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Der Kampf, Jg. 3 Heft 3, 1. Dezember 1909, S. 97–103.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.
Ein seltenes Jubiläum eines Buches: Soeben erscheint Bebels Die Frau und der Sozialismus in fünfzigster Auflage! Der Bücherfreund wird in der Weltliteratur kaum eine wissenschaftlich-politische Schrift aufstöbern, die bei des Verfassers Lebzeiten binnen 30 Jahren das halbe Hundert der Auflagen erreicht hätte. Mit freudigem Stolz begrüsst der deutsche Sozialdemokrat diesen beispiellosen Erfolg, begrüsst er die goldene Ausgabe seines Lieblingsbuches.
„Bücher haben ihre Geschichte“, mit diesem Satz beginnt Bebel die Vorrede zur neunten Auflage, die mit dem 24. Dezember 1890 datiert ist. Das Buch hatte schon damals seine Geschichte, die mit der Leidens- und Heldengeschichte des deutschen Proletariats innig verknüpft ist. Es war entworfen und geschrieben worden im Gefängnis: Die Bismarcksche Reaktion hatte den Agitator Bebel auf zwei Jahre stumm zu machen versucht – sie schuf ihm nur zwei Jahre Musse, auf dass das geschriebene Wort zu vielen Tausenden zugleich spreche. Als nach jahrelangen Vorbereitungen die erste Auflage unter dem Titel Die Frau und der Sozialismus erscheinen sollte, da drohte das im Herbst 1878 hereinbrechende Sozialistengesetz die jahrelangen Vorarbeiten zu vernichten und die Veröffentlichung zu vereiteln. Waren doch sogleich alle Organisationen der Partei zerstört, ihre gesamten Schriften unterdrückt! Jedes neue Druckerzeugnis, das den Sozialismus propagierte, verfiel sofort und unrettbar dem Verbot. Trotzdem entschloss sich Bebel zur geheimen Herausgabe (1879) und so wurde die erste, noch in Deutschland hergestellte Auflage im engsten Parteikreise vertrieben, ohne dass das sofortige sozialistengesetzliche Verbot des Berliner Polizeipräsidiums viel schadete. Für die zweite Drucklegung fand sich aus Furcht vor Denunziation durch Jahre kein Drucker und kein Verlag. Erst im Jahre 1883 konnte mit der neuen Auflage begonnen werden; damit der Drucker im Falle der Denunziation von dem Verdacht, wissentlich eine verbotene Schrift nachgedruckt zu haben, befreit werde, musste der Titel geändert und das verdächtige Wort Sozialismus aus ihm gestrichen werden: In der harmlosen Verkleidung Die Frau in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft erschien das stark vergrösserte, zum erstenmal in Kapitel geteilte Werk im Verlag der mittlerweile in Zürich-Hottingen gegründeten Volksbuchhandlung mit der Zeichnung: Zürich, Verlagsmagazin (J. Schabelitz) 1883.
„Indes wurde“ – so erzählt Bebel selbt in der Vorrede zur neunten Auflage – „das Buch sofort verboten und damit waren die Verleger auf den geheimen Vertrieb verwiesen. Obgleich nun dieser grosse Schwierigkeiten hatte, gelang die Organisation des Vertriebes vortrefflich und erlebte das Buch, zu meiner eigenen Ueberraschung, eine Auflage nach der anderen und wurde in Massen verbreitet. Dabei fielen freilich auch eine Anzahl Sendungen, darunter einige von grösserem Umfang – bis zu 200 Exemplaren – der Polizei in die Hände und gaben Veranlassung zu Prozessen und Verurteilungen. Aber diesem Schaden stand auch ein unerwarteter Nutzen gegenüber. Die konfiszierten Exemplare sollen nur zum kleinsten Teil ihrer gesetzlichen Bestimmung, vernichtet zu werden, zum Opfer gefallen sein, dagegen sollen sie häufig in die Hände von Polizei- und Gerichtsbeamten gewandert und nicht selten auch in die Hände von deren Frauen gekommen sein. So gelangten sie zwar in Hände, für die sie nicht bestimmt waren; sie erreichten aber auch hier ihren Zweck, indem sie das ‚sozialistische Gift‘ in jene Kreise verbreiteten. Eine nicht geringe, allerdings unfreiwillige Reklame,“ bemerkt Bebel humorvoll, „machte auch Herr v. Puttkammer als preussischer Minister des Innern dem Buch durch eifrige Zitierung im deutschen Reichstag, was die Nachfrage nach der verbotenen Frucht auch in nichtsozialistischen Kreisen steigerte“. Im Jahre 1885 erschienen die ersten Uebersetzungen in London und New-York – sie eröffneten die lange Reihe von Uebersetzungen in fast alle europäischen Sprachen.
