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Freitag, 9. November
„Nowotscherkassk, 8. November.
Der Aufstand der Bolschewiki und ihr Versuch, die Provisorische Regierung zu stürzen und in Petrograd die Macht an sich zu reißen, veranlaßt die Kosakenregierung zu der Erklärung, daß sie diese Handlungen für verbrecherisch und absolut unzulässig erachtet. Die Kosaken werden darum die Provisorische Regierung, die eine Koalitionsregierung ist, mit ihrer ganzen Macht unterstützen. Unter diesen Umständen werde ich selbst mit dem Beginn des 7.November im Dongebiet die gesamte Macht übernehmen bis zur Rückkehr der Provisorischen Regierung und der Wiederherstellung der Ordnung in Rußland.
Gezeichnet: Ataman Kaledin,
Präsident der Regierung der Kosakentruppen.“
Befehl des Ministerpräsidenten Kerenski, datiert in Gatschina:
“Ich, der Ministerpräsident der Provisorischen Regierung und Oberster Befehlshaber aller bewaffneten Kräfte der Russischen Republik, erkläre, daß ich persönlich die Führung der Frontregimenter übernommen habe, die dem Vaterlande treu geblieben sind.
Ich befehle allen Truppen des Petrograder Militärbezirks, die durch Mißverständnis oder aus Torheit dem Ruf der Verräter am Vaterland und an der Revolution gefolgt sind, die unverzügliche Rückkehr zu ihrer Pflicht. Dieser Befehl ist allen Regimentern, Bataillonen und Kompanien vorzulesen.
Gezeichnet: A.F. Kerenski
Ministerpräsident der Provisorischen Regierung
und Oberster Befehlshaber.“
Telegramm Kerenskis an den Kommandierenden General der Nordfront:
“Die Stadt Gattschina wurde von regierungstreuen Truppen genommen und ohne Blutvergießen besetzt. Kompanien von Kronstädter Matrosen und Soldaten des Semjonowski- und des Ismailowski-Regiments haben bedingungslos die Waffen gestreckt und sich den Regierungstruppen angeschlossen.
Ich befehle allen für den Vormarsch bestimmten Transporten, schnell vorzurücken. Vom Revolutionären Militärkomitee haben die Truppen den Befehl erhalten, zurückzugehen.“
Das etwa dreißig Kilometer südwestlich gelegene Gattschina war im Verlaufe der Nacht gefallen. In der Umgebung führerlos umherirrende Abteilungen der in dem Telegramm genannten Regimenter waren in der Tat von Kosaken umzingelt und entwaffnet worden. Es traf aber nicht zu, daß sie sich den Regierungstruppen angeschlossen hatten. Gerade jetzt befanden sich Trupps von ihnen verwirrt und beschämt im Smolny, bemüht zu erklären, wie sich die Sache abgespielt hatte. Sie hätten die Kosaken nicht so nahe vermutet und dann versucht, sie zu überreden.
An der revolutionären Front herrschte offensichtlich die größte Verwirrung. Die Garnisonen der südlich gelegenen kleinen Städte hatten sich in zwei, manchmal in drei einander bekämpfende Parteien gespalten. Die Offiziere hielten in Ermangelung einer stärkeren Autorität zu Kerenski, die Mehrheit der Soldaten zu den Sowjets. Der Rest schwankte unschlüssig hin und her.
Schnell entschlossen betraute das Revolutionäre Militärkomitee mit der Verteidigung Petrograds einen ehrgeizigen ehemaligen Hauptmann der regulären Armee namens Murawjow [1], der während des Sommers die Todesbataillone organisiert und sich der Regierung gegenüber einmal geäußert hatte, daß sie zu sanft mit den Bolschewiki verfahre. Diese müßten vom Erdboden vertilgt werden. Ein Mann von ausgesprochen militärischem Denken und vielleicht aufrichtiger Bewunderung für Macht und Kühnheit.
Als ich am Morgen mein Haus verließ, waren neben meiner Tür zwei neue Befehle des Revolutionären Militärkomitees angeschlagen, in denen angeordnet wurde, daß die Läden und Magazine wie gewöhnlich offenzuhalten und alle leerstehenden Räume und Wohnungen zur Verfügung des Komitees zu halten seien.
Seit sechsunddreißig Stunden waren nun die Bolschewiki von dem übrigen Rußland abgeschnitten. Die Eisenbahner und die Telegrafenarbeiter weigerten sich, ihre Anordnungen weiterzugeben, und die Postbeamten, ihre Post zu befördern. Nur die Regierungsstation für drahtlose Telegrafie in Zarskoje Selo schleuderte halbstündlich Bulletins und Manifeste in alle Himmelsrichtungen, und mit den Kommissaren der Stadtduma zugleich fuhren auf schnellen Zügen die Kommissare des Smolny durch das ganze Land. Hoch in der Luft zogen zwei Flugzeuge mit Propagandamaterial beladen der Front zu.
