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Der Kampf, Jahrgang 1 1. Heft, Oktober 1907, S. 23–30.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.
Die Nationalität als geschichtlich gewordene Sprach- und Kulturgemeinschaft ist vor dem modernen Staate, ist an sich eine Gemeinschaft kraft der Natur und Geschichte, sie besteht nicht von Rechts wegen. Das Band, das Millionen zu einer Nation verbindet, ist ein innerlich gewachsenes, nicht von aussen angefügtes. Der Staat aber verbindet seine Bürger durch den äusseren Zwang des Rechtes. Man kann den Unterschied kurz so in eine Formel bringen: Die Nation ist Naturtatsache, der Staat rechtliche Tatsache; die Nationalität ist vorstaatlich und vorrechtlich, sie ist logisch und faktisch nicht aufgehoben und geändert, wenn wir den Staats- und Rechtsverband zerstört oder gewechselt denken (Eroberung, Auswanderung).
Der Staat umschliesst Millionen Menschen durch das Band der Untertanschaft, der Unterwerfung unter sein Gesetz. Darum aber erschöpft dieses gemeinsame Band noch lange nicht alle Beziehungen der Menschen. Er regelt viele solcher vorrechtlicher Beziehungen durch das Gesetz, zum Beispiel die Blutsverwandtschaft durch das Eherecht, und versagt anderen diese Regelung wie der ausserehelichen Blutsverwandtschaft mit den Angehörigen des Vaters. Das Recht bindet die Vereine, aber ignoriert die allermächtigsten Verbände im Staate, die politischen Parteien fast vollständig. Politische Parteien sind keine Rechtsverbände und keine Naturverbände, sie sind nicht rechtlich noch vorrechtlich, sondern ausserrechtlich: das Gesetz nimmt absichtlich von ihnen keine Notiz.
Von Natur aus gegebene Verbände unterscheiden sich von den bewusst geschaffenen, gewollten deutlich. Wie die Blutsverwandtschaft, so bildet das Zusammenwohnen an einem Orte, in einer Stadt, in einer Landschaft natürliche Verbände. Den Ortsverband (Territorialverband) regelt das.Gemeindegesetz, die Städteordnung, die Landesverfassung. Die Rechtsordnung kann an der Tatsache nicht achtlos vorübergehen, dass das Zusammenwohnen an einem Orte, die Siedlungsgemeinschaft, Forderungen und Verpflichtungen gegenüber den Mitmenschen begründe wie die Gemeinschaft des Geschlechtes. Wo die Natur Gemeinschaften zwischen Mensch und Mensch begründet, kann das Recht nicht sich selbst versagen, es muss die Beziehungen der Individuen zueinander gesetzlich festlegen, um sie über den Streit und die Selbsthilfe hinauszuheben, um das friedliche Zusammensein zu verbürgen. Es hat keine andere Wahl. Bewusst geschaffene, gewollte Verbände dagegen mag es versagen, fördern oder gewähren lassen je nach Zweck und Nützlichkeit; -das Gesetz untersagt geheime Verbindungen, fördert Erwerbsgenossenschaften und ignoriert die Freundschaft zweier Studenten, den Familienausflug, die politischen Parteien – in jedem Falle aus gerechtfertigten Gründen.
Ein Verband von Menschen ist ohne Zweifel die Nation; sie ist keine gewillkürte, sondern eine von Natur gegebene Gemeinschaft vor allem Rechte, also etwas völlig anderes als eine Konsumgenossenschaft oder eine Partei. Sie gleicht der Ortsgemeinschaft oder der Blutsverwandtschaft mehr als diesen Verbänden, aber sie überragt beide an Bedeutung. Sie erscheint zum Teile und annähernd als Bluts- und Ortsgemeinschaft von ganz ausserordentlicher Ausdehnung, da sie Millionen Individuen und ungezählte Tausende von Ortschaften umfasst. Sie entfaltet auch ein reiches und gewaltiges Verbandsleben die ganze nationale Literatur und Kultur ist ihr Werk.
Man sollte meinen, dass das Recht einen solchen Verband gar nicht übersehen könne!
Und doch hat unsere Gesetzgebung die Nationen einfach ignoriert. Man schlage sämtliche Gesetze nach, man findet von ihnen keine Spur. Von Gesetzes wegen existieren keine Nationen. Ja strenge genommen gibt es auch keine nationalen Individuen vor unserem Rechte – es kennt nur Individuen verschiedener Umgangssprache und nicht einmal das. wenn diese Umgangssprache nicht landesüblich ist.