Mit dem Fall des Sozialistengesetzes wurde das Buch frei. Die erste offene Auflage, die neunte, kehrte zum ursprünglichen Titel Die Frau und der Sozialismus zurück und brachte eine reiche Ausgestaltung des Inhalts und eine übersichtlichere Gliederung des Stoffes. (Von 220 wuchs das Werk auf 386 Seiten.) Inzwischen war Morgans Werk über die Urgesellschaft in deutscher Uebersetzung und Friedrich Engels’ Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates erschienen, der Abschnitt Die Frau in der Vergangenheit erfuhr darnach eine völlige Neubearbeitung. Für den Teil Die Frau in der Gegenwart lagen neue statistische Daten vor. Die Partei hatte sich inzwischen in der Neuen Zeit seit 1883 ein wissenschaftliches Organ und in Erfurt ein neues Programm auf der Basis der Wissenschaft gegeben. Die Abschnitte über Staat und Gesellschaft und über die Sozialisierung der Gesellschaft nahmen die Fülle neuer oder geläuterter Anschauungen und Erfahrungen auf. Mit dem rapiden Anwachsen der Partei nach dem Sturze des Sozialistengesetzes wuchs das Werk, wuchs die Grösse und Zahl der Auflagen und heute, dreissig Jahre nach dem ersten Erscheinen des damals schmächtigen Büchleins, liegt in der goldenen Jubelausgabe des Buches eine populäre Enzyklopädie des Sozialismus mit mehr als einem halben Tausend Seiten vor uns!
Nicht nur „Bücher haben ihre Geschichte“ – auch die Geschichte hat ihre Bücher, in denen sie sich selbst sinnfällig darstellt, in denen sich das Gedankenbild einer Epoche, das Werden und Wachsen der Ideen ausdrückt, aus denen der Zeiten Schicksal spricht! Es sind säkulare Bücher der Nation, die Verkörperung ihres Menschenalters und ihres Volkes, gleichsam die unzerstörbare Fassung, welche die Tränen und Seufzer, die heissen Hoffnungen, die kühnen Gedanken und Bestrebungen der Generation festhalten wie der Goldreif Perlen und Diamanten. Wie es zeit- und ortslose Bücher gibt, so gibt es säkulare und nationale Bücher. Ein solches ist Bebels Frau. Wenn Marx allen Völkern und Zeiten spricht, so ist Bebels Frau vor allem unser. Es ist ein spezifisch deutsches Buch, ein Stück unseres Kampfes, unseres Fühlens, so unmittelbar verwachsen mit dem deutschen Sozialismus der Jahrhundertwende und seiner ganzen Gefühlswelt wie kein anderes Buch.
