Karl Renner

Politische und ökonomische Solidarität

(1. Juli 1910)


Der Kampf, Jg. 3 10. Heft, 1. Juli 1910, S. 446–449.
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Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Ebenso starke Erregung wie die deutschen Sozialdemokraten anlässlich der Separatistenbewegung empfanden, hat sich unserer tschechischen Genossen bemächtigt, als im Budgetausschuss die Sozialdemokraten gegen den Antrag Stanĕk stimmten, der eine staatliche Subvention für die Wiener Komensky-Schule forderte. Diese Erregung der Tschechen ist auffällig, weil sie sich gegen die Vorgänge richtet, die bisher als selbstverständlich und prinzipiell richtig allgemein anerkannt waren: Ist sie berechtigt, so weist sie auf einen Fehler in unserem Programm hin. Ist aber unser Programm in Ordnung, so beruht diese Bewegung darauf, dass viele tschechische Genossen über unser Programm mangelhaft unterrichtet sind.

Zur Vermeidung von Missverständnissen will ich von vornherein betonen: Ich kenne und würdige den grossen Notstand der Wiener tschechischen Arbeiterschaft und habe es niemals unterlassen, die deutschen Arbeiter, die ja niemals so unmittelbar fühlen können, was die tschechischen schmerzt, wie diese selbst, auf die ernste, wahre und schmerzliche Not der tschechischen Arbeiter aufmerksam zu machen. Das landläufige Schlagwort: „sie sollen Deutsch lernen!“ ist heute ebenso kindisch wie die bekannte Serenissimusantwort bei der Hungersnot: „Begreife nicht, warum sie hungern, sollen die Leute sich doch was zum Essen kaufen.“ Wo die Tschechen in Massen beisammenwohnen — das ist heute an vielen Punkten von Wien der Fall – berühren sie sich nicht innig genug mit der deutschen Mehrheit, um deren Umgangssprache rasch genug anzunehmen. Was aber die Schule der Kinder betrifft, haben sich die Voraussetzungen einer Assimilation durch die Schule im letzten Jahrzehnt wesentlich verschoben. Nicht nur bringen tschechische Zuwanderer Kinder verschiedener Altersstufen, von denen das eine etwa zwei, das andere drei, ein drittes alle tschechischen Klassen absolviert hat, mit nach Wien, die der Erlernung der anderen Sprache ganz verschiedene Widerstände entgegensetzen und die elterliche Stube in einen babylonischen Turm im kleinen verwandeln; noch schlimmer wirkt die Tatsache, dass in Wien heute Tausende tschechische Arbeiterfamilien leben, die als echte, rechte Proletarier nicht wissen, ob die Konjunktur ihnen ein Bleiben in Wien vergönnen oder sie in kurzer Zeit zur Rückwanderung zwingen wird. Ich selbst habe Familien auf der industriellen Wanderung zwischen Witkowitz, Prag, Wien und einem kleinen Industrieort Niederösterreichs getroffen, deren Kinder abwechselnd in deutschen und tschechischen Schulen gesessen sind, zum Teil keinen Unterricht mit Erfolg genossen, zum Teil national auseinander gerissen wurden, so dass die einen deutsch, die anderen tschechisch geworden sind. Familienväter, welche solches erfahren haben, müssen national verbittert werden und sie darum des Chauvinismus zu zeihen, wäre herzlos. Die Minoritätsschulfrage ist eine echte Not geworden und der deutsche Genosse darf sich durch ein oberflächliches Urteil nicht darüber hinwegzutäuschen versuchen, wie berechtigt sein Widerwille gegen die bekannten nationalistischen Uebertreibungen auch sein mag.

Nicht diese Verbitterung der durch die Not betroffenen tschechischen Genossen, etwas anderes fordert die Kritik.