Aber die Ausbreitung des Aufstandes ging mit märchenhafter Schnelligkeit vor sich. In Helsingfors erklärte sich der Sowjet für die Revolution. In Kiew hatten sich die Bolschewiki des Arsenals und der Telegrafenstation bemächtigt und wurden nur von den Delegierten des Kosakenkongresses vertrieben, die dort zusammengekommen waren. In Kasan hatte das Revolutionäre Militärkomitee den lokalen Garnisonstab und den Kommissar der Provisorischen Regierung verhaftet. Aus dem fernen Krasnojarsk in Sibirien kamen Nachrichten, daß die Sowjets die Kontrolle der städtischen Einrichtungen in die Hände genommen hätten. In Moskau, wo sich die Situation infolge eines umfangreichen Streiks der Lederarbeiter und der Androhung einer allgemeinen Aussperrung durch die Unternehmer besonders zugespitzt hatte, beschlossen die Sowjets mit überwältigender Mehrheit die Unterstützung der Petrograder Bolschewiki. Ein Revolutionäres Militärkomitee war bereits gebildet worden und in Funktion.
Die Entwicklung war überall die gleiche. Die große Mehrheit der gemeinen Soldaten und die Industriearbeiter unterstützten die Sowjets, während die Offiziere, die Offiziersschüler und die Mittelklasse im allgemeinen, ebenso wie die bürgerlichen Kadetten und die „gemäßigten“ Sozialisten, sich auf die Seite der Regierung stellten. In allen diesen Städten bildeten sich Komitees zur Rettung des Vaterlandes, die sich für den Bürgerkrieg rüsteten.
Das große Rußland befand sich in einem Zustande der Auflösung. Schon 1905 begann dieser Prozeß. Die Märzrevolution hatte ihn nur beschleunigt, und alle Anstrengungen der in dieser Revolution zur Macht gelangten Kompromißler hatten nichts als eine vorläufige Konservierung des innerlich hohlen alten Regimes gezeitigt. All dies hatte sich nun unter dem Ansturm der Bolschewiki in einer einzigen Nacht in ein Nichts aufgelöst, so wie man eine Rauchwolke auseinanderbläst. Das alte Rußland war nicht mehr. Die alte Gesellschaft schmolz in der Gluthitze der Revolution, und aus dem brodelnden Flammenmeer stiegen der Klassenkampf, gewaltig und mitleidslos, und die noch zerbrechliche, langsam erkaltende Kruste einer neuen Welt.
In Petrograd streikten sechzehn Ministerien unter der Führung des Ministeriums für Arbeit und des Ministeriums für Ernährung – die beiden einzigen, die von der sozialistischen [2] Regierung im August gebildet worden waren.
Wenn jemals Männer alleingestanden haben, so war es die „Handvoll Bolschewiki“ an jenem trüben, kalten Morgen in den von allen Seiten wild über sie hinbrausenden Stürmen. [1*] Mit dem Rücken gegen die Wand kämpfte das Revolutionäre Militärkomitee um sein Leben. „De l’audace, encore de l’audace, et toujours de l’audace!“ [3] ... Um fünf Uhr morgens besetzten die Rotgardisten die Räume der Staatsdruckerei, beschlagnahmten Tausende von Exemplaren des Protestaufrufes der Duma und verboten das offizielle städtische Organ. Alle bürgerlichen Zeitungen waren verboten, sogar Golos Soldata, das Organ des alten Zentralexekutivkomitees – das indessen unter einem andern Namen, Soldatski Golos, in einer Auflage von hunderttausend Exemplaren herauskam:
„Die Männer, die in der Nacht ihren verräterischen Streich begannen, die die Zeitung verbieten, werden das Land nicht lange in Unwissenheit halten können. Das Land wird die Wahrheit erfahren! Es wird euch, ihr Herren Bolschewiki, durchschauen! Wir werden sehen! ...“
Als wir kurz nach zwölf Uhr den Newski hinunterkamen, hatte sich vor dem Dumagebäude eine die ganze Straße füllende Menschenmenge angesammelt. Hin und wieder sah man Rotgardisten und Matrosen mit aufgepflanzten Bajonetten, jeder umringt von zirka hundert Männern und Frauen – Büroangestellten, Studenten, Ladeninhabern –, mit erhobenen Fäusten, Beschimpfungen und Drohungen über sie ausschüttend.