Nun sind aber die Nationen ohne allen Zweifel real da – und noch dazu wie real! Die ganze Geschichte des letzten halben Jahrhunderts füllen sie aus. Aber vor Recht und Gesetz existieren sie nicht – trotz des berühmten Artikels XIX des Staatsgrundgesetzes über die Rechte der Staatsbürger.
Noch mehr: die Nationen wissen, dass sie vor dem Staate sind, sie wollen selbst Staaten bilden und berufen sich auf die Nationalstaatsidee – aber Staat und Gesetz kennen sie nicht, erkennen sie rechtlich nicht an.
Also – wie können sie dann existieren in einer Zeit, wo nahezu jede Kleinigkeit der rechtlichen Regelung unterworfen ist?
Sie müssen sich ausserrechtlich organisieren, es bleibt ihnen keine Existenzmöglichkeit als die der politischen Partei.
Die Nationen haben zueinander Beziehungen, reale Machtverhältnisse. Aber das Recht grenzt sie nicht ab, sichert sie nicht, hebt sie nicht über den Streit und die Selbsthilfe hinaus. Das Recht, das sich den Nationen versagt, gibt sich selbst atif und sanktioniert die nationale Selbsthilfe, das nationale Faustrecht.
Die Nationen sind da, sie wollen sich und das Ihre behaupten – es bleibt ihnen nichts übrig, als eine ständige Truppe von Landsknechten zu halten, die sie vor Ueberrumpelung schützt, und im Notfälle selbst zum Schwerte zu greifen. Sie selbst wollen – vielleicht! – den Frieden, aber die Landsknechte sind um des Krieges willen da, sie wollen den Krieg. Das Recht, das sich den Nationen versagt, organisiert geradezu den nationalen Krieg.
Die Nationen wollen Staaten bilden – es ist nicht ihr guter oder böser Wille allein, sie müssen es, wie ich anderswo gezeigt habe (im Kampf der Nationen um den Staat) – sei es selbständige oder Gliedstaaten. Das Recht kennt sie nicht, also müssen die Nationalparteien ausserrechtlich im Parlament sich als Staaten im Staate auftun, regieren, die Aemter besetzen und die Regierung auflösen in mechanisch addierte Sonderregierungen gegeneinander – was man neuerdings »Parlamentarisierung« genannt hat. Kein Wunder, dass jeder der nationalen Ressortminister aus seinem Amte einen nationalen Sonderstaat via facti zu machen streben muss.
Die Nationen haben keinen rechtlichen Bestand, keine Rechtsmacht, keine gesetzlich garantierte Herrschaftssphäre – also müssen sie ihre Existenz bewähren in unablässigen parlamentarischen Machtkämpfen.
Das offenbare Ziel, das die Nation selbst dabei verfolgt, ist, die gewonnene Machtposition in eine gesicherte Rechtsposition zu verwandeln, damit der Streit ein Ende habe. Aber das Ziel der Nation ist unmöglich zugleich das des nationalen Landsknechtes – das Recht würde ihn ja überflüssig machen! Er will die Macht als reine Machtposition behaupten, ständig unter der Fahne bleiben – es genügt ihm vollständig, faktisch Macht zu haben. Die Nationalpartei, ihr Amts- und Stellenhunger wird Selbstzweck: die Nationalparteien kämpfen durch Jahrzehnte in Gesetzgebungskörperschaften, geben hunderterlei Gesetze, nur das eine Gesetz nicht, das Nationalitätengesetz. Kein Mensch denkt daran – der Krieg ist lustig und nähret seinen Mann.
In diese Idylle griff das Proletariat mit eiserner Faust ein.
Von Haus aus steht es in ganz anderer Front. Es war nicht nur ausgeschlossen von dem Rechte des Staates, sondern auch von den Kulturgütern der Nation. Seine nationale Frage richtete sich also zunächst an die eigene Nation, das ist an die nationale Bourgeoisie; Lasst uns teilnehmen und mitschaften an der nationalen Kultur! Zunächst fordert der Bourgeois das Recht der Nation am Staat, der Proletarier das Recht des Individuums an der Nation. Hie Staatsrecht – hie Nationales Recht!