Es ist allbekannt, dass sowohl die Sozialdemokratie im ganzen, wie ihre parlamentarische Vertretung den Grundsatz der nationalen Autonomie in sprachlichen Dingen akzeptiert hat. In nationalen Dingen hat sowohl der deutsche wie der tsechische Klub volle Freiheit der Abstimmung nach nationalen Interessen. Von dieser Freiheit haben die Tschechen den reichlichsten Gebrauch gemacht, ohne dass die Deutschen jemals Rekriminationen erhoben haben.

Besteht dieser Grundsatz zu Recht, berufen sich die Tschechen selbst darauf, so muss die Erregung der tschechischen Genossen überraschen. Offenbar sind sie über eine grundlegende Einrichtung der Fraktion von ihren Vertrauensmännern nicht ausreichend unterrichtet worden.

Diese Freiheit der Abstimmung ist anerkannt mit dem Zusatze: „jedoch solle auch in nationalen Angelegenheiten durch vorherige Verhandlungen ein gemeinsames Vorgehen angebahnt werden“. Wenn also unsere tchechischen Genossen einen nationalen Antrag zu stellen wünschen, haben sie Unterhandlungen zur Herstellung eines gemeinsamen Vorgehens einzuleiten. Der deutsche wie der tschechische Sozialdemokrat ist verpflichtet, mit dem Genossen der anderen Nation ein Einvernehmen zu suchen. Und so wurde es auch immer gehalten.

Diese Rücksicht schuldet der Genosse dem Genossen. Aber niemals ist ein deutscher Genosse verpflichtet, für den Antrag eines tschechischen Agrariers oder Klerikalen zu stimmen, wer es sei und was der Antrag betreffe. Genau so umgekehrt: Dieser Antrag Stanĕk ging die deutschen Sozialdemokraten ebensowenig an, als ein Antrag Schraffl oder Zuleger die tschechischen anginge. Wir haben als Sozialdemokraten nur untereinander Verpflichtungen, nicht aber Dritten gegenüber und am allerwenigsten als nationale Gruppen den bürgerlichen Nationalisten anderer Nation gegenüber!

Die nationale Autonomie, auf der unsere Verbandsverfassung beruht, garantiert jeder Nation die freie Selbstentschliessung in nationalen Dingen und bindet alle Teile nur an die Pflicht, das Einverständnis miteinander zu suchen. Also ist es Pflicht der tschechischen Vertrauensmänner, ihre Wählerschaft auf diese Freiheit der Entschliessung, auf die sie selbst Wert legen, ausdrücklich aufmerksam zu machen. Für Vorwürfe war also absolut kein Raum.

Wenn sie aber dennoch erhoben wurden, so weist das offenbar darauf hin, dass nunmehr auch in den Reihen der tschechischen Genossen das Bedürfnis nach grösserer Solidarität, nach Solidarität auch in nationalen Dingen rege wird. Anders ist dieses Verhalten gar nicht zu verstehen, als dass die politische Solidarität der Arbeiterklasse auch nicht vor nationalen Streitfragen halt machen solle! In der Tat wurde auch darin ein Einverständnis gesucht und gefunden, der Antrag Adler über die Minoritätsschulfrage wurde durch die Sozialdemokraten aller Zungen gestellt und beschlossen. Durch ihn kam zum erstenmal im Parlament die Idee der Konstituierung der Nationen und des allgemeinen Minoritätenschutzes zur Abstimmung auf Grund eines einstimmigen Votums von Vertretern aller Nationen: Das allein ist ein geschichtliches Ereignis für Oesterreich.

Für die Sozialdemokraten dieses Landes aber ist es doppelt lehrreich: Wir haben in der Woche vom Antrag Stanĕk bis zum Antrag Adler nicht nur die Verderblichkeit des Gegeneinanderstimmens und den hohen Nutzen der Solidarität kennen und schätzen gelernt. Wir haben noch mehr erfahren: Es waren insbesondere unsere tschechischen Genossen, welche diesmal mit solcher Heftigkeit das Ungenügende der nationalen Sonderung in nationalen Angelegenheiten betont und die politische wie die nationale Solidarität leidenschaftlich gefordert haben! Die Sozialdemokraten aller Nationen waren mit ihnen darin rasch und gerne einverstanden!