Vieles wirkt zusammen, um die Frau zum Buche des deutschen Sozialismus zu machen. Vor allem der Gegenstand, der gewählt, die Art, in der er behandelt ist. Marx fasst die Zeit in ihrem allgemeinen internationalen Kern, in der modernen Weltwirtschaft – wir Deutsche waren bis vor kurzem und vor allem zu Marx’ Zeiten noch nicht mitten im Strome der Weltwirtschaft. Lassalle, mitten zwischen Frankfurt und Sedan stehend, fasst den Sozialismus vor allem in seinem Verhältnis zum Staat. Wir Deutsche hatten damals keinen Staat, wir haben ihn zum grossen Teil auch heute noch nicht. Die spezifische Gefühlswelt des Deutschen lag durch lange Zeiten in der Familie. Von unseren Klassikern her, ja seit älteren Tagen, war unsere Seele in den engen Kreis von Haus und Herd, von Frau und Kind eingesponnen. Freilich, alles das, was einst wahres Gefühl und echter Lebenswert gewesen, das hat der hereinbrechende Kapitalismus zerstört und nichts blieb zurück als ein wehmütig Gefühl, als die Heuchelei eines Gefühles, als überlieferte Ideale, gut zu Schüleraufsätzen und deutschen Festartikeln. Während die spezifische Sentimentalität der Heloise Rousseaus in Frankreich schon durch die alten Utopisten, vor allem durch Saint-Simon aufgelöst war, wucherte sie bei uns nach Sedan in patriotischem Ueberschwang mit allen alten Vorurteilen wieder auf. Da war es denn der meisterhafte Instinkt des aus dem Volk unmittelbar emporgestiegenen Propagandisten Bebel, dass er dem Deutschen nicht zuerst von Weltwirtschaft und Staat sprach, nicht ökonomisch und politisch, sondern – für unsere Verhältnisse – unmittelbar sozial kam, dass er vor allem in das täglich-alltägliche Leben, in das Verhältnis von Mann und Weib, in das Mysterium der deutschen Familie griff, die traute Ergänzung des Ehebettes durch das Bordell, die trostlose sittliche Oede des Lebens der Frau, die da himmlische Rosen ins irdische Leben flicht, aufdeckte, die unpraktische Verschwendung unseres so gepriesenen Familienhaushaltes, das traurige Los der unversorgten Töchter, die schnöde Verlogenheit unserer „treuen deutschen Männer“ blosslegte: Es war ein Griff in unsere spezifische Borniertheit, mitten hinein ins volle deutsche Philisterium. Aber Bebel war nicht Pamphletist, sondern Sozialist: Weder billiger Spott genügt ihm, noch auch wehmütige Sentimentalität. Die Misere des durch den Kapitalismus zersetzten Hauses rückt er sofort in den grossen weltgeschichtlichen Zusammenhang und entrollt die Trilogie vom Sturze, von der Hörigkeit und der Wiedererhebung der Frau, ein Schauspiel der Jahrtausende, vor unseren Augen. Aus der unerfreulichen Enge des Hauses führt er uns heraus und zeigt uns mählich das ganze Panorama der Gesellschaft, zeigt uns die herrschende Klasse des Kapitals und den zweiten grossen Hörigen neben der Frau, die Arbeiterklasse. Und so wendet er alles, was an Kraft des deutschen Idealismus in der Frau, was an Frauenverehrung in den Massen des deutschen Volkes, vom Kapitalismus unverdorben, noch in den Seelen lebt, dem Ziele wechselseitigen Verständnisses und gegenseitiger Hilfe zu!
Dem Buche mangelt eine klare, eine logische Disposition: Dieser gar nicht ausgesprochene Gedanke ist sie! Dieser Fehler des Buches verkündet am lautesten, wie spezifisch deutsch es ist, wie offensichtlich es aus der spezifischen Gemütswelt des Deutschen geboren ist.
Und so hat es gewirkt: Es hat sich im Fluge die deutsche Frau wie den deutschen Arbeiter erobert. Es hat unseren Männern die traditionelle Maske genommen, unseren Frauen die geistige Befreiung gebracht. Man vergesse nicht: Äusser dem längstverschollenen Büchlein von Hippel über die bürgerliche Verbesserung der Weiber hatten wir Deutschen keine wissenschaftliche, keine propagandistische Literatur über die Frau: Keine Wollstonecraft, keinen Saint-Simon, keine George-Sand – wir orientierten, als Nation im ganzen genommen, uns über die Frau nach Schillers Lied von der Glocke. Da war es Bebel, der mit seinem kleinen Büchlein alle Schleusen der Weltgeschichte, der vergangenen und kommenden, auftat und ein Strom neuer Auffassungen ergoss sich über uns.