Der Machtkampf der nationalen Bourgeoisien kennt an sich kein Ende. Aber das Proletariat konnte nicht warten, es musste das Wahlrecht haben, also musste es den Bourgeoisien den Frieden aufzwingen. Und so ist in einem Teile der Verfassung die nationale Machtposition in eine unentziehbare Rechtsposition umgewandelt: der Machtbesitz an parlamentarischen Mandaten ist rechtlich abgegrenzt nach den konkret gegebenen Machtverhältnissen. Durch die Kraft der Arbeiterschaft ist ein Stück von einem Recht der Nationen in die Verfassung übergegangen und das nationale Faustrecht ein wenig eingeschränkt. Allerdings treten – Mähren ausgenommen – die Nationen anonym auf unter den Decknamen blosser numerierter Bezirke, und der Polenklub hat ein lächerlich kompliziertes Minoritätssystem erfunden, um ja den Machtkampf nicht durch eine feste Rechtsordnung überflüssig zu machen. Seither existieren die Nationen im österreichischen Recht, aber de iure nur im Verfassungsrecht des Reichsrats.
Man wundert sich, dass das gleiche Stimmrecht den Kampf der Nationen nicht aus der Welt geschafft hat. Nur unglaubliche Einsichtslosigkeit kann sich darüber verwundern. Die Nationen streben nach einer gesicherten Rechtsexistenz, sie wollen aus dem mütterlichen Schoss eines Einheitsstaates, der bisher alleiniges Verfassungsrechtssubjekt gewesen, herausgeboren werden als selbständige, lebensfähige Sonder- und Einzelwesen mit eigenem Willen und eigenen Bewegungsorganen – wieviel haben sie davon bisher erreicht f Nur eines: ihre Sonderexistenz ist vor der Geburt einstweilen im Parlamentsrecht vorgemerkt, aber verfassungsrechtlich geboren sind sie noch nicht. Sie haben erst den Rechtstitel, noch nicht das Recht auf Existenz. Vernünftigerweise muss der nächste Schritt auf dem Wege ihrer Schöpfung sein, dass man ihnen das gibt, was der Römer juristisch suum caput nennt, ihr eigenes Haupt, ihre willens-und handlungsfähige Persönlichkeit, indem man die Vertreter jeder Nation zusammen als Nationalrat konstituiert, wie Austerlitz in der Arbeiter-Zeitung jüngst treffend ausgeführt hat.
Damit wäre unendlich viel gewonnen, vor allem eine Grundlage für das Institut der fälschlich so genannten Landsmannminister, die richtig nationale Minister heissen müssen. Sie wären, wenn sie an das Vertrauen der Gesamtheit der nationalen Vertretung gebunden und ihr verantwortlich gemacht würden, ganz andere Machtfaktoren als heute.
Aber sie sind heute Minister ohne Portefeuille und so wären die oben erwähnten Nationalitäten an sich zunächst Rechtssubjekte ohne Recht, Seelen ohne Körper, Seelen, die nicht geboren werden können, da der Leib fehlt, in den sie eingehaucht werden sollen.
Den nationalen Ministern, diesen hochgestellten Kibitzen der Staatsverwaltung, fehlt das eigene Ressort, den Nationalvertretungen fehlt die Nation.
Recht und Gesetz sind Wort und Paragraph, Schall und Papier. Was sie lebendig macht, ist die Verwaltung, diese ist die konkrete Leiblichkeit des Staates. Wir kämen rasch zu nationalen Ministern, zu Nationalräten, zu den Nationen als Rechtsinstituten, wenn wir nur eine Ahnung hätten von einer »nationalen Verwaltung«.
Die österreichische Wissenschaft und Praxis, die österreichischen Rechtsgelehrten, Politiker, Parlamentarier, Publizisten, kurz das ganze Volk der »Schriftgelehrten und Pharisäer« und damit die ganze Oeffentlichkeit kennen weder den Begriff noch den Namen einer nationalen Verwaltung. Die Bourgeoisien aller Zungen reden durch vierzig Jahre von der »Nation« und haben’s nicht bemerkt, dass sie gar nicht existiert, sie reden von nationalen Kulturaufgaben, nationalen Angelegenheiten und haben es nicht wahrgenommen, dass es nationale Angelegenheiten, nationale Verwaltungsaufgaben gar nicht gibt – nach geltendem Rechte nämlich. Es gibt eine staatliche, es gibt eine autonome Landes- und Gemeindeverwaltung, eine nationale Verwaltung kennt das Gesetz nicht. Wir kennen eine Bau-, Sanitäts-, Wege-, Stiftungsverwaltung, kennen Verwaltungsaufgaben, die aus der Existenz der Feldmäuse, der Nonnen, der Diebe, der Schmuggler entspringen; aber die Existenz der Nationen hat unserem öffentlichen Recht noch keine spezifischen, theoretisch und praktisch gesonderten Verwaltungsaufgaben gestellt. Es gibt eine besondere Kulturverwaltung, katholische, protestantische Kultusorgane, aber eine nationale Kulturverwaltung und ihr zugeordnete Organe gibt es nicht. Es besässe in den nationalen Ministern und Nationalitäten jede Nation wohl ihr caput, ihren Kopf, aber noch fehlten ihr – Hände und Füsse.