Auf den Stufen Pfadfinder und Offiziere, die Nummern des Soldatski Golos verteilten. Ein Arbeiter mit einer roten Armbinde und einem Revolver in der Hand stand, zitternd vor Wut und Nervosität, inmitten einer feindlichen Menge am Fuße der Treppe und verlangte die Herausgabe der Zeitungen ...
Nie in der Geschichte hat sich ähnliches zugetragen. Auf der einen Seite eine Handvoll Arbeiter und gewöhnliche Soldaten im Besitz der Waffen, die siegreiche Revolution repräsentierend – und dabei in vollster Armseligkeit; auf der anderen Seite ein wütender Haufen von Leuten, wie sie um die Mittagszeit die Bürgersteige der fünften Avenue zu bevölkern pflegen, spöttelnd, schimpfend, schreiend: „Verräter, Provokateure!“
Die Tore wurden von Studenten und Offizieren bewacht, die weiße Armbinden mit der Aufschrift: „Miliz des Komitees für die öffentliche Sicherheit“ trugen, und ein halbes Dutzend Pfadfinder kamen und gingen. Oben helle Aufregung. Hauptmann Gomberg kam die Treppe herunter. „Sie wollen die Duma auflösen“, sagte er. „Der bolschewistische Kommissar ist gerade beim Bürgermeister.“ Als wir nach oben kamen, stürzte Rjasanow aus dem Zimmer heraus. Er war gekommen, um von der Duma die Anerkennung des Rates der Volkskommissare zu fordern, und der Bürgermeister hatte ihm eine glatte Absage gegeben.
In den Büros fand ich eine große, schwatzende Menge, hin- und hereilend, schreiend, gestikulierend – Beamte, Intellektuelle, Journalisten, ausländische Korrespondenten, französische und englische Offiziere ... Der Stadtbaumeister wies triumphierend auf sie. „Die Gesandtschaften erkennen als einzige Macht nur die Duma an“, erklärte er. „Für diese bolschewistischen Mörder und Räuber ist es nur noch eine Frage von Stunden. Das ganze Rußland schart sich um uns.“
Im Alexandersaal eine riesige Versammlung des Komitees zur Rettung des Vaterlandes und der Revolution. Filippowski hatte den Vorsitz, und Skobelew berichtete unter ungeheurem Beifall über neue Beitritte zum Komitee: Exekutivkomitee der Bauernsowjets, altes Zentralexekutivkomitee, zentrales Armeekomitee, Zentroflot, Menschewiki – Internationalisten, Sozialrevolutionäre und Frontgruppendelegierte zum Kongreß der Sowjets, Zentralkomitees der Menschewiki, der Sozialrevolutionäre, der Volkssozialisten, die Gruppe „Jedinstwo“, Bauernverband, Genossenschaften, Semstwos, Stadtverwaltungen, Post- und Telegrafenverbände, der Wikshel, Rat der Russischen Republik, Verband der Verbände [A], Kaufmanns- und Fabrikantenvereinigung ...
„... Die Macht der Sowjets ist nicht eine demokratische macht, sondern eine Diktatur – und nicht eine Diktatur des Proletariats, sondern gegen das Proletariat. All jene, die wissen, was revolutionäre Begeisterung ist, müssen sich für die Verteidigung der Revolution verbünden ...
Die Aufgabe des Tages ist nicht nur, unverantwortliche Demagogen unschädlich zu machen, sondern den Kampf gegen die Konterrevolution aufzunehmen ... Wenn die Gerüchte wahr sind, daß gewisse Generale in den Provinzen aus den Geschehnissen Vorteil ziehen wollen, um gegen Petrograd zu marschieren, so ist das nur ein weiterer Beweis, daß wir die solide Basis einer demokratischen Organisation schaffen müssen. Andernfalls werden aus den Schwierigkeiten, die wir mit den Linken haben, Schwierigkeiten mit den Rechten erwachsen.
Die Garnison von Petrograd kann nicht gleichgültig bleiben, wenn Bürger, die den Golos Soldata kaufen, und Zeitungsjungen, die die Rabotschaja Gaseta verkaufen, in den Straßen verhaftet werden.
Die Stunde der Resolutionen ist vorüber ... Laßt jene, die den Glauben an die Revolution verloren haben, sich zurückziehen ... um eine vereinigte Macht aufzurichten, müssen wir von neuem das Prestige der Revolution herstellen ...
Laßt uns schwören, daß wir entweder die Revolution retten oder untergehen werden!“
Der ganze Saal erhob sich, Beifall klatschend, mit blitzenden Augen. Aber nicht ein einziger Proletarier war zu sehen ...
