „Die bayrische Räterepublik entstand nicht, wie wir es für notwendig halten, aus dem Willen und der Einsicht der Proletariermassen heraus. Sie entstand, weil einige Abhängige und Unabhängige Sozialdemokraten sich in eine Sackgasse verrannt hatten, aus der sie keinen Ausweg wußten, als die Ausrufung der „Räterepublik“.

Aber einmal da, müssen die Massen ernst machen. Einmal das Schwert gezogen, müssen die Massen es am Knaufe fassen, da es die Führer an der Klinge fassen wollen. Einmal an der Macht, müssen die Proletariermassen sie ausgestalten und sie gebrauchen in ihrem Sinne.“

Dieser Aufruf stimmte mit der Politik unseres Partei-Aktionsausschusses in München überein.

Erfreut über die Entwicklung war niemand. In der Konsequenz aber, was jetzt zu tun sei, herrschte Übereinstimmung: Der Kampf war unvermeidlich geworden.

Levi war über die Forderung Levinés, daß Paul Frölich zur Unterstützung nach München kommen sollte, und daß er Leviné, seine Funktionen niederlegen würde, wenn Paul Levi selber käme, sehr gekränkt. Er sagte aber sofort, daß er keinerlei Befehl auszuteilen habe. Er selbst würde auch auf Wunsch Levinés nicht nach München kommen. Paul Frölich möge auf eigene Verantwortung fahren. Die Zentrale beriet noch über die Situation und gab die Zustimmung zur Reise Paul Frölichs. Bis zum Abend mußte ich herumlaufen, um geeignete Ausweispapiere für Frölich zu beschaffen. Ohne sichere Ausweispapiere war die Fahrt bereits zu riskant. Es wurde ja nach allen Mitgliedern der Zentrale und nach den aus dem Kriege bekannten Spartakus-Mitgliedern gefahndet. Die KPD und überhaupt die „Linken“ hatten in Leipzig eine zahlreiche und auch persönlich zuverlässige Anhängerschaft, die nicht nur auf Arbeiter beschränkt war. Wir konnten kontrollsichere Papiere von einem Kaufmann ausleihen, dessen Beschreibung ungefähr auf Paul Frölich paßte. Die deutschen Ausweise waren damals ohne Bild. In der Nacht fuhr ich mit Paul Frölich nach München zurück. Der Zug war überfüllt. Es war uns nicht möglich, zusammenhängend über die Ereignisse zu sprechen. Auch Soldaten mit weißen Binden standen im Gang. Wir wurden einige Male kontrolliert, unsere Papiere und unsere Auskünfte wurde für in Ordnung befunden. Zur größeren Sicherheit hatten wir Fahrkarten über München hinaus gelöst. Mit stundenlanger Verspätung kamen wir mittags in München an. Ich führte Frölich sogleich zu Budich, der inzwischen wieder von der Familie Rapu aufgenommen worden war. Am gleichen Abend fand schon eine Sitzung des Aktionsausschusses mit Paul Frölich, der sich Paul Werner nannte, statt.

Im Regierungsgebäude herrschte ein aufreibendes Durcheinander. Tagelang kamen wir nicht aus den Kleidern, wir schliefen nachts wenige Stunden auf den Sofas oder in den Sesseln. Täglich mehrmals mußten wir Versammlungen von Belegschaften stillgelegter Betriebe besuchen, um über Programm und Ziele der Räteregierung zu sprechen, Kasernen wurden besucht, Besprechungen mit Delegationen und anderen Interessierten mußten geführt werden. Die neue Räteregierung wollte sich proletarisch-demokratisch verhalten. Hunderte uns unbekannter Leute kamen nur, um uns auf Du und Du die Hände zu schütteln.

Die Regierung bestand aus den fünfzehn Mitgliedern des Aktionsausschusses der Arbeiter- und Soldatenräte, der wiederum einen Vollzugsrat aus vier Personen mit Leviné als Vorsitzenden gewählt hatte. Der Titel Minister wurde nicht gebraucht, es wurde die Bezeichnung „Volkskommissar“ gewählt. Das war die einzige äußerliche Anpassung an die russische Revolution. Leviné hatte in der ersten Proklamation an die Arbeiterschaft nüchtern geschrieben:

»Die Räterepublik entsteht nicht aus dem Kuhhandel der Führer. Sie entsteht, wie ihr Name sagt, aus den Räten. Ihr müßt vor allem bestehen auf Neuwahlen und klarer Abstimmung der Arbeiter- und Soldatenräte in den Betrieben und Truppenteilen, denn der Wille der Arbeiter- und Soldatenmassen ist der Fels, auf dem wir bauen.«

Die Grundlage für das Regierungsprogramm gab das Programm des Spartakusbundes vom Dezember 1918 ab. Hieraus wurden die für Bayern notwendigen Maßnahmen übernommen: Bewaffnung des Proletariats, Befreiung der politischen Gefangenen, Auflösung der Parlamente und der gegenrevolutionären marodierenden Truppenteile, Auflösung der Verwaltungsbehörden, deren Arbeiten an die Räte übergehen. Als erste wirtschaftliche Maßnahme wurde angeordnet: Übernahme der Großbetriebe und Bergwerke, Linderung der Wohnungsnot durch Aufteilung der großen Luxuswohnungen, Streichung der Kriegsanleihen über 20.000 Mark, Verbot der gesamten Presse. Auch die eigene Parteizeitung Rote Fahne durfte nicht mehr erscheinen. An Stelle der Tageszeitungen wurde ein Mitteilungsblatt herausgegeben, das kostenlos verteilt wurde. Dieses Mitteilungsblatt enthielt alle Bekanntmachungen, die Reden der Volkskommissare, Proklamationen und Dekrete. Dazu auch Nachrichten aus aller Welt, um die Bevölkerung notdürftig zu informieren. Das Mitteilungsblatt wurde stets in Eile geschrieben, es war ein Notbehelf. Die leitenden Männer hatten keine Zeit, Artikel zu schreiben. Es wurden Leitsätze über die Rechte und die Funktionen der Betriebsräte herausgegeben, die in vielen Punkten das heutige Betriebsverfassungsgesetz vorwegnahmen. Levinés Studium der internationalen und speziell der deutschen Gewerkschaften und seine Erfahrungen in der praktischen Arbeit, kamen hier zu Geltung. Der erste Artikel der Leitsätze lautete: „Die Betriebsräte üben über die gesamte Leitung der Betriebe die vollständige Kontrolle aus.“ Nicht Übernahme der Betriebe; diese sollte nur dort erfolgen, wo die Betriebsleitungen ihre Betriebe im Stich ließen. Für das Schulwesen und für die Universitäten sollten die Dekrete der gestürzten Mühsam-Landauer-Regierung weiter gelten. Die Leitsätze und Gesamtprogramm der Regierung wurden den Betriebsräten vorgetragen und von diesen durch Abstimmung gutgeheißen. In den Versammlungen der Betrieb- sund Personalräte waren gewöhnlich 1.200 bis 1.500 Personen anwesend. Alle Betriebe mit zehn oder mehr Mitarbeitern konnten Delegierte schicken. Es waren auch die Beamten-Personalvertreter dabei. Neben Post- und Eisenbahnbeamten hatten auch die uniformierte und die Kriminalpolizei Räte gewählt. Sie stimmten wie alle anderen für Leviné und Levien ... Bei den Soldatenräten waren Egelhofer und Budich die anerkannten Führer. Egelhofer war kein Redner, aber er sagte das jeweils Notwendige kurz und in einfachen Sätzen. Andere führende Soldatenräte waren frühere Offiziere, Ernst Günther und Erich Wollenberg. Sie waren an der Front, deren wichtigster Abschnitt im Norden bei Dachau von Ernst Toller befehligt wurde.