Aber gibt es denn spezifisch nationale Angelegenheiten? (Wenn solche da sind, muss auch eine Verwaltung derselben da sein.) Offenbar. Denn jedes zweite Wort, so wir in unserer Politik vernehmen, lautet: Das ist eine nationale Angelegenheit.
Wo also steckt ihre Verwaltung? Warum keine besonderen Organe?
Das Deutsche Reich hat auch gewisse nationale Angelegenheiten – wer vermisst dort besondere Organe? Niemand. Die Nationalsachen sind eben Staatssachen.
Und bei uns sind sie’s auch. Die Minister, die Statthalter, die Bezirkshauptleute und auf der anderen Seite die Landesausschüsse und Bürgermeister führen unsere nationalen Angelegenheiten – als ob wir auch ein nationaler Einheitsstaat, national einheiliche Kronländer, national durchaus einheitliche Gemeinden wären!
Was wir nicht von Deutschland übernehmen können, das existiert für uns nicht. Wir haben Einrichtungen übernommen und beibehalten, die für uns sinnlos sind. Wir sind kein Nationalstaat. Der eine, zentrale Staat kann nicht die nationalen Angelegenheiten von acht Nationen zugleich verwalten. Es kann der Unterrichtsminister nicht zugleich Deutscher, Tscheche und Pole sein, es kann aber der Deutsche seine Hoch- und Mittelschulen nicht von Tschechen oder Polen, der Tscheche nicht von Deutschen oder Polen ohne Bedenken verwalten lassen, um nur das nächste Beispiel zu wählen. Ist der Staatsverband »Oesterreich« notwendig oder besteht er wenigstens faktisch in einer Weise, dass wir im Augenblick nicht wissen, wie ihn beseitigen oder wie ihn ersetzen, so müssen wir ihm wohl das zur Existenz Nötigste an Hoheitsrechten zugestehen, niemals aber können wir zugestehen, dass er für alle acht Nationen unterschiedslos auch die nationale Verwaltung führt, gleichsam als Vormund von Unmündigen oder Wahnsinnigen.
Diese Völker konnten die zum Teil ungebetene Vormundschaft nicht abweisen, solange sie eben unmündig waren, sie verdienen diese Vormundschaft, wenn und solange sie so wahnsinnig sind, sich in hassvollen Kämpfen selbst zu zerfleischen. Sie brauchen diese Vormundschaft von Ministern, Statthaltern, Bezirkshauptleuten und Gendarmen nicht mehr, wenn sie verständig genug sind, eine nationale Rechtsordnung an Stelle des Kampfes zu setzen.
Eine nationale Rechtsordnung, die jeder Nation rechtlich Haupt und Glieder, ein eigenes Willenssubjekt und eigene Durchführungsorgane gibt, eine Rechtsordnung, die jeder Nation durch ihre nationalen Minister und Nationalräte eine organische Anteilnahme an der Zentralregierung sichert, eine nationale Rechtsordnung, die jede Nation erst frei und selbstherrlich macht und dann organisch zum Staatsganzen zusammenschliesst, eine solche Rechtsordnung benötigen wir. Für sie existiert in unserem ganzen Verfassungsrecht noch kein Ansatz – äusser der durch das gleiche Stimmrecht geschaffenen Abgrenzung der Wahlbezirke.
Aber ist es denn denkbar, dass acht Nationen durch Jahrzehnte politisch leben ohne jede Spur einer nationalen Verwaltung.
Das ist in der Tat undenkbar.
Wir haben neben der sogenannten landesfürstlichen Verwaltung eine sogenannte autonome, die eine in Wahrheit nicht landesfürstlich, die andere nicht autonom. Item, wir besitzen Gemeinden (in einigen Kronländern Bezirke) und Kronländer mit Selbstregierungsbefugnissen der Bourgeoisie. Und dieses Surrogat dient vielfach als Ersatz der nationalen Verwaltung.