Es ist ein wahres Glück für das Buch, es ist der immense Vorteil des Buches für uns, dass sein Verfasser, in der Enge der deutschen Verhältnisse geboren, gerade diese Enge, die er individuell zu überwinden hatte, am deutlichsten fühlte. Es fehlt uns nicht nur an einer älteren Frauenliteratur. Die deutsche Arbeiterbewegung stiess direkt aus dem Vormärz mitten in die Welt hinaus, der theoretische Sozialismus sprang unvermittelt von Hegel auf die Jahrhunderte alte sozialistische Literatur des Westens über! Wir hatten nicht Morus und Campanella, keinen Baboeuf, keinen Owen und Fourier. Die grosse deutsche Philosophie ward in Marx unmittelbar Oekonomie, in Lassalle unmittelbar Politik: Wir sind um den hohen Reiz und Ansporn der Utopie gekommen! Freilich wissen wir gar wohl den hohen Wert zu schätzen, dass sie uns erspart ist, dass sie uns also nicht betrügen kann. Dennoch ging uns dabei viel, gar viel verloren. Wir kamen nicht dazu, uns an Fouriers Phalansterien zu berauschen – und doch liegt uns die Freude an solcherlei Rausch von unserer klassischen Zeit her gar sehr im Blute, wir sind wahrhaftig nicht phantasielos. Wir haben nicht mit Robert Owen den schönen Irrtum mitgelebt, dass die Erziehung den Menschen zum Grössten machen kann – aber wir sind dabei nicht dazu gekommen, das Erziehungsproblem sozialistisch zu durchdenken. Mit einem Worte, wir waren unendlich arm an Geschichte und Literatur, der Sozialismus war uns niemals Poesie gewesen, niemals eine Weltauffassung, welche die Totalität des materiellen, geistigen und sittlichen Lebens, Werkstatt, Familie, Erziehung, Religion, Kunst und alles, alles andere ergreift: die sozialistische Praxis, die Tatsachen, die das Denken der Massen ergreifen konnten, betrafen einerseits den rein politischen, anderseits den ökonomischen Kampf. Der Sozialist erschien vor der Seele der Zeitgenossen entweder als politischer Revolteur, als Kommunard oder als Streiker, sein Bestreben musste erscheinen als Politik der Heugabel und als Politik von Messer und Gabel. Soweit aber die Theorie von Karl Marx in abgerissenen Stücken der deutschen öffentlichen Meinung kund wurde, konnte wohl die Expropriation der Expropriateure bei dem Harmlosen ein Grausen wie vor dem Weltuntergänge wecken.