Unbestreitbar vollbrachte die Räteregierung unter Leviné außergewöhnliche geistige und organisatorische Leistungen. Doch zur Durchführung eines neuen Programms gehören Menschen, die auf das Neue, das Ungewohnte, eben auf das Revolutionäre eingestellt sind. Zu großen Leistungen gehören die sorgfältige Auswahl der Mitarbeiter und viel geduldige Arbeit, vor allem aber Zeit. Menschen, die behaupten, den guten Willen zur Mitarbeit zu haben, meldeten sich täglich. Die Zeit, diese Menschen einzugliedern, wurde uns nicht gegeben.

Da ich vom ersten Tage an für die persönliche Sicherheit der vier leitenden Genossen, Leviné, Levien, Budich und Frölich, zu sorgen hatte, ernannte mich die Regierung zum Kommissar für das Polizeiwesen im Bereich der Räterepublik und außerdem gemeinsam mit Mairgünther zum Polizeipräsidenten von München.

Unsere Vorgänger im Polizeipräsidium, Köberl und Dosch, die nach der Ermordung Eisners eingesetzt waren, schienen sichtlich erleichtert, als wir sie ablösten. Die Personalräte und die Abteilungs-Ressortleiter wurden zusammengerufen und wir wurden von unseren Vorgängern vorgestellt. Die erste Räteregierung hatte die Verwaltungspolizei unangetastet gelassen, doch waren Personalräte gewählt worden, die auch an den Versammlungen und an der Beschlußfassung der Arbeiter- und Soldatenräte teilnahmen. Ich sagte den versammelten Polizeibeamten, daß ihre Funktionen nur noch auf Verwaltungsarbeiten beschränkt sein würden. Die Sicherheit auf den Straßen und die Abwehr konterrevolutionärer Anschläge würden die bewaffneten Arbeiter in den einzelnen Stadtbezirken übernehmen. Diese unterständen der Stadtkommandantur.

Es gab keinen Widerstand und keine Rücktritte. Einige Abteilungsleiter traten vor, um uns mit einer Verbeugung die Hände zu drücken und uns zu versichern, daß die täglichen Arbeiten wie bisher erledigt würden. Auf das, was die Beamten nach dieser Vorstellung in ihren Zimmern redeten, war ich nicht weiter neugierig. Sicherlich gaben wir ihnen reichlichen Gesprächsstoff. Man sah mir meine 23 Jahre wohl an. Ich trug eine umgeschneiderte Litewka und war unverkennbar ein Preuße. Mairgünther war zwar nur drei Jahre älter als ich, aber er sprach wenigstens bayrisch. Die ersten Tage meiner neuen Arbeit vergingen mit Besuchen der Polizeireviere in den einzelnen Stadtbezirken und der Abgrenzung der Funktionen für den bevorstehenden Abwehrkampf gegen die Freikorps-Truppen. Dazu kamen zu allen Tages- und Nachtstunden Sitzungen im Regierungsgebäude, überdies begleitete ich Leviné oder Budich zu Versammlungen, Mairgünther war auch weiterhin in der Redaktion des amtlichen Mitteilungsblattes tätig. So hielten wir beide uns nicht viel im Polizeipräsidium auf. Die nötigen Unterschriften leistete meistens Mairgünther, als Redakteur der Roten Fahne war sein Name den Münchnern geläufig.

Nur einige Haftbefehle unterschrieb ich. Es gab Plünderungen und Überfälle in der Stadt. Es waren insgesamt 21 Haftbefehle, die mir später vor dem Reichsgericht in Leipzig, säuberlich gesammelt, vorgelegt wurden.

Die täglichen Verwaltungsarbeiten im Polizeipräsidium liefen weiter. Zu Hunderten strömten die Bürger der Stadt herein und hinaus. Niemand kontrollierte sie.

Aber das alles waren keine lebenswichtigen Probleme der Revolution. Die dringende Aufgabe war die Abwehr der drohenden Hungersnot in München, die durch die Blockade der Lebensmittelzufuhren seitens der Hoffmann-Regierung und durch die Sabotage der Bauern verursacht wurde. Die Bauern ließen sich von den zahlreichen Agitationen der „Heimwehren“, die von München aufs Land fuhren, überreden, weder Milch für die Kinder noch andere Lebensmittel zu liefern. Die von der Regierung Hoffmann in Bamberg verhängte Blockade wurde von der Berliner Reichsregierung unterstützt. Der Vollzugsrat protestierte energisch und erließ einen Aufruf an die Bauern, in dem es hieß:

»Wir entrüsten uns über die Entente, welche Deutschland durch Blockade aushungern wollte, wollt ihr das Gleiche den eigenen Volksgenossen in den Städten antun?«

Sie wollten es und taten es.

Eine weitere Aufgabe war, den Bürgerkrieg durch Entwaffnung der konterrevolutionären Organisationen und Personen zu verhindern. Die Regierung Toller hatte bereits einen Erlaß herausgegeben, daß alte Militärwaffen abzugeben seien. Dieser Erlaß blieb unbeachtet. Als aber Egelhofer seinen Erlaß veröffentlichte, konnten morgens die Waffen auf den Straßen mit Lastwagen eingesammelt werden. Zur gründlichen Durchsuchung der einzelnen Häuser hatten wir weder die Mannschaften noch die Zeit.

Das dritte Problem war die Abwehr des Aufmarsches der Freikorpstruppen in München. Hierfür wurden alle Freiwilligen und alle brauchbaren Waffen benötigt. Alle unsere Kämpfer waren Freiwillige. Der Gegner schloß den Ring um München täglich enger. Die bayrischen Freikorps-Truppen kamen aus dem Süden, Osten und Norden, die württembergischen aus dem Westen und aus dem Norden die zahlreichste Truppe, die preußischen Noske-Freikorps. Es war eine erdrückende Übermacht im Anmarsch. Im Kampf standen fünfzig Freikorpsleute gegen einen Roten. Für die Abwehr der konterrevolutionären Verschwörungen, der Attentate, Gerüchteverbreitung, Lebensmittelschiebungen, Plünderungen war von der Regierung eine besondere „Kommission zur Bekämpfung der Konterrevolution“ geschaffen worden, deren Leitung dem Münchner Strobl übertragen worden war. Dieses Nebeneinander: Stadtkommandantur, Kommission zur Bekämpfung der Konterrevolution, Polizei, war unvermeidlich. In der Arbeit selbst mußte sich zeigen, welche Institution die Aufgaben der Revolution am besten meisterte.

Am Tage vor der Wiederaufnahme der Arbeit in den Betrieben hatten wir eine Demonstration veranstaltet, wie die Bevölkerung Münchens sie noch nie erlebt hatte. Nachmittags fanden Versammlungen in den Stadtbezirken und auf der Theresienwiese statt, danach marschierten die Kolonnen sternförmig zum Wittelsbacherpalais. Hier von einem Balkon aus sah ich eine fast unübersehbare Menschenmenge. Nach einem Appell Egelhofers an die bewaffneten Arbeiter, sich für den bevorstehenden Endkampf bereitzuhalten, hielt Paul Frölich die Schlußansprache. Die Rede Fröhlichs enthielt das damalige Programm der KPD. Er sagte unter anderem:

“Genossen! Die Weltrevolution marschiert. Die letzte Revolution wie wir es wünschen, wenn das erfüllt wird was wir wollen. Wenn aus allen Völkern eine einzige Gemeinschaft gebildet wird, eine Gemeinschaft die zu zammengehalten wird durch das Band der Arbeit. Eine Gemeinschaft von freien, selbständigen und innerlich festdisziplinierten Massen, wo ein jeder sich in den Dienst der Gesamtheit stellt und die Gesamtheit einsteht für das Wohl und Wehe jedes Einzelnen. Das ist ein großes und gewaltiges Ziel daß wir, die wir auf dem Vorposten stehen uns daran begeistern müssen und sagen: Wir wollen hier stehen auf diesem Vorposten, wir wollen hier aushalten, und wenn es sein muß wollen wir fallen!“