Dieses Autonomiesurrogat stellt in einsprachigen Ländern, Bezirken und Gemeinden ein ähnliches Verhältnis her wie im geschlossenen Nationalstaat. Der Mangel einer besonderen Nationalverwaltung verschwindet hier, da gesonderte Nationen fehlen. In diesen Gebieten merkt man das Fehlen nationaler Institutionen nicht leicht, sie scheinen entbehrlich.
In diesen Gebieten entsteht auch der falsche Schein, als wäre diese Autonomie der Gemeinden und Kronländer zugleich eine nationale Schutzwehr. Und dieser Schein hat die Kronländer in der Geschichte oftmals gerettet.
Und doch reicht diese Pseudoautonomie nicht aus; sie ist aus zwei Gründen ungenügend. Erstens sind die Angelegenheiten, die national im engsten Sinne genannt werden müssen, verteilt auf Bürgermeister und Bezirkshauptmann, Landtag und Statthalter, die Kompetenzscheidung ist nicht durchaus national gedacht und die Zentralregierung redet durch die landesfürstlichen Organe in nationale Dinge darein. Zweitens redet das Nationsganze nicht mit und kann es nicht, da diese Pseudoautonomie im Kronland abschliesst und nicht nach oben fortführt bis zum Nationsganzen, zum Nationalrat und nationalen Minister. Die Nation im ganzen will eine gute Schule – der Vorarlberger Landtag vielleicht nicht; die Nation will auf ihrem Gebiete einen deutschen Bezirksrichter – der Justizminister nicht.
Also selbst in einsprachigen Gemeinden, Bezirken und Kronländern müssen die Organe und die Kompetenzen der nationalen Verwaltung ausgeschieden werden, einerseits, damit sie der Zentralregierung des Staates entzogen bleiben, andererseits, damit sie den Zentralinstitutionen der Nation – dem nationalen Minister und dem Nationalrat – unterworfen werden können.
Zwei Aufgaben sind also zu vollziehen, damit die Nation auch rechtlich ins Leben trete: Erstens müssen die durch die Kronlandsautonomie auseinandergerissenen Glieder der Nation wieder vereinigt werden, zweitens sind diese Glieder national aus den Fesseln der Zentralregierung zu lösen. Dann haben die Nationen ihre Bewegungsfreiheit gewonnen.
Und also ringt der Gedanke der nationalen Autonomie – selbst unter der Voraussetzung nur einsprachiger Kronländer – mit einer doppelten Gegnerschaft. Die nationale Autonomie muss ihren Reichskreis zu einem – dem kleineren – Teil herausschneiden aus der Machtsphäre der landesfürstlichen Regierung und Bu-reaukratie, zum grösseren Teil aus der Machtfülle der Landtage, der Landesausschüsse und ihrer Bureaukratie. Sie fordert von der zentralistischen Bureaukratie einen blossen Machtverzicht, von der autonomen Oligarchie und Bureaukratie aber Unterordnung unter die Herrschaft des Nationsganzen. Die landesfürstliche Bureaukratie ist auf Resignation, die autonome Oligarchie auf Anmassung gedrillt. Ich fürchte sehr, dass der Hauptkampf gegen die letztere geführt werden wird.
So stellen sich die Dinge schon im einsprachigen Gebiete dar. Klarer und doch wieder schwieriger liegen sie im mehrsprachigen.
In diesem ist das Bedürfnis nach nationaler Sonderverwaltung längst eklatant, es bildet den unausgesprochenen Inhalt der bürgerlichen Politik dieser Gebiete.