Wieder erfüllte Bebels Buch ein spezifisches Bedürfnis des Deutschen, und was man ihm als Fehler angerechnet hat, ist sein unschätzbarer Vorzug: Es gibt zum erstenmal ein anschauliches Bild von der Universalität des Sozialismus. Schildert es liebevoll die Küche der Zukunft, so vergisst es nicht die Zukunft der Religion, das sozialistische Erziehungswesen, die Not der hungernden Schulkinder, die Kunst und Literatur in der sozialistischen Gesellschaft und widmet einen ganzen Abschnitt der „freien Entwicklung der Persönlichkeit“. Zeichnet es die grandiose Entwicklung der industriellen Technik, so behandelt es auch – vielleicht liebevoller, wie es eben dem Deutschen, der erst zwei Generationen von der Scholle gelöst war, so recht lag, – die Probleme der Landwirtschaft. Lässt es das verlorene Leben der Töchter des Mittelstandes nicht unbeklagt und die neuesten Versuche auf dem Gebiete der Weinkultur nicht unerwähnt, so interessiert es sich doch zugleich mächtig für die Zukunft der deutschen Wissenschaft und Intelligenz! Das ist es: Es war der erste populäre, ja der einzige enzyklopädische Kursus des Sozialismus [1] popular-wissenschaftlicher Art, den wir Deutschen besassen! Gestehen wir es nur ein: Obschon wir das beste, das einzige im Zentrum unserer Weltauffassung geleistet, die weiten Aussenbezirke sind bis auf Ausnahmen noch beinahe unbestellt, von unserer Vorzeit haben wir wenig geerbt oder auch manche Erbschaft noch nicht angetreten. Und so ward Bebels Frau denen, die mal gern träumen, Fourier, und allen zugleich Saint-Simon, Owen und Marx, allen Bekennern und Vorkämpfern deutscher Zunge aber, die sich ja mit spezifisch deutschen Vorurteilen der deutschen Ideologie zu befassen hatten, eine reiche Waffenkammer, auch in allen jenen Fragen, die der Tagespolitik und der Oekonomie fernlagen. [2]
Dieses umfassende neue Gedankensystem ward nicht mit dem kalten Verstand des Buchgelehrten, selbst nicht mit jener heissen Leidenschaft der Theorie, die Marx eignet, noch mit dem grandiosen Pathos der Idee, die wir an Lassalle bewundern, vorgetragen: Hier sprach die direkte Anschauung und das warme Gefühl für das Leiden und Hoffen der Kreatur aus dem Herzen, das mitlitt und mitstrebte. Das Buch spricht nicht zum Verstand allein, es spricht zur Person selbst wie der Agitator auf der Tribüne, es spricht vor allem zum Willen. Nirgends hört das Buch auf wissenschaftlich zu sein: aber die Wissenschaft wird nicht vom Forscher gelehrt, sie wird vom Propheten verkündigt. „Der Sozialismus ist die auf allen Gebieten menschlicher Tätigkeit angewandte Wissenschaft.“ Um die Tätigkeit des Menschen handelt es sich, der das Wissen dient. Das Buch ist vielleicht das kühnste Bekenntnis zur umwälzenden Praxis der Wissenschaft: Man sagt dem Glauben nach, dass er Berge versetze, von der Wissenschaft ist es gewiss, dass sie es vermag. Können wir einmal Berge versetzen und Meere überbrücken, können wir unseren Boden doppelt fruchtbar, unsere Arme aber hundertfach produktiver machen, dann müssen und werden wir es auch vollbringen, dann werden wir die Welt neugestalten mit dem Einsatz aller unserer Kräfte: Alle Arbeitsfähigen zur Arbeit! (21. Kapitel.) Alle technischen Errungenschaften in ihren Dienst! Alle Wasserkräfte verwertet! Unermessliche Bodenfläche melioriert! Der Landwirtschaftsbetrieb elektrisiert! Die Agrikulturchemie durchaus angewendet! Den Verkehr zentralisiert! Und so fort. Zur Tat! Die Tat – das ist der Triumphgesang der Wissenschaft. Diese Prophetie des wissenschaftlichen Tatmenschen reisst uns mit fort, reisst uns mit brennendem Interesse über statistische Tabellen und schwerverständliche Facherörterungen hinweg, dem Ziele zu: Eine neue Welt! Ein Paradies auf Erden! Und das kein Geschenk der Götter, nein, das Werk unserer Hand, die Tat unseres Geistes!
Dieser berauschende Tatwille, diese rauschende Lebenskraft, diese sieghafte Zuversicht, die nicht greint noch grübelt, sie hat eine Generation deutscher Arbeiter mit sich fortgerissen, ebenso im lebendigen wie im geschriebenen Wort: Ein Mann – ein Temperament – ein Ingenium!