In schreiendem Widerspruch dazu aber steht, dass diese selben tschechischen Genossen die Solidarität, die volle und unbeschränkte Solidarität, auf einem anderen Gebiete nicht gleich hochachten, auf dem Gebiete der wirtschaftlichen und sozialen Aktion, in Gewerkschaften und Genossenschaften, also dort, wo sie das Programm vorschreibt, das sie in nationalen Angelegenheiten nicht fordert. Dieses Verhalten ist mehr als widerspruchsvoll! Denn es liefe auf folgende Argumentation hinaus, die wir etwa aus dem Munde eines tschechischen separatistischen Gewerkschafters vernehmen könnten:

„Ich tschechischer Arbeiter kann mich zwar mit dem deutschen und polnischen Arbeiter, der in derselben Werkstatt, in derselben Branche, in demselben Staate mit mir arbeitet, vermöge der nationalen Autonomie nicht gemeinsam organisieren;

aber trotz dieser nationalen Autonomie verlange ich, dass deutsche und polnische Arbeiter in nationalen Angelegenheiten in proletarischer Solidarität gemeinsam mit mir stimmen.“

Diese Argumentation ist offensichtlich absurd, zum mindesten das direkte Gegenteil dessen, was wir unter der proletarischen Internationalität allezeit verstanden, was wir in der Formel ausgesprochen haben: Gemeinsam in wirtschaftlichen und sozialen, autonom in nationalkulturellen Fragen. Unter der Hand wäre die Regel in das Gegenteil verkehrt: autonom (selbstherrlich, souverän) in wirtschaftlichen, gemeinsam in nationalen Fragen! Damit aber kämen wir weit, weit zurück hinter die bürgerlichen Nationalisten, welche als Agrarier einheitlich in der agrarischen, als Industrielle gemeinsam in der industriellen Zentralstelle organisiert sind.

Eine Partei handelt im Drange des Tages nicht nach theoretischen Schablonen, sondern eben aus der Not der gebietenden Stunde; lächerlich ist es, diese Handlungen mit Lob oder Tadel regulieren oder nur regalieren zu wollen. Wohl aber müssen wir uns selbst und die Tatsachen prüfen, um aus der einen Erfahrung für andere Fälle zu lernen. Die Erfahrung der jüngsten Tage in- und ausserhalb des Parlaments zeigt uns deutlich, dass kein nationales Proletariat, auch das tschechische nicht, in Separation, ohne die politische Solidarität aller übrigen Arbeiter seine Interessen schützen kann; dass ferner die politische Solidariät ohne die ökonomisch-soziale nicht existieren kann. Auf die Dauer ist die politische ohne die nationale, die nationale ohne die politische Internationalität nicht zu halten. Selbst die nationale Autonomie ist – das hat die Erregung der tschechischen Genossen selbst dargetan — nur ein Gliederungssystem innerhalb der Sozialdemokratie, welches die Solidarität nach aussen nicht aufheben darf!

Weil die politische Aktion erst im Parlament der einen Regierung gegenüber einsetzt, ist die nationale Sonderorganisation möglich bis hart an die Regierungsbank — vor der Regierungsbank müssen schon die Proletarier aller Nationen eins sein.

Die wirtschaftliche Aktion aber stösst auf den Absolutismus des Unternehmers schon in der Werkstätte: dort ist der Zahltisch des Unternehmers in Wahrheit die Regierungsbank und also müssen, wenn der ökonomische Kampf erfolgreich sein soll, alle Arbeiter vor ihr eins sein: Wer innerhalb derselben Mauern arbeitet, muss in derselben Organisation stehen und die nationale Autonomie kann auch dort nur Gliederungssystem innerhalb dieser Organisation sein.