Von Historikern, feindlich gesinnten wie „objektiven“, wird immer wieder der „völlig unverständliche“ zehntägige Generalstreik zitiert, den die Räteregierung selbst proklamiert hatte. Es waren eigentlich sechs Streiktage, denn dazwischen lagen vier Osterfeiertage. Unsere Gründe waren sehr überlegt. Die Kasernen waren immer noch voller Soldaten, die zwar demobilisiert waren, die aber nicht nach Hause gehen wollten, und wir erfuhren, daß sie zum großen Teil von Offizieren zum Bleiben veranlaßt wurden. Ihren Sold erhielten sie aus Berlin und unkontrollierbaren Quellen. Unter diesen Offizieren und Soldaten befanden sich Leute wie Hitler, Hauptmann Röhm, Rudolf Hess und andere spätere Naziführer. Wir kannten diese Leute damals nicht, sie machten sich auch nicht so bemerkbar wie z. B. der „Thule-Bund“. Täglich mußten wir mit einem Putsch einiger Truppenteile rechnen. Daher appellierten wir an die Arbeiterschaft, sich täglich in den großen Münchner Sälen und auch im Freien zu versammeln. So war die Arbeiterschaft stets eingreifbereit und die konterrevolutionären Offiziere wagten keinen Putsch. Wir wollten uns nicht auf so leichte Art wegjagen lassen, wie unsere Vorgängerin, die Toller-Regierung, weggejagt worden war. Lebenswichtige Betriebe, Gas- und Elektrizitäts-Versorgung, Krankenhäuser und Lebensmittelgeschäfte waren vom Streik ausgenommen.

In den Tagen der Räteregierung kamen viele auswärtige Besucher nach München angereist, um sich über die Lage zu informieren. Auch Ausländer: Franzosen, Schweizer, Italiener, Österreicher. Wir sollten über alle Absichten und Handlungen Auskunft geben. Ich wurde beinahe von jedem Journalisten nach meinem Alter gefragt. Ich versuchte die Fragenden mit der Bemerkung zu trösten, daß die Älteren auch keine revolutionären Erfahrungen hatten, getragen werden muß eine Revolution von der Begeisterung der Jugend.

Eines Tages, ich war gerade mit Mairgünther für einige Stunden im Polizeipräsidium, wir hörten und lasen Berichte der Ressortleiter, als mir ein Beamter einen Brief in die Hand drückte. Er war von einer älteren Frau, die mich dringend sprechen wollte. Sie erzählte, daß ihr Sohn nach Protestdemonstrationen im Januar gegen die Ermordung Karl Liebknechts und Rosa Luxemburgs zu einer Gefängnisstrafe verurteilt worden sei und diese Strafe im Gefängnis Stadelheim verbüße. Die Frau bat, ihren Sohn besuchen zu dürfen.

Mit kam die Erzählung der Frau kaum glaubhaft vor, weil im ersten Erlaß der Räteregierung die Freilassung der politischen Gefangenen angeordnet worden war. Ich rief den zuständigen Polizeidezernenten, der mir von dem im Süden Münchens gelegenen großen Gefängnis Stadelheim erzählte. Ich hatte vorher nie von dem Gefängnis gehört. Mit mehreren Begleitern fuhr ich hinaus.

Vor der hohen Mauer des Gefängnisses waren noch Stacheldrahtverhaue errichtet, als ob ein Angriff auf das Gefängnis befürchtet wurde. Ich verlangte in der Wache am Tor zuerst den Personalrat zu sprechen, der auch sofort herbeieilte und mich in sein Büro führte. Sein Büro war eine Zelle. Ich unterrichtete ihn, daß die politischen Gefangenen sofort freizulassen seien. Er erklärte sich für nicht zuständig und führte mich zum Direktor des Gefängnisses. Es war ein Dr. Pöhner. Dieser Pöhner wurde später der berüchtigte Polizeipräsident in München.

Pöhner erklärte, daß er keinen Erlaß der Regierung über die Freilassung der politischen Gefangenen erhalten habe und verweigerte die Freilassung. Er verlangte den schriftlichen Erlaß und die Liste mit den Namen der zu entlassenen Gefangenen. Während unseres heftigen Wortwechsels mit Pöhner verhielt der Personalrat sich völlig passiv. Er erklärte auf Befragen, ebenfalls keinen Erlaß über die Freilassung der politischen Gefangenen zu kennen. Meine Frage, warum er seinen Amtsraum in einer Zelle habe, während der Direktor in pompösen Amtsräumen sitze, machte ihn sehr verlegen. Er wußte keine Antwort. So war und ist es in Deutschland üblich. Vor der Arroganz der Berufsbeamten weichen die gewählten Vertreter zurück. Der Personalvertreter geleitete mich wieder zur Straße hinaus und entschuldigte sich dabei immer wieder damit, machtlos zu sein. Er habe sich nur mit Fragen der Behandlung, der Arbeit und der Beköstigung der Gefangenen zu befassen. Noch in der Nachtsitzung der Regierung berichtete ich über Stadelheim. Der temperamentvolle Budich verlangte, es müsse sofort eine Kompanie Soldaten nach Stadelheim. Leviné war verlegen, er kenne ja München und seine Verhältnisse nicht genügend, von Stadelheim habe auch er noch nicht gehört. Es stellte sich heraus, daß außer der allgemeinen Anordnung „Sofortige Freilassung der politischen Gefangenen“ keine besonderen Anweisungen an die zuständigen Stellen herausgegeben worden waren. Auch Toller, der in der Sitzung anwesend war, erklärte, daß er keine spezielle Ausführungsbestimmung unterschrieben habe. Levien aber verwies erneut auf das Marx-Zitat, wonach der gesamte Staatsapparat durch neue Personen besetzt werden müsse. Es wurde beschlossen, diese bürokratische Sabotage zu brechen, der Stadtkommandant solle mir die notwendige Anzahl Soldaten zur Verfügung stellen. Das Gefängnis müsse von zuverlässigen revolutionären Arbeitern besetzt werden.

Mir war Stadelheim eine Lehre. Gleich am anderen Morgen rief ich die Personalvertreter und zuständigen Ressortleiter des Polizeipräsidiums zusammen und ließ mich ins Polizeigefängnis führen, das sich in einem Flügel des Häuserkomplexes befand. In einer Männer- und einer Frauenabteilung waren hier ungefähr 50 bis 60 Häftlinge untergebracht. Die Beamten erklärten, daß keine Politischen darunter seien. Auf Befragen der Gefangenen erwies sich das als richtig.

Ich ging von Zelle zu Zelle, in den meisten Zellen waren mehrere Gefangene untergebracht, und fragte sie einzeln nach den Gründen ihrer Inhaftierung aus. Es waren mehr oder minder die täglichen kleinen und großen Gaunereien, die in allen Polizeiberichten der Großstädte zu finden sind. Manche saßen hier seit Wochen fest, ohne Vernehmung oder Benachrichtigung der Angehörigen. Ein Mädchen erzählte, ihre Dienstherrin habe sie beschuldigt, Geld genommen zu haben, und sie säße schon seit drei Wochen im Gefängnis.