Es verlohnt sich gar nicht zu fragen, wie viel von dem Gedankenerz des Buches dem Verfasser originell ist, das ist hier ganz gleichgültig; nicht das Erz, der Guss entscheidet hier, er entstammt dem Feuer der Persönlichkeit Bebels. Die Wirkungen des Buches auf die deutsche Gesellschaft verflechten sich natürlich mit dem Einfluss der gesamten sozialistischen Propaganda und Literatur auf das deutsche Geistesleben des letzten Vierteljahrhunderts so, dass sein besonderer Anteil schwer loszulösen ist. Eigentümlich ist dem Werke vor allem seine Wirkung auf die Frauenwelt. Es hat die bürgerliche Frauenbewegung gewaltig gefördert und ist wohl auch heute noch das Lieblingsbuch der Frauenrechtlerin. Die zahlreiche Frauenrechtsliteratur, die nach ihm erstand, steht unter seinem Einfluss. Der zweite Abschnitt, Die Frau in der Gegenwart, der in der neuen Auflage allein 210 Seiten umfasst, stellt mit dem zahlreich verarbeiteten statistischen und Gesetzgebungsmaterial auch heute noch die beste Uebersicht der Frauenfrage dar. Wenn die ganze Oeffentlichkeit heute die Fragen des Frauenerwerbs und der Frauenbildung verständiger behandelt, so. dankt dies die weibliche Jugend nicht zum wenigsten August Bebel.
Das öffentliche Gewissen und die Öffentliche Verwaltung in deutschen Landen wurden am stärksten berührt durch Bebels Untersuchungen über die Prostitution. Hier lag auch die stärkste Herausforderung für die übliche Moralheuchelei im Lande der frommen Zucht und Sitte. „Die Prostitution wird also zu einer notwendigen sozialen Institution für die bürgerliche Gesellschaft, ebenso wie Polizei, stehendes Heer, Kirche, Unternehmerschaft.“ Die herrschenden Klassen Deutschlands schäumten auf. „Die Prostitution die notwendige Ergänzung der Familie“ – alle Dunkelmänner scharten sich um den heiligen Herd der deutschen Familie. Ein lauter und zäher Kampf begann und oft hallte auch der Reichstag davon wieder. Natürlich – an den Tatsachen der Prostitution konnte der Krieg der Meinungen zunächst nichts ändern, aber für den moralischen Sinn der Nation glich er einem reinigenden Gewitter: Mit der naiven Ungeniertheit des biederen Lasters, mit der fröhlichen Selbsttäuschung war es vorbei – die Heuchelei der Biedermänner und der Staatsgewalt [3] brach zusammen. Aus diesen leidenschaftlichen Kämpfen zog unsere schöne Literatur, zog die Satire und Karikatur eine Fülle von Stoffen und neuen Formen, die Staatsverwaltung ging endlich mit mehr Verständnis und Gewissenhaftigkeit an die Behandlung dieser Probleme.
Nicht zu unterschätzen aber ist der moralische Eindruck des Buches auf die männliche Jugend, die in der schweren Krisis der Sinne und des romantischen Ueberschwangs erster Liebe nur zu oft Ursache und zugleich Opfer der Prostitution wird und zum Schlüsse Achtung und Gefühl für das andere Geschlecht, damit aber auch die Hälfte des Lebensglückes einbüsst. Dieser Notstand der Jugend hat erst jüngst eine Reihe von Sexualethiken hervorgerufen, er hat auch sonst eine Unsumme medizinischer, naturwissenschaftlicher, religiöser, moralischer und humanitärer Traktate und Seelenberater gezeitigt, die dem Jüngling das rätselhafte Wunderwesen des Weibes, diesen Born der Freude und der Sünde, diesen Ursprung alles Bösen, bald zu vergöttlichen, bald zu vertieren, auf jeden Fall erst recht unverständlich zu machen geeignet sind. Ihnen gegenüber wirkt Bebels Frau befreiend und läuternd: Die geschichtlich-ökonomische Erklärung, das heisst die wahre Erklärung, die dem Weib alle moralisierende Mystik nimmt, lässt es als das erscheinen, was es ist, als Menschen wie wir selbst, mit dem gleichen Begehren und dem gleichen Rechte der Persönlichkeit, sie entkleidet es des Nymbus der Herrin und zugleich der Fessel der Sklavin. Alle Mythen und Fabeln, alle Beispiele der Geschichte, auch die wüsten Eindrücke der Gegenwart, alles, was sonst die Sinne der Jugend verwirrt, löst sich auf in seine natürlichen Ursachen und der Verstand