Wer ohne Leidenschaft die wirren Ereignisse der letzten Monate durchdenkt, wird aus ihnen rasch lernen und viel unnützes Lehrgeld ersparen. Sowohl die deutschen wie die tschechischen Genossen haben alle Ursache, eiligst nach dem Rechten zu sehen. Der Gewerkschaftskonflikt darf sich nicht einfressen, das akute Uebel darf nicht chronisch werden, bis der reichliche Schaden verspätete Klugheit schafft. Ob eine Reichskonferenz oder der zu schwerfällige Apparat des internationalen Parteitages das Kompromiss zu suchen unternehmen soll, jedenfalls muss der Weg des Ausgleichs betreten werden. Jeder gewonnene Tag ist ein ersparter Schaden.

Dass es ein Kompromiss gibt, offenbart sich immer sichtbarer. Für unsere Gewerkschaftsorganisation hatten wir keine anderen Muster als jene Englands und Deutschlands – sie reichen für unser vielsprachiges Land nicht aus, kein Wunder, dass in den entlehnten Formen die achtsprachige Organisation Reibungen findet. In der Gewerkschaftsorganisation muss die volle internationale Union und Solidarität bis herab in die Werkstätte garantiert sein, aber innerhalb dieser Schranke muss die allseitige nationale Autonomie al Gliederungssystem Berücksichtigung finden. Dass dies möglich ist, beweist der Vorschlag Otto Bauers. [1]

Wer sich in die Seele eines Gewerkschafters hineindenkt, kann sich die Bedenken, die Abneigung, ja den Widerwillen vorstellen, womit dieser die Kompliziertheit des gewerkschaftlichen Apparates beurteilt, den Bauer zeichnet. Unwillkürlich empfindet man Grauen davor, dass schlichte Arbeiter, den Kopf voll der nächsten materiellen Sorgen, sich eine bundesstaatliche Verfassung mit einer so vielfachen Teilung der Gewalten und Kompetenzen geben sollen. Aber es ist der ganze Jammer Oesterreichs, der uns anfasst, dem wir nicht entrinnen können, weil wir in dieses Land hineingeboren sind. Das ist ja unser Schicksal auch sonst: wir müssen, um leben und kämpfen zu können, für uns alle die Frage lösen, die der Staat und das Bürgertum ungelöst gelassen; wir müssen uns selbst die Verfassung erdenken und geben, die Oesterreichs Staatslenker dem Staat hätten längst schaffen sollen. Wir mussten und müssen diese ungeheure Last, die uns im Grunde gar nichts angeht, aus dem Weg räumen, um zu unseren eigenen Sorgen und Zielen zu gelangen! So war’s mit dem Wahlrecht, so ist’s mit den politischen und nationalen Problemen des Staates: wir können nur dann und insoweit zu unseren sozialen Aufgaben kommen, als wir diese Hindernisse beseitigen!

So wird denn der Gewerkschafter von dem Ideal einer einfachen schlagfertigen Organisation ebenso viel nachlassen müssen als der Separatist von dem Trugbild einer nationalen Sonderorganisation. Jener wird eine schwerfällige Einheit der Zersplitterung, dieser eine machtvolle Verbindung der autonomen Zwergorganisation vorziehen, beide werden den Frieden gewinnen und bloss unhaltbare, doch Zwietracht zeugende Vorstellungen opfern. So darf man denn hoffen, dass die jüngst bewährte politische Solidarität die ökonomische Verständigung fördert und dass in der Folge auch die neu befestigte ökonomische Solidarität die politische Gemeinbürgschaft der Arbeiter aller Zungen bestärkt. Vieles und Grosses vermag die geeinigte Arbeiterklasse Oesterreichs, stark und siegreich erwies sie sich gegen Staat und Kapitalistenklasse. Vieles und Grosses wird sie noch erringen und vollbringen, wenn sie nie vergisst, dass die ökonomische und politische Solidarität zusammengehören, dass die eine nicht sein kann ohne die andere!

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Anmerkung

1. Otto Bauer, Krieg oder Friede in den Gewerkschaften? Soeben bei Ignaz Brand erschienen.


Zuletzt aktualisiert am 6. April 2024