Meine Zeit reichte nicht aus, das Gehörte zu überprüfen, so schickte ich alle nach Hause. Ich machte das ganze Gefängnis leer, außer einer Etage, die sich die Kommission zur Bekämpfung der Konterrevolution reserviert hatte. Die meisten hielten meine Aufforderung, nach Hause zu gehen, für einen Scherz. Sie schauten auf die uniformierten Beamten, die zur Decke sahen. Doch nachdem die Gefangenen im Büro ihre Papiere zurückerhielten, eilten sie erfreut davon. Ich habe oft an die Szene denken müssen. Wenn es zweifelhaft ist, ob man einem Vogel oder einem anderen Tier, dessen Käfig man öffnet, eine Wohltat erweist, so ist dies bei gefangenen Menschen nicht zweifelhaft. Einem Menschen die Freiheit zu schenken, ist immer eine wahre Wohltat. Doch ich kam nicht mehr dazu, die politischen Gefangenen aus Stadelheim zu befreien. Egelhofer, der jetzt Oberbefehlshaber der Roten Armee geworden war, erklärte, zur Zeit keine Mannschaften abgeben zu können. Toller, der das Kommando am wichtigsten Frontabschnitt nördlich von Dachau hatte, sagte dasselbe. Ihre Antworten wurde mit dem Abwehrkampf begründet, der alle Kräfte beanspruchte. Dann aber gab Egelhofer mir die Vormacht, selber eine Truppe zusammenzustellen. Als ich zwei Tage später mit einer Truppe vor dein Gefängnis Stadelheim ankam, war es bereits von Freikorpstruppen besetzt. Diese waren aus Südbayern aufmarschiert sie halten das Gefängnis in der Nacht zuvor besetzen können. Vor dem Haupteingang war ein Geschütz aufgefahren, vom Dach herunter drohten Maschinengewehre. Gegen diese Übermacht konnte ich mit den Vollmachten, die ich jetzt in der Tasche hatte, und den wenigen Gewehren und Pistolen meiner Begleitung nichts ausrichten. So konnte ich der Regierung nur berichten, daß der Ring um München schon sehr eng war. Während der ganzen Zeit der Räteregierung blieb der Aktionsausschuß der Kommunistischen Partei in der gleichen Zusammensetzung, wie er in der zweiten Märzhälfte gebildet worden war, die politisch führende Körperschaft. Hinzugekommen war nur Paul Frölich. Zu den Beratungen, die Budich leitete, erschienen stets alle Mitglieder, gleichgültig welche Funktionen sie hatten. Hier konnte alles offen ausgesprochen werden. Die Stärken und Schwächen der Räterepublik wurden diskutiert, und hier wurden wir uns nach der ganzen Entwicklung auch klar, daß die Niederschlagung der Räterepublik nur noch eine Frage von Tagen sein könne, falls nicht durch Erhebungen der Arbeiter in anderen Teilen Deutschlands Hilfe käme. Wir sahen die Gefahr nicht allein im Aufmarsch der Freikorpstruppen um München, sondern besonders in der zunehmenden Passivität der Arbeiterschaft in München selbst. Die Begeisterung der ersten Tage war verflogen, zu den Kundgebungen und Demonstrationen kamen immer weniger Arbeiter. Wir mußten Sicherheitsmaßnahmen für unsere führenden Genossen treffen. Wir machten uns keine Illusionen. Die Januar- und Märztage in Berlin mahnten uns, wachsam zu sein. Leviné erinnerte an die Zehntausende von Opfern nach der Niederwerfung der ersten russischen Revolution von 1905/06; Paul Frölich wies auf die Opfer nach der Niederwerfung der „Pariser Kommune“ 1871 hin. Im Aktionsausschuß sprach niemand von Kapitulation. Doch sprachen wir es auch offen aus, daß es nicht Sache eines Revolutionärs sei sich dem Henker auszuliefern.

Zu den Schutzmaßnahmen gehörte es auch, die Akten des Polizeipräsidiums zu vernichten. Das Prüfen der Akten würde eine Zeit von Monaten in Anspruch genommen haben, auch das Heraussuchen nur der politischen Akten würde lange dauern. Bedenken brauchten nicht zu bestehen, weil kulturell wertvolle Dokumente nicht in Polizeiakten zu finden sind. So war es am zweckmäßigsten, alles zu vernichten. Menschenleben sind wichtiger als bedrucktes Papier.

Zwei Tage lang brannten die Akten auf dem zementierten Hof des Polizeipräsidiums. Wohl an die hundert Helfer aus der Bevölkerung, der Partei und der Roten Armee warfen die Akten aus den Fenstern in die Flammen. Damit retteten wir Hunderten von politisch und antimilitärisch Verdächtigten aus der Zeit der Zusammenbruchs-Monate 1918/19 Freiheit und Leben. Auch Tausende von Kleinbürgern atmeten auf. Sie waren vielleicht einmal vor Jahrzehnten mit dem Fahrrad ohne Licht gefahren oder hatten an Wirtshausschlägereien teilgenommen. Sie alle galten auf Lebenszeit als vorbestraft. Jetzt war der Alpdruck von ihnen genommen. Man erzählte mir, daß es seit den Tagen des Zusammenbruchs, November 1918, nicht so viele lachende Gesichter in München gegeben hätte wie jetzt. Alle Leute, denen ich in den Gängen des Polizeipräsidiums begegnete, auch die Beamten, schmunzelten. Toller hörte von dem Brand im Polizeipräsidium und kam eigens von der Front bei Dachau angefahren, um nach dem Brand zu sehen. Er war sehr nervös. Ich beruhigte ihn und er überzeugte sich, daß nicht das Polizeipräsidium, sondern nur Papier brannte.

Mehrere Jahre später fuhr ich einmal von Berlin nach Leipzig. Im Gang des D-Zug-Wagens sprach mich ein Mann an, der sich als Münchner vorstellte. Er sagte, daß er mich erkannt habe, und daß viele Münchner sich heute noch freuten über die Vernichtung der überflüssigen Polizeiakten. Diese Maßnahme der Räteregierung sei nicht vergessen worden.

Ich denke täglich an die Opfer der Nazis, besonders an diejenigen, die gleich in den ersten Tagen der Machtübernahme durch Hitler aus ihren Wohnungen und von ihren Arbeitsstellen bei Tag und Nacht weggeholt und in Gefängnisse und Konzentrationslager gebracht wurden. Dann gehen meine Gedanken zu der Aktenvernichtung nach München zurück. Sozialdemokratische Polizeipräsidenten übergaben später den Nazis die Listen und Karteien mit den Wohnadressen und Arbeitsstellen aller Linken, aller Nazigegner, aller Antimilitaristen. Die Nazis hatten es somit nicht schwer gleich am Anfang ihrer Herrschaft eine mögliche Opposition tödlich zu treffen. Die nachrevolutionäre Regierung Bayerns und die ihr ergebene Presse schäumten nach der Niederwerfung der Räteregierung vor Entrüstung über die „barbarische Aktenverbrennung“. Die gleichen „Ordnungsbürger“, die gegen die Zerstörungen von unersetzlichen Kunstwerken in Belgien und Frankreich kein Wort des Protestes gefunden hatten, tobten jetzt über verbranntes Polizeipapier. Die Ordnung war verletzt worden, und zwar von „unbefugter Seite“. Die entsetzlichen Schandtaten der Deutschen im Kriege waren von befugter Seite und stets im Namen der „Ordnung“ ausgeführt worden. Der deutsche Dichter Heinrich Vierordt hatte im Herbst 1914 geschrieben:

»... wenn ich meinem Volk den Sieg dadurch verschaffen könnte, ... (würde ich) alle Kathedralen und Rathäuser der Welt kalten Blutes, ... vom Erdboden vertilgen.«

Ich glaube, es war der erste Ostertag 1919, als wir alle noch einmal gemeinsam zur Familie Rapu eingeladen waren. Budich hatte inzwischen Leviné und Frölich vorgestellt. Wir blieben bis zum späten Nachmittag. Leviné erzählte von seiner Kindheit in Petersburg, von dortigen Persönlichkeiten, die zum Teil auch Frau Rapu bekannt waren. Er erzählte auch von seiner Schul- und Studentenzeit in Wiesbaden und Heidelberg. Nach Ausbruch der ersten Revolution in Russland, 1905, war er dorthin geeilt, um mitzukämpfen. Nach der Niederschlagung wurde er gefangengenommen, durch verschiedene Gefängnisse geschleppt und verbannt. Er konnte aus Rußland flüchten und studierte in Deutschland weiter. Über die Revolution von 1905/06 und über seine Erlebnisse in den zaristischen Gefängnissen, besonders auch über die Greueltaten der berüchtigten „Ochrana“, der Geheimpolizei des Zaren, hatte er unter dem Namen Goldberg in der deutschen sozialdemokratischen Presse berichtet. Das Zentralorgan der Partei, der Vorwärts, die Frankfurter Volksstimme, die Münchener Post und andere Blätter brachten seine Berichte. Das war lange, bevor Leviné die Greueltaten der deutschen Freikorps erleben sollte, die unter dem Protektorat der gleichen Sozialdemokratischen Partei und besonders des „Vorwärts“ geschaffen wurden und deren oberster Befehlshaber ein Sozialdemokrat war. Auf Wunsch Frau Rapus las Leviné aus seiner Erzählung Ahasver vor.