wird über die Mächte des Gemütes Herr. Ohne jegliches moralisierende Wort stellt sich das moralische Verhältnis der Geschlechter aus ihrer Natur wieder her: Selbstachtung des Mannes und Achtung vor dem Weibe liegen von selbst in der Anerkennung der Gleichheit und Freiheit beider Geschlechter. Sie sehen sich selbst nunmehr im Zusammenhang einer Entwicklung durch Jahrtausende, erkennen in ihr das waltende Gesetz der natürlichen Zuchtwahl und werden sich so der hohen Verantwortung der Geschlechtsbeziehungen für die Zukunft des Menschengeschlechtes bewusst. Ein ganzes Nebelmeer falscher Vorstellungen und beängstigender Vorurteile fällt. Die Erkenntnis sittigt nicht nur den Jüngling, sie macht auch den Mann fähig, die unvermeidliche Not der Ehe in der bürgerlichen Gesellschaft zu ertragen.
Nicht nur für uns Sozialdemokraten, für alle Glieder unseres Volkes war Bebel im besten Sinne des Wortes ein Praeceptor Germaniae. Zu uns Sozialdemokraten aber spricht die zweite Hälfte des Buches, sein vierter Abschnitt Die Sozialisierung der Gesellschaft. Hier speziell drückt sich die Geschichte der Partei in der Auflagenfolge aus.
Acht Auflagen fallen vor Erfurt, vor der scharf prinzipiellen, direkt wissenschaftlichen Formulierung des Programms, jene Auflagen, die Bebel vielfach als Utopisten erscheinen liessen. Blättern wir heute die erste Auflage durch, so sehen wir freilich das Unbewiesene, Geschaute, Prophetische überwiegen. Das Bild der Zukunft entrollt sich uns so lebhaft, wie nur der Freiheitstraum eines Gefangenen sein kann. Vieles ist mit warmem Verstände gesagt, was man gerne begrifflich genauer formuliert sähe. Aber schon nach Erfurt, in der neunten Auflage, überwiegt der wissenschaftliche Beweis. Es ist kein Wunder, dass wir, die eine ältere Auflage gelesen, nicht von Auflage zu Auflage gefolgt sind. So ist uns vielen entgangen, dass alle Ergebnisse des historischen Materialismus längst im Texte durchgeführt sind. Aber ein anderer Umstand ist darnach angetan, unser freudiges Staunen hervorzurufen.
Gar vieles, was sich in der ersten Auflage als Utopie lesen mochte, steht noch heute an derselben Stelle, aber siehe da: die Tatsachen und ihre wissenschaftliche Erkenntnis sind der Phantasie gefolgt. Es ist als hätte der Geist sich seinen Körper gebaut! Technische Revolutionen, die damals verkündigt worden, sind heute im Vollzüge oder übertroffen. Eine herrliche Rechtfertigung des Mannes, dessen „Zukunftsstaat“ ein Eugen Richter geschmäht, sind die häufigen Belege, die die Männer der Wissenschaft beigestellt: Sie, die exakten Forscher, haben jeder von seinem Fache aus und in seinem Kreise Bebels Kühnheit mehr als gerechtfertigt, sie haben sie Überboten. Wenn Berthelot die Zukunft seiner Fachwissenschaft malt, wenn er verkündigt, dass um das Jahr 2000 es keine Landwirtschaft und keine Bauern mehr geben werde, da die Chemie die bisherige Form der Bodenkultur werde ersetzt haben (Seite 296), wenn er die Sonnenwärme und die Hitze des Erdinnern zur unerschöpflichen Kraftquelle für die Menschheit macht, wenn Oekonomen in kaltem Klima auf schlechtem Boden in künstlichen Weingärten billig (Seite 431 ff.) die feinsten Weine ziehen, wenn die Chemiker heute Stickstoffdünger aus der atmosphärischen Luft in unbeschränkten Quantitäten gewinnen, was ist dann noch von der angeblichen Utopie Bebels zurückgeblieben? Der Zukunftsstaat der Techniker stellt seinen „Zukunftsstaat“ schon längst in Schatten! Wir Leser der älteren Auflagen haben gar nicht gewusst, welche Fülle des prächtigsten Materials aus allen Zweigen der technischen Wissenschaften Bebel in diesem vierten Abschnitt ganz originell verarbeitet hat! Ein kleines Schatzkästchen von Daten über den Fortschritt der Elektrotechnik, der Wasserkraftanlagen, des Bahnbaues, des Berg- und Hüttenwesens, der Agrikultur, der Nahrungsmittelchemie ist hier niedergelegt, diese Daten drohen fast den Rahmen der ursprünglichen Anlage des Buches zu sprengen.