Nur gewinnt das politische Leben hier eine besondere Gestalt. Die Mehrheitsnationen in Kronland, Bezirk und Gemeinde sehen in der Pseudoautonomie erst recht das nationale Gut, nicht weil sie Autonomie (Selbstherrschaft), sondern Heteronomie (Herrschaft über die anderen) zum Inhalt hat. Sie ist nicht Verteidigungsmittel gegen die landesfürstliche Bureaukratie, sondern Angriffsmittel gegen die andere Nation, entweder um unberechtigte Vormacht erst zu gewinnen oder länger zu behaupten. Das ist nicht mehr verfälschte, sondern in das Gegenteil verkehrte Autonomie, partikularistischer Zentralismus, der keine Rechtfertigung in den Tatsachen und der Gegenwart findet und darum an das historische Recht appellieren muss. Die Berufung auf Nation, Recht und Autonomie wird hier, weil sie jedesmal die rechtlose Unterwerfung einer anderen Nation zum Inhalt hat, zur aufreizenden Verlogenheit. Zur gleichen aufreizenden Verlogenheit wird hier der Kampf gegen die zentralistische Bureaukratie, welche man – soweit sie ein Stück der nationalen Verwaltung führt – in einem Atemzug vom eigenen Volk abwehren und auf das andere Volk loshetzen will. Unernst wird das Bestreben, der zentralistischen Bureaukratie die nationale Verwaltung zu nehmen, im Gegenteil – sie soll auch nationale Kompetenzen ausüben, freilich nur gegen die Minorität. So wettert man gegen den Zentralismus, aber stützt und stärkt ihn als anonymes Mittel zur Entnationalisierung anderer. Jahrzehnte hindurch waren Böhmen und Mähren die Musterländer dieser Methode, die tschechische und deutsche Bourgeoise handhabten sie da und dort in gleicher Weise, natürlich mit dem entgegengesetzten Ziel. Die beiden Bourgeoisien haben einander hierin nichts vorzuwerfen.
Anders die Minderheitsnationen. Vorerst sind sie in der autonomen Verwaltung rechtlos, Gegner dieser Art Autonomie überhaupt, und suchen Abhilfe bei der landesfürstlichen Verwaltung, ohne auch ihr vertrauen zu können. Das ist ja das Unglück der Nationen in Oesterreich, dass ihre Sache zerstückt und aufgeteilt ist auf zwei Faktoren: auf eine Zentralregierung, die da sie vielen Nationen zugleich je nach jeweiligen parlamentarischen Machtverhältnissen dienen soll, ehrlich international sein sollte und bei wechselnden Parlamentsmehrheiten weder ehrlich national noch ehrlich international sein kann; und auf eine Landtagsmehrheit, die kraft stabiler Mehrheitsverhältnisse auf nationale Vorherrschaft eingeschworen ist. Die nationale Sache schwankt so zwischen der Szylla der Kronlandsmehrheit und der Charybdis der Zentralregierung. Die Völker richten die angstvollen Blicke bald auf diese, bald auf jene und sehen in ihrer Angst nicht, dass die Durchfahrt mitten durch beide geht, dass links und rechts ein Stück abgesprengt werden muss, damit die Fahrt sicher und bequem wird.
Diese Minderheiten nun können, da jeder Faktor ein Stück ihres Rechtes ihnen vorenthält, dauernd weder dem Staate noch dem Kronland vertrauen, sie sehen die Notwendigkeit der nationalen Autonomie am ehesten ein. Aber schwer bekehrt sich die Bourgeoisie dieser Minderheiten ganz zu ihr. Immer noch ist im Rahmen des ihnen feindlichen Landes da oder dort ein Bezirk oder eine Stadt, wo sie kraft der sonst bekämpften Pseudoautonomie über die andere Nation Vorherrschaft üben. Was sie im ganzen schädigt, fördert sie im einzelnen. Zugleich ist der Bourgeoisie als Klasse diese Pseudoautonomie sehr recht, weil sie ihr das Proletariat unterwirft. So entsteht eine wunderlich gemischte Psychologie in diesen Minderheitsbourgeoisien, sie sind zentralistisch und autonomistisch, oligarchisch und demokratisch, staatsfeindlich und regierungsfromm, rabiat und unterwürfig in einem Atemzug.
Geschlossene Kronlandsnationen, nationale Mehrheiten und Minderheiten operieren immer mit falschen Zielen, sie flüchten bald vom Staate weg zum Kronland, bald vom Kronland zum Staat. Da aber jede Nation in mehreren und verschieden zusammengesetzten Kronländern wohnt, so kommt keine zu einer einheitlichen Politik im Staate. Ihr Ziel aber muss sein: Weg von Staat und weg von Kronland, hin zur Nation! Neben dem Staat, über die Schranken der Länder hinaus, zur Einheit und Freiheit der Nation.
Indessen ist dieses Ziel ein verfassungsrechtliches, aber seine Erreichung geht der Begründung der nationalen Verwaltung parallel. Erst im Lichte desselben werden wir die wenigen Ansätze nationalen Rechts als Beginn einer systematischen Rechtsentwicklung begreifen.