»„Ahasver sprach mit rauher, zitternder Stimme:

Herr ich bin müde! Ich habe genug gesehen, gelitten! ... Ich habe mir selbst viel tausend Mal geflucht, daß ich das Mißlingen deines Werkes ahnen mußte, ahnen in dem nüchternen skeptischen Hirn meines greisen Hauptes ... Herr es ist zu viel ... Ich habe meine Brüder leiden sehen, meine Kinder, jetzt wieder“ ... Ahasver ließ den Kopf sinken, den müden gramdurchfurchtren Kopf ...

Christus schwieg ... Vor ihm lag die weiße Schneefläche ... blutüberströmt ... Christus schwieg.

Dann aber hob er plötzlich den Kopf, fuhr sich mit der Hand über die hohe Stirn.

„Sie haben aber doch an mich geglaubt. Unbewaffnet sind sie hingezogen ... das Kreuz in der Hand ... wie die Kinder ... rein ...“

Dann schwieg er wieder ... Nur Ahasver ließ den Kopf noch tiefer sinken, ungläubig ... traurig

„Ich wollte, du hättest recht ... denn dann wäre ich erlöst ... von den Qualen ... Damals als du vor meiner Tür rasten wolltest, wies ich dich von hinnen, nannte dich einen Betrüger ... da es keine Liebe gäbe ... Und nun muß ich wandern zur Strafe ... ewig wandern ... bis ich an die Liebe glaube ... an die Kraft der Liebe ... voller Erbarmen und ohne Haß ... Ich bin müde vom Wandern, müde vom Warten ... müde vom Zweifeln ... Und ich suche Liebe ... ich sehne mich nach ihr ... schon um Ruhe zu finden ...

Endlich, endlich ... Aber was kann ich dafür, daß meine Augen scharf und durchdringend, daß die Erfahrung der Jahrzehnte sie noch mehr geschärft und daß ich mit Schaudern in die Zukunft sehe ... Herr, es gibt keine Liebe! ... Du sprichst von den Kindern dort im Norden ... aber warte ... auch in ihnen wird der Haß aufflammen, die Wut ... und sie werden Mörder werden und Brandstifter ...“«

Als Leviné dies schrieb, war er ein junger revolutionärer Student, und er empfand die Verfolgungen zuerst als Jude. Erst später – wieder in Deutschland – schloß er sich der deutschen sozialdemokratischen Partei an. Bald natürlich dem linken Flügel. Die Mörder und Brandstifter aber, die sein Ahasver kommen sah, kamen wirklich. Sie kamen aus München.

Der Ring der Freikorpstruppen um München schloß sich. Toller und seine engeren Parteifreunde versuchten nun, Verhandlungen mit der Hoffmann-Regierung in Bamberg zu rühren. Die Hoffmann-Regierung, gestützt von der Reichsregierung, besonders von Noske, lehnte Verhandlungen ab. Sie verlangte die bedingungslose Kapitulation und Auslieferung aller Führer beider Räteregierungen. Gleichzeitig brachten die Unabhängigen Sozialdemokraten in den Konferenzen der Betriebsräte Anträge ein, die den Rücktritt der Regierung Leviné forderten. Zweimal wurde diese Anträge abgelehnt. Am 27. April wurde wiederum von Toller und Genossen der verächtliche Antrag gestellt, daß alle nichtbayrischen „landfremden“ Führer zurücktreten sollten. Nur „echte Bayern“ sollten an die Spitze der Regierung treten. Dieser Antrag wurde angenommen.

Die kommunistische Räteregierung Leviné trat am 27. April zurück. Der Vollzugsrat löste sich auf. Da auch Toller kein „echter Bayer“ war, wurden unbekannte bayrische Betriebsräte gewählt, hinter denen als Schieber – Führer kann man in diesem Fall nicht sagen – die Unabhängigen Toller, Klingelhöfer und andere standen. Macht hatten diese Männer keine. Die Rote Armee blieb von diesen Beschlüssen ausgenommen, die Fronten sollten verteidigt werden. Egelhofer blieb bis zum 30. April Oberkommandierender. Ebenso lange blieb ich im Polizeipräsidium. In der Nacht vom 30. April zum 1. Mai war der Kampf beendet.

In der Bevölkerung waren in den letzten Tagen die schlimmsten Gerüchte verbreitet worden, die die Arbeiter und Soldaten schwer beunruhigten. Es hieß, daß die Freikorpstruppen aller Gefangenen erschlügen oder erschössen. So sollten die Freikorpsleute unter anderen auch zwanzig Sanitäterinnen erschossen haben. Die Gerüchte beruhten auf Wahrheit, nur die genauen Umstände blieben unkontrollierbar. Tatsächlich erschossen die Freikorpstruppen auf ihrem Vormarsch in Starnberg zwölf Arbeiter in Possendorf, drei Sanitäter, im Kloster Schäftlarn, neun Arbeiter. Hier hatten sich zehn Arbeiter verschanzt und einige Zeit Widerstand geleistet. Nachdem einer von ihnen gefallen war, ergaben sich die übrigen neun. Sie wurden sofort an die Wand gestellt und erschossen, obwohl die Angreifer keine Verluste gehabt hatten.

Unter dem Eindruck dieser Gerüchte und Meldungen, die eine Panikstimmung erzeugten, wurden acht Mitglieder eines „Thule-Bundes“ und zwei Freikorpsleute, die aus Berlin gekommen waren, von einem Standgericht im Luitpold-Gymnasium zum Tode verurteilt und erschossen. Diese Erschießungen erfolgten am 29. April, einen Tag vor dem Einmarsch der Noske-Truppen in München. Der Aktionsausschuß der Kommunistischen Partei wußte nichts von diesem Vorfall.

Alle Beteiligten am Standgericht und an den Erschießungen wurden zum Tode verurteilt und erschossen. Unbeteiligte Zuschauer erhielten je sechs Jahre Zuchthaus. Es wurden hier Personen nur deswegen verurteilt, weil sie die Erschießungen nicht verhindert hatten. Hier bejahte das Gericht, die Regierung Hoffmann und der wieder zusammengetretene Landtag eine Kollektivschuld.

Die Erschießungen im Luitpold Gymnasium werden von Historikern und Schriftstellern als „Geiselmord“ bezeichnet. Da einer vom anderen abschreibt, wiederholt jeder die Lüge des anderen. Auch das gab es schon lange vor Goebbels; durch Wiederholung soll eine Lüge zur Wahrheit werden. Diese Schreiber verschweigen dabei die vorausgegangenen Erschießungen von Arbeitern und Sanitätern durch die Freikorps-Truppen. Alle späteren Untersuchungen ergaben, daß es sich hier nicht um „Geiseln“ gehandelt hatte. Dagegen hat sich herausgestellt, daß der „Thule-Bund“ eine Vorläuferorganisation der Nazis war. Bei den verhafteten Mitgliedern des „Thule-Bundes“ waren Stempel und Ausweise der Räteregierung gefunden worden. Es ist niemals untersucht worden, ob und welche Verbrechen mit Hilfe dieser Stempel und Ausweise begangen worden sind, Verbrechen, die vielleicht der Räteregierung unterstellt wurden.