Und so verrät jeder Titel des Buches, wie die Partei selbst gewachsen, wie alle Probleme sich ausgeweitet und vertieft haben. Was 1883 blosse Andeutung war, ist jetzt zur Abhandlung geworden, einzelne Partien sind inzwischen der Gegenstand einer umfangreichen Parteiliteratur, oft einer hitzigen Polemik geworden. Das Buch verschmäht es, an diesen Stellen in den Kampf einzutreten, literarische Hinweise auf die Streitschriften sind unterlassen. Die Ausführungen über Konzentration, Proletarisierung und Krisen (17. und 18. Kapitel) zum Beispiel berücksichtigen die neuesten Quellen, aber ersparen uns den Hinweis auf die widerspruchsvollen Deutungen, die sie gefunden. Und es ist gut so: Das Buch verliert dadurch nicht seinen Charakter als persönliches Bekenntnis, als einheitlicher Ausdruck des Massendenkens der deutschen Arbeiterklasse.
Das Massendenken des deutschen Proletariats, das Bebel in unzählbaren Versammlungen geweckt, in unabsehbarer Zahl von Parlamentsreden vertieft hat, das er, einer der grössten Erzieher der Arbeiterklasse Deutschlands, in seiner Person verkörpert, die sozialdemokratische Gedankenwelt der letzten Generation deutscher Arbeiter ist in der goldenen Ausgabe der „Frau“ niedergelegt. Und so wird sie auch die Fibel und das Hausbuch der jungen Arbeitergeneration, der Hausschatz der nach ihrer Befreiung ringenden Frauen werden. Sie alle seien daran erinnert: Das Vermächtnis jener, die diesen Schatz unter dem Sozialistengesetz unter den grössten Gefahren vor der Unterdrückung retteten: Erwirb es, um es zu besitzen!
1. Engels’ umfassender Anti-Dühring war wohl schon 1877 in Artikeln des Leipziger Vorwärts und 1878 in Buchform erschienen, behandelt jedoch in theoretischer Polemik ganz überwiegend die Grundfragen der Philosophie und Oekonomie.
2. Diese Universalität des Buches ist wohl dem serbischen Uebersetzer am meisten aufgefallen, der ihm den Untertitel gab: Enzyklopädie der praktischen Philosophie August Bebels. Wer die 50. Auflage durchliest, wird diese Bezeichnung einigermassen begründet finden.
3. Ein Beispiel: Der Leipziger Polizeirat Kühn sagt 1892: Die Prostitution schützt die Weiber vor Untreue (!) und die Jugend vor Angriffen und somit vor dem Falle (!). Diese Worte charakterisieren in der unverhültesten Weise die Naivität dieser Heuchelei, der das Recht des Mannes auf das Laster das selbstverständlichste Ding ist.
Zuletzt aktualisiert am 6. April 2024