Die nationale Verwaltungsautonomie setzt sich zuerst in den gemischtsprachigen Kronländern durch als Trennung der Organe der Landesverwaltung. Man beginnt für das Schulwesen und die Landeskultur nationale Sektionen zu schaffen. Diese sind auf dem Gebiete der Verwaltung der erste Schritt wie die nationalen Minister und die nationale Wahlbezirksabgrenzung in der Verfassung. Es liegt auf der Hand, dass die Scheidung aus gleichen politischen und technischen Gründen analog in der Gemeinde, Stadtund Bezirksverwaltung ihre Fortsetzung finden muss und wird. Wenn wir die Verwaltungsinstanzen stufenweise als Lokal-, Mittel- und Zentralstellen bezeichnen, so haben wir bis jetzt in den Sektionen der Landesschulräte und Landeskulturräte Ansätze nationaler Mittelstellen, in den nationalen Ministern Ansätze zu Zentralstellen, in den getrennten Gemeindeausschüssen, wie sie für Budweis vorgeschlagen wurden, vielleicht einen Ansatz zu nationalen Lokalverwaltungsstellen. So kommt allmählich Zusammenhang in die Dinge, unsere Aufgabe gewinnt an Uebersicht, bekommt Plan. Wir haben auf jeder Stufe weiterzubauen, wir haben die Stufen untereinander zu verbinden. Zugleich ermessen wir, wie wenig da ist, wieviel zu schaffen bleibt und wie langsam das neue nationale Rechtssystem geboren wird. Wir erkennen, dass wir es mit einer schrittweisen Entwicklung, nicht mit auf einmal dekretierten Organisationen zu tun haben. Nichts kann förderlicher sein, als für diese Entwicklung alle denkbaren Formen und Ziele auszudenken, als Projekte zu ersinnen und zu begründen, aber nichts wäre törichter, als zu hoffen, das eine oder das andere morgen den Nationen von oben zumessen zu wollen, wie man einem Jungen einen neuen Anzug anmessen lässt. Was die einen vorausdenken, müssen die Massen nachdenken lernen, das Urteil der Massen wird die Ideen erfüllen oder berichtigen je nach dem Diktat der Verhältnisse. Idee und Interesse werden einander durchdringen und befruchten, auf dass die Tat geboren werde, die Tat oder besser Reform um Reform, da wir auch auf diesem Gebiete nur gehen können, indem wir Schritte machen.
Die bürgerliche politische Weisheit hat die »nationalen Kurien« in den Landtagen und die »nationalen Sektionen« in der Landesverwaltung erfunden, der Ruhm soll ihr ungeschmälert bleiben. Doch dürfen wir die Schranken dieser Erfindung und Schöpfung nicht übersehen: sie liegen in den Schranken des bürgerlichen politischen Denkens überhaupt, welches durch das Interesse der herrschenden Klasse bestimmt ist. Dieses Denken sieht niemals den Vertretenen (das Volk), sondern auf den Vertreter (das Landtagsmitglied), niemals auf die Massen, denen die Verwaltung dienen soll, sondern auf jenen, der die Verwaltung führt, auf den Bureaukraten. Nun handelt es sich bei der ganzen nationalen Auseinandersetzung um die Rechte der Nation selbst und jedes Nationsgenossen. Solche Rechte begründet weder die Kurie noch die Sektion. Sie scheiden Gewählte oder Aemter, sie ist eine geschäftsordnungsmässige und bureaukratische Massregel, aber keine Verfassungsnorm und kein demokratisches Volksrecht. Soll die Nation wirklich sich selbst verwalten, so muss die Verwaltung auf dem Recht des einzelnen Nationsgenossen und der Nationsgesamtheit basieren, wir müssen also die Nationsgenossen selbst zu übergeordneten, gesetzgebenden und verwaltenden Körperschaften organisieren, die aus eigenem Recht entscheiden, selbst Vermögen besitzen, Steuer erheben und verwenden können. Kurien und Sektionen aber sind – als geschichtliche Uebergangs-stufen zu begrüssen – Zwitterbildungen, die allen Segen, den sie stiften, wettmachen durch die Reibungen, die sie verursachen, und die Hemmungen, welche ihre bureaukratische Natur zur Folge hat. Die Selbstverwaltung der Nationen muss demokratisch vor allem sein, wenn diese zur vollen Entfaltung ihrer kulturellen Kräfte gelangen sollen. Die demokratische Organisation wird die Aemterfrage, die uns gar so unlöslich erscheint, einfach verschwinden machen – die Schweiz kennt zum Beispiel die nationale Frage in ihren grössten Problemen gar wohl, aber die Aemterfrage kennt sie nicht. In unserem Lande aber hat man nicht die geringste
Ahnung davon, was die Demokratie in der Verwaltung bedeutet, man hat davon die abenteuerlichsten Vorstellungen. Wir müssen sie unserer öffentlichen Meinung erst geistig näher bringen, erst geistig erobern, bevor wir sie realisieren können.