Der Mörder Kurt Eisners, Graf Anton von Arco, Rudolf Hess, Hans Frank, der spätere Generalgouverneur von Polen, Alfred Rosenberg und weitere Gründungsmitglieder der NSDAP sind ebenfalls Mitglieder der „Thulegesellschaft“ gewesen. Am 30. April war ich noch im Polizeipräsidium, als Beamte zu mir kamen und mir über Anrufe berichteten, denen zufolge im Luitpold-Gymnasium geschossen werde. Sie wußten nichts Genaues, alle weigerten sich hinzugehen, um sich über den Sachverhalt zu erkundigen. Da Leviné, Levien und Budich bereits in ihren Versteckwohnungen waren, konnte ich sie nicht erreichen. Sie hatten auch keinerlei Funktionen mehr. Nur in der Redaktion der Roten Fahne wurde noch am Aufruf der Partei zum 1. Mai gearbeitet. Die Redakteure wußten nichts von den Vorfällen.

Um die Mitternachtsstunde des 30. April verließ ich das Polizeipräsidium. Vor dem Tor traf ich Toller, der zu mir wollte. Ich erkannte ihn nicht sofort, er trug eine dunkle Brille. Als ich ihn nach seinem Namen fragte, nahm er die Brille ab und sagte: „Toller!“ Jetzt um Mitternacht wollte er Leviné noch einmal sprechen. Ich sagte ihm wahrheitsgemäß, daß ich den Aufenthalt Levinés und Leviens nicht kenne. Er fragte mich, was jetzt kommen werde. Ich sagte: „Dasselbe was in den Januar- und Märztagen in Berlin passierte.“ „Das werden die Münchner Arbeiter nicht zulassen“, antwortete er. Ich riet ihm, schnellstens in sein Versteck zu gehen und abzuwarten. Wir verabschiedeten uns mit „Auf Wiedersehen“.

Damit war meine Funktion als Kommissar für das Polizeiwesen und Ko-Polizeipräsident von München erloschen. Ich hatte die Funktionen elf Tage inne gehabt. Erst unterwegs nach Norden, auf den einsamen Wegen des Bayrischen Waldes, fiel mir ein, daß ich in diesen 11 Tagen nur zweimal in meinem Zimmer geschlafen hatte und dort auch meine Sachen gelassen hatte. Ich hatte auch nicht daran gedacht, ein Gehalt zu kassieren. Vom Polizeipräsidium ging ich zum Wittelsbacherpalais, wo Albrecht auf mich wartete. Er war in diesen Tagen ein aufmerksamer und kühler Zuschauer gewesen. Axelrod hatte ich nicht wiedergesehen. Er hatte in der Zeit der Leviné-Regierung im Finanzministerium gearbeitet. Sein Beruf war das Bankfach, er war kein „Berufsrevolutionär“.

Am Wittelsbacherpalais wartete außerdem ein Münchner Lehrer, Karl Wichert, auf mich. Er führte Albrecht und mich zu seinem kleinen Haus am Rande der Stadt. Wir mußten jetzt eilen, denn wir hatten noch fast eine Stunde zu gehen. Albrecht und ich krochen in den Hohlraum des Dachgesims unter den Ziegeln. Dort lag Albrecht vier Nächte und Tage, ich fünf. Am Tage kamen wir kurz heraus zum Waschen und Essen. Sonst lagen wir, ohne uns zu rühren, langgestreckt auf dem Bauch. Wir hörten die Gespräche vorübergehender Soldaten und Zivilisten. Albrecht hustete viel, ich mußte ihm ein Tuch vor das Gesicht halten. Freikorpsleute kamen auch in dieses Haus, sie gingen aber nur durch die Zimmer. Karl Wichert und seine Frau waren in der Wandervogelbewegung wohlbekannt. Sie waren parteilose, jedoch am politischen Geschehen sehr interessierte Menschen. Am vierten Tage geleiteten sie zuerst Albrecht zu einem Vorort, von dem aus er auf Umwegen nach Berlin fuhr. Am 5. Mai gingen wir, Karl Wichert, seine Frau und einige Schuljungen und Mädchen, die Wichert bestellt hatte, am frühen Morgen aus der Stadt. Sie begleiteten mich ungefähr fünf Kilometer weit. Dann verabschiedeten sie sich und kehrten um. Ich ging in Richtung Erding weiter. Schon nach einigen Kilometern traf ich auf zwei Gendarmen auf Fahrrädern, die mich anhielten und meine Papiere prüften.

Nach einigen Fragen – woher, wohin – fanden sie mich unverdächtig. Ich umging die Stadt Erding in Richtung auf den Bayrischen Wald. Bei Plattling kam ich über die Isar und bei Deggendorf über die Donau. Die Brücken waren durch Militärposten bewacht. Ich kam ohne Schwierigkeiten durch die Kontrollen.

Hinter Deggendorf nahm mich der Bayrische Wald auf. Auf kaum erkennbaren Waldwegen durchwanderte ich den finsteren, urwaldähnlichen Gebirgswald, an Regen und dem Großen Arber vorbei, durch Täler und über Höhen nach Furth im Wald. Immer in der Nähe der tschechischen Grenze. Ich schlief einige Male in Holzfällerhütten. Im Oberpfälzer Wald hatte ich es schon leichter. Bauernwagen nahmen mich mit, und am Fichtelgebirge vorbei konnte ich auch streckenweise Lokalbahnen benutzen. So kam ich über Hof nach Plauen. Einmal nur, gleich hinter Deggendorf, hatte ich eine Begegnung, die mir gefährlich erschien. Ich aß ein Brot in einem Waldgasthaus, als ein Mann eintrat, den ich sofort als einen Münchner Beamten erkannte. Auch er erkannte mich, blieb einen Moment stehen, drehte sich um und ging wieder hinaus. Auch ich verließ das Haus. Der Beamte hat die Begegnung wahrscheinlich nicht gemeldet. Ich bemerkte keine Verfolger. Von Plauen nahm ich einen Personenzug nach Leipzig. Es war der 10. Mai als ich frühmorgens in Leipzig eintraf. Das Datum habe ich niemals vergessen, denn zur gleichen Zeit als mein Zug im Hauptbahnhof einfuhr besetzten Truppen des Generals Maerker den Bahnhof. Wiederum hatte ich das Glück, daß in dem Augenblick auf dem Nebengleis ein Vorortzug einfuhr, dessen Reisende nicht kontrolliert wurden. Ich kam mit den Passagieren des Vorortzuges durch die Sperre. Gepäck hatte ich nicht, nur einen Umhängebeutel. Ich ging zu Verwandten von Frölich, die mir für einen Tag und eine Nacht Unterkunft besorgten. Am folgenden Tag glich Leipzig einem Heerlager. Es waren weitere Truppen angekommen, die die ganze Stadt besetzt hielten. Ich mußte weiter. Mit der Straßenbahn erreichte ich einen Vorort, von wo aus ich mit einem Personenzug am 12. Mai in Berlin eintraf.

Ich glaube, daß ich ein Nachwort zu München schuldig bin. Die hier berichtete Episode soll keine Geschichte der Bayrischen Räteregierung sein; ich zähle die Ereignisse nicht vollständig auf. Es wirkten auch weit mehr Personen mit. In meinen Erinnerungen kann ich nur diejenigen erwähnen, mit denen ich zu tun hatte. Die Geschichte der Bayrischen Räterepublik schrieb Paul Frölich unter dem Namen Paul Werner noch im gleichen Jahr 1919. Trotz seiner Kürze ist sie die klarste und auch dokumentarisch vollständigste Darstellung der Ereignisse in Bayern des Frühjahr 1919. Der Vorsitzende der KPD, Paul Levi, veröffentlichte unmittelbar nach ihrer Niederlage in der theoretischen Zeitschrift der Partei Die Internationale einen Artikel unter dem Titel Die Kehrseite. Darin schrieb er ungefähr so, wie er sich in der Unterredung in Leipzig geäußert hatte: die Partei dürfe sich ihre Politik nicht von anderen Kräften aufzwingen lassen.

Die Mord- und Plünderungsfreiheit der Freikorpstruppen nach dem Einmarsch in München ist oft geschildert worden. Die im Weltkrieg geschlagenen Truppen durften sich jetzt austoben. Nach amtlichen Angaben wurden vom 1. bis 8. Mai 557 Männer und Frauen erschossen oder erschlagen. Auch diese Zahlen sind unglaubwürdig. Es sind noch weit mehr Menschen umgebracht worden. So sind zum Beispiel 42 russische Kriegsgefangene in einer Kiesgrube bei Erding erschossen worden, die in den amtlichen Zahlen nicht enthalten sind. Diese Russen waren völlig unbeteiligt, sie hatten bei Bauern gearbeitet, vielleicht wußten die meisten von ihnen nicht einmal von der Revolution in ihrer Heimat.

Das Standrecht wurde erst aufgehoben, als Freikorpsleute eine Versammlung eines katholischen Gesellenvereins überfielen und die einundzwanzig anwesenden Mitglieder niedermetzelten. Im Münchner Vorort Perlach denunzierte ein Pfarrer zwölf Arbeiter, die keine fleißigen Kirchgänger waren. Alle zwölf wurde von Söldnern des Freikorps „Lützow“ erschossen. Die Erschossenen waren Familienväter, kein einziger war Kommunist. Der Sozialdemokrat Noske telegraphierte an den kommandierenden General der Freikorps:

»Für die umsichtige erfolgreiche Leitung der Operation in München spreche ich Ihnen meine volle Anerkennung aus und der Truppe herzlichen Dank für ihre Leistung.

Der Oberbefehlshaber, Noske, Reichswehrminister.«

Auf die Ergreifung Levinés setzte die Regierung Hoffmann eine Belohnung von 40.000 Mark aus. Leviné wurde durch Schwätzerei verraten. In der Zelle des Polizeigefängnisses wurde Leviné mit einer Kette an die Wand geschmiedet. Die Zelle wurde stundenweise offen gehalten und Münchner Bürger kamen, um ihn zu sehen. So hatte die deutsche Regierung auch die Staatsmänner der Entente den Bürgern zeigen wollen, wenn sie den Krieg gewonnen hätte ...

Frau Rapu hatte Leviné angeboten, in ihrer Wohnung Zuflucht zu nehmen. Doch ließ Leviné sich überreden, in eine andere Wohnung zu gehen. Frau Rapus Wohnung blieb unbelästigt. Budich und Frölich konnten von hier aus München verlassen. In der Gerichtsverhandlung wollte der Staatsanwalt dem Revolutionär Leviné Feigheit vorwerfen, weil er sich verborgen gehalten hatte. Als Antwort lud Leviné den Staatsanwalt ein, bei seiner Erschießung anwesend zu sein. Niemand starb so tapfer wie Eugen Leviné! Seine Totenmaske zeigt das triumphierende Lächeln eines großen Menschen, der glaubte, auch noch durch seinen Tod eine Mission zu erfüllen. In seinem Schlußwort hatte Leviné gesagt: „Wir Kommunisten sind Tote auf Urlaub.“ Trotzki dagegen hatte nach der Niederlage der ersten russischen Revolution von 1905 dem Staatsanwalt vor Gericht geantwortet: „Wir werden alle überleben.“

Das Todesurteil gegen Leviné war ein Justizmord, ein Racheurteil. Die Regierung Leviné war nach der Abstimmung des Betriebs- und Arbeiterrätekongresses am 27. April zurückgetreten. Die Erschießungen der Thulebund-Leute erfolgte am 29. April, als Leviné bereits in seiner Versteckwohnung war. Leviné, Levien, Budich, Frölich waren Intellektuelle und Arbeiterpolitiker, aber keine bayrischen Messerstecherpolitiker. Ich las in einer „offiziösen“ Schrift, daß die Thulebund-Leute die Stempel von Beamten erhalten hatten, die in ihren Ämtern geblieben waren. Das ist wieder ein Beweis mehr dafür, daß es für Revolutionäre klüger ist, die Verwaltung einige Zeit auf das nötigste zu beschränken, als feindlich gesinnte Beamte im Amt zu lassen.

Max Levien konnte nach Österreich entkommen. Die österreichische Regierung lehnte ein Auslieferungsgesuch der deutschen Regierung ab. Drei Jahre später, im Jahre 1922, sah ich Levien und seine Gefährtin in Moskau wieder. Er lehrte als Professor der Naturwissenschaften an der Moskauer Universität. In der Zeit der stalinistischen Genossenmorde ist er verschollen. Vom Tituskopf erhalte ich von Zeit zu Zeit Grüße. Sie lebt im Süden Europas. Ihre kurzen Mitteilungen zeugen von einer immerdauernden Freundschaft und von einem immerwährenden Gedanken an die gemeinsamen Freunde in München.

Budich werde ich noch einige Male erwähnen. Wir arbeiteten noch viel zusammen. Als die verfolgende Polizei ihm zu nahe auf den Fersen war, verließ er im Jahre 1922 Deutschland und wurde Direktor einer russischen Außenhandelsgesellschaft in Wien und Moskau. Auch er wurde unter Stalin verhaftet. Die Identität Werner/Frölich wurde nicht entdeckt. Frölich wurde Reichstagsabgeordneter. Wir sahen uns oft im Laufe der Jahrzehnte, bis ich im Jahre 1953 in Frankfurt am Main an seinem Sarg stand. Auch von ihm wird noch zu berichten sein.

Frölich schrieb in seiner Geschichte der Bayrischen Räterepublik:

»Im allgemeinen wird die Arbeiterschaft aus den Münchner Erfahrungen lernen müssen, daß sie jeden Putsch bezahlen muß mit ihrem Herzblut. Sie wird sich endlich klar darüber werden müssen, was ein Putsch ist.«

Die Arbeiterschaft nahm die Lehre an, die Kommunistische Partei dagegen nicht. Die immer stärker werdende Konterrevolution, das Anwachsen der Militärverbände, die Nazibewegung, die ideologische Vorbereitung des Revanchekrieges, die wirtschaftliche Verelendung zwangen der KPD ebensosehr eine aggressive Politik auf wie die Solidarität mit der schwer um ihre Existenz kämpfende Sowjetmacht.

Ernst Toller wurde ebenfalls durch Schwätzerei verraten und zu fünf Jahren Festung verurteilt. Er verbüßte die fünf Jahre bis auf den letzten Tag, Ich sah Toller in Berlin wieder, nach 1933 auch in Zürich, wo er an seinen Erinnerungen Eine Jugend in Deutschland arbeitete. Er gab mir dort das Manuskript zu lesen. Toller schilderte seine Rolle in den bayrischen Ereignissen von 1918–1919 sehr subjektiv. Das ist in einer Autobiographie sein Recht. Ich gebrauche das Wort „Rolle“ absichtlich. Tollers Wirken war ein Gastspiel, und er hat es später auch nicht anders aufgefaßt. Mit Gastspielen aber wird in der Welt nichts geändert. Später trafen wir uns in London, und in Paris saßen wir im Café Weber, nahe der Madeleine, mit den beiden Herausgebern des Neuen Tagebuchs, Leopold Schwarzschild und Joseph Bomstein, zusammen und sprachen über den bevorstehenden Weltkrieg. Toller fuhr nach New York weiter. Politische und private Mißerfolge ließen den weichen Mann verzweifeln. Er ging 1939 in den Freitod.