Sobald wir die Frage der nationalen Verfassung und Verwaltung aufwerfen, wird uns klar: Wir können zu den Nationen nicht gelangen als mitten durch Staat und Kronland, mitten durch die landesfürstliche und autonome Verwaltung. Haben wir insbesondere die nationale Verwaltung vor Augen, so wird uns klar: Wir haben nicht bloss ein Einzelgesetz zu geben, bloss eine Behörde zu schaffen, sondern das gesamte Behördensystem, seine gesamten Kompetenzen stehen in Frage. Wir kommen zu der leiblichen Seite der nationalen Autonomie, zur nationalen Selbstverwaltung, nur durch eine erschöpfende Kritik unserer gesamten Staats-, Kronlands- und Gemeindeverwaltung! Eine unermessliche Fülle von Problemen steht vor uns.
Bisher war fast nur eines unserer politischen Kritik unterworfen: die Zusammensetzung des Abgeordnetenhauses. Kritik und Massenkampf waren hierbei eins. Nun muss Kritik und Kampf die Landtage und Gemeindestuben treffen. Zunächst aus sozialen Gründen, denn beide sind die Zuflucht der Feudalität und der Bourgeoisie vor den besitzlosen Klassen, die das gleiche Recht fordern. Dann aber aus nationalen Gründen: Wir müssen über die Landesgrenzen hinaus zur Einheit der Nation gelangen. Das brauchen wir Deutsche, das brauchen die Tschechen, die Polen, das braucht jede Nation in Oesterreich. Wir deutsche Sozialdemokraten können zum Beispiel nicht dulden, dass unsere Volksschule, das höchste Gut der Nation und der Klasse, verschiedenen unverantwortlichen verborgenen Landtagscliquen preisgegeben wird. Ueber die deutsche Schule muss die deutsche Nation in Oesterreich schon darum entscheiden, weil wir den grösseren Teil unserer Nationsgenossen nicht den Klerikalen mancher Alpenländer bedingungslos ausliefern können. Die Schulautonomie vor dem Staat in allen Ehren – wir wollen auch nicht und es wäre sinnlos, dass etwa der Polenklub in unser niederösterreichisches Schulwesen dareinrede. Aber dass eine Landtagsclique das Recht haben soll, der ganzen Nation zu trotzen, die Schulautonomie vor der Nation ist unerträglich. Wollen die deutschen Landtage sich der deutschen Nation als Gesamtheit nicht beugen, so muss man das Recht und die Macht haben, sie zu zwingen. Die nationale Einordnung der Kronländer bedeutet natürlich nicht ihre Aufhebung, ja sie berührt nicht einmal den Rechtskreis, in dem sie aus guten Gründen autonom sind, zum Beispiel die rein territorialen, wirtschaftlichen und sozialen Kompetenzen der Landtage. – Die tschechischen Sozialdemokraten haben alle Gründe, dafür einzutreten, dass auch ihre Nation selbständige Einheit werde und nicht den Zentralstaat um Lehranstalten anbetteln müsse, welche für die Nation so dringend not tun wie eine zweite Universität.
Wir wissen sehr wohl, dass die Landtagscliquen nicht unsere einzigen Feinde sein werden. Das zweite Stück des nationalen Rechtes hat, wie schon erwähnt, die zentralistische Bureaukratie an sich gerissen, sie muss es herausgeben und wird der Machtminderung widerstreben, aus Machtliebe, aus Indolenz, aus Einsichtslosigkeit. Wir haben bis jetzt niemand für uns als die Vernunft und das lebendige Interesse der Massen, das ist sowohl das Klasseninteresse der Besitzlosen als auch das nationale Interesse eines jeden, der seine Nation wahrhaft liebt, es gilt die Vernunft mit dem Interesse dieser Massen durch Forschung und Propaganda zu vermählen und die nationale Autonomie wird siegen!
Zuletzt aktualisiert am 6. April 2024