Hart traf die Rache der vereinigten Sozialdemokraten und Bürger auch die beiden Pazifisten-Anarchisten Mühsam und Landauer. Im Kriege hatten deutsche Schriftsteller geschrieben, daß Pazifisten schlimmer seien als die Pest, und der Begriff „Anarchist“, der für sie die Bejahung des Prinzips der Staats- und Gewaltlosigkeit ausdrückte, wurde in Deutschland in „Bandit“ umgelogen. Erich Mühsam wurde zu 45 Jahren Festung verurteilt. Er wurde nach mehreren Jahren entlassen. Die Nazis rächten sich ein zweites Mal. Mühsam wurde im Jahre 1933 in das Konzentrationslager Oranienburg verschleppt und dort 1934 ermordet. Durch seine pazifistischen Gedichte, besonders durch sein berühmtes Kriegslied hatte Mühsam die Wut der Militärs auf sich gezogen.

Der Philosoph und Schriftsteller Gustav Landauer wurde im Gefängnis Stadelheim zuerst von einem Offizier mit dem Stiel seiner Reitpeitsche halb tot geschlagen, dann wurde der am Boden Liegende von einem Unteroffizier erschossen. Dies geschah in Gegenwart von Zeugen; trotzdem wurde das eingeleitete Verfahren gegen die Mörder eingestellt. Nach der Machtübernahme der Nazis wurde das Grab Landauers auf dem Münchner Friedhof aufgerissen und die Gebeine in einem Sack der jüdischen Gemeinde Münchens zugeschickt.

Mein Partner Mairgünther wurde für drei Jahre ins Gefängnis geschickt.

Der bayrische Landtag bestätigte die Regierung Hoffmann Ende Mai noch einmal im Amt, aber zehn Monate später wurde sie im Kapp-Lüttwitz-Putsch endgültig davongejagt. Die Putschisten siegten in Bayern. Wieder sandte der Sozialdemokrat Auer seine Gratulation an den neuen Diktator Kahr. Kahr hat es während seiner Amtszeit auch einmal gewagt, seine Position gegen Hitler zu verteidigen. Das vergaß ihm Hitler nicht. Nach der Machtübernahme durch Hitler wurde Kahrs Leiche mit eingeschlagenem Schädel außerhalb Münchens aufgefunden.

Der sozialdemokratische Ministerpräsident Hoffmann, der das Todesurteil gegen Leviné bestätigte, ist derselbe Hoffmann, der als pfälzischer Separatistenführer im Oktober 1923 die Pfalz von Deutschland lösen wollte. Der Meuchelmörder Graf Arco erhielt in der Weimarer Republik den Posten eines Direktors bei der staatlich subventionierten „Deutschen Lufthansa“. Auch ein Adolf Hitler meldete sich und behauptete, er habe einen „roten Eindringling“, der seine Wohnung betreten wollte, mit seinem Karabiner abgewehrt. Jedoch ist festgestellt, daß Hitler seit Februar 1919 zur 2. Kompanie des Infanterie-Regiments Nr. 2 gehörte und in der Kaserne wohnte. Erst ab 10. Mai war Hitler als „V-Mann“ (Spitzel) dieses Regiments tätig. Sonst weiß man nichts von Hitlers Verhalten während der Zeit vor der Ermordung Eisners, Februar 1919, bis zur Niederwerfung der Räterepublik, 1. Mai 1919.

Wie plump gefälscht und gelogen wird, mag folgendes Beispiel bezeugen. Der englische „Historiker“ Wheeler-Bennet schreibt in seinem Buch Die Nemesis der Macht, Düsseldorf 1954, auf Seite 179:

»Sein (Hitlers) Bataillon wurde in eine Infanteriekaserne nach München verlegt. Hier stellten am 2. Mai 1919 die Kommunisten in einem letzten Blutrausch vor dem Eintreffen der Befreiungstruppen jeden zehnten Mann an die Wand. Hitler entging dieser Dezimierung und einige Tage später tat er seinen ersten Schritt auf das Feld politischer Tätigkeit«.

Dann folgte eine Fußnote:

»Konrad Heiden, Der Führer, Hitlers Aufstieg zur Macht, London 1945, S. 76«.

Ich habe die deutsche und die amerikanische Ausgabe von Heidens Hitler-Biographie vor mir. Die von Wheeler-Bennet zitierte Stelle ist in beiden Büchern nicht enthalten. Der damalige Journalist Konrad Heiden lebte vor seiner Emigration in München und arbeitete an einer Zeitung. Heiden weiß, daß am 2. Mai 1919 München bereits von den Noske-Freikorps besetzt war und daß die zitierte „Dezimierung“ nicht erfolgt ist. In keinen Polizei- oder Militärakten ist etwas davon bekannt.

Ich möchte noch den Arzt Professor Sauerbruch erwähnen. Nicht weil er den Meuchelmörder Graf Arco in seine Klinik aufnahm, sondern weil seine Autobiographie in Deutschland eine ungewöhnlich hohe Auflage erreichte. Sauerbruch oder der Journalist, der das Buch schrieb, erzählt eine hochdramatische Geschichte von seiner (Sauerbruchs) Verhaftung, Verurteilung zum Tode und Befreiung in letzter Minute durch einen russischen Studenten. Festgestellt ist, daß Sauerbruch niemals verhaftet war, daß seine Geschichte frei erfunden ist.

Auch der päpstliche Nuntius Pacelli, der spätere Papst Pius XII., lebte während der Rätezeit in München. Mehrere Jahre nach den Ereignissen behauptete er, auch bedroht worden zu sein. „Echte Russen“, sagte Pacelli, hätten an der Spitze gestanden und jeder Gedanke des Rechts, der Freiheit und der Demokratie“ sei unterdrückt gewesen. Nun, Gedanken konnten nicht unterdrückt werden, aber war der Gottesdienst irgendwie beeinträchtigt werden? Nein! Aber die Ermordung der Mitglieder des katholischen Gesellenvereins durch Freikorpsangehörige erwähnte Pacelli gar nicht. Während der Tage der Räterepublik wurden in München Flugblätter verteilt, die vom nordbayrischen Freikorps „Franken“ hergestellt waren, in denen es hieß: „Nichts ist ihnen mehr heilig, nicht einmal die deutsche Frau. Darum greift alle zu den Waffen, um den tierischen Fanatismus dieser Bestien niederzukämpfen.“ Flugblätter ungefähr gleichen Inhalts wurden bereits in den Januartagen 1919 in Berlin und anderen Städten verbreitet. Wir lachten über diese Propaganda. Doch unter Hitler wurde in München die Organisation „Lebensborn“ gegründet. Deutsche Frauen und Mädchen wurden in dieser Organisation wirklich zum Vieh herabgewürdigt. Da gab es keine Scham, kein Schaudern. Deutsche Frauen und Mädchen meldeten sich freiwillig in Scharen.

Nach der Niederwerfung der Bayrischen Räterepublik folgten militärische Aktionen der Freikorps gegen andere Großstädte. Wo noch Arbeiter- und Soldatenräte oder auch republikanisch-demokratisch gesinnte Truppenverbände bestanden, wurden diese aufgelöst. Einer der Generäle und Führer der Freikorps schrieb später:

»In jenen Tagen war das ganze Reich ein einziger Kampfabschnitt der Freikorps, in welchem sich Gefechte verschiedenen Ausmaßes entwickelten.«

Ich aber hatte gar nicht das Gefühl, sinn- und nutzlos gehandelt zu haben. Die Kämpfe in Bayern banden die Freikorpstruppen, die sonst zur Bekämpfung der Revolution in Sowjetrußland verwendet worden wären.

 


Zuletzt aktualiziert am 11. Januar 2023