Dann Weinstein:
„Wir müssen ruhig bleiben und nicht eher zur Aktion schreiten, bevor die öffentliche Meinung sich fest um das Komitee zur Rettung des Vaterlandes und der Revolution geschart hat – erst dann können wir von der Verteidigung zum Angriff übergehen!“
Der Vertreter des Wikshel teilte mit, daß seine Organisation die Initiative zur Bildung einer neuen Regierung übernommen habe und daß seine Delegierten im Augenblick die Frage mit dem Smolny diskutierten ... Eine heiße Debatte entbrannte: Sollte man die Bolschewiki in die neue Regierung aufnehmen? Martow plädierte für ihre Zulassung. „Sie sind schließlich“, sagte er, „eine bedeutende politische Partei.“ Die Meinungen darüber gingen auseinander. Die rechten Menschewiki und die Sozialrevolutionäre wie auch die Volkssozialisten, die Genossenschaften und die bürgerlichen Elemente waren entschieden dagegen ...
„Sie haben Rußland verraten“, erklärte ein Redner. „Sie haben den Bürgerkrieg begonnen und die Front den Deutschen geöffnet. Die Bolschewiki müssen erbarmungslos zusammengehauen werden ...“
Skobelew war für den Ausschluß sowohl der Bolschewiki wie der Kadetten.
Wir begannen eine Unterhaltung mit einem jungen Sozialrevolutionär, der seinerzeit zusammen mit den Bolschewiki die Demokratische Konferenz verlassen hatte, als Zereteli und die „Kompromißler“ der Demokratie Rußlands die Koalitionsregierung aufgezwungen hatten.
„Sie hier?“ fragte ich ihn. Seine Augen schossen Blitze.
„Ja!“ schrie er. „Ich verließ den Kongreß zusammen mit meiner Partei Mittwoch nacht. Ich habe nicht mein Leben zwanzig Jahre und mehr aufs Spiel gesetzt, um mich jetzt der Tyrannei des unwissenden Pöbels zu unterwerfen. Ihre Methoden sind unerträglich. Aber sie haben nicht mit den Bauern gerechnet ... Wenn die Bauern in Aktion treten werden, dann dürften sie in Minuten erledigt sein.“
„Aber die Bauern – werden sie handeln? Befriedigt das Landdekret nicht die Bauern? Was wünschen diese mehr?“
„Ah, das Landdekret!“ sagte er wütend. „Wissen Sie, was das Landdekret ist? Es ist unser Dekret – es ist das sozialrevolutionäre Programm, vollkommen! Meine Partei hat diese Politik formuliert, auf Grund der sorgfältigsten Prüfung der Wünsche der Bauern selbst. Es ist ein Diebstahl ...“
„Aber wenn es ihre eigene Politik ist, warum sind Sie dagegen? Wenn sie den Wünschen der Bauern entspricht, warum sollen diese dagegen sein?“
„Sie verstehen nicht! Sehen Sie nicht, daß die Bauern sofort begreifen werden, daß das Ganze ein Betrug ist – daß diese Usurpatoren das Programm der Sozialrevolutionäre gestohlen haben?“
Ich fragte, ob es wahr sei, daß Kaledin gegen Norden marschiere.
Er nickte und rieb sich die Hände, voll bitterer Befriedigung. „Ja. Sehen Sie jetzt, was diese Bolschewiki angerichtet haben. Sie haben die Konterrevolution gegen uns in Bewegung gebracht. Die Revolution ist verloren. Die Revolution ist verloren.“
„Aber werden Sie die Revolution nicht verteidigen?“
„Natürlich werden wir sie verteidigen, bis zu unserem letzten Blutstropfen. Jedoch werden wir unter keinen Umständen mit den Bolschewiki zusammengehen ...“
„Aber wenn Kaledin nach Petrograd kommt und die Bolschewiki die Stadt verteidigen. Werden Sie sich ihnen nicht anschließen?“
„Natürlich nicht. Wir werden die Stadt auch verteidigen, aber wir werden die Bolschewiki nicht unterstützen. Kaledin ist der Feind der Revolution, aber auch die Bolschewiki sind Feinde der Revolution.“
„Wen ziehen Sie vor: Kaledin oder die Bolschewiki?“
„Darum handelt es sich jetzt nicht“, sagte er ungeduldig. „Ich sage Ihnen, die Revolution ist verloren. Und es sind die Bolschewiki, die schuld daran sind. Doch was sollen wir von solchen Dingen reden? Kerenski kommt ... Übermorgen werden wir zur Offensive übergehen ... Schon hat der Smolny Delegierte gesandt, die uns auffordern, an einer neuen Regierungsbildung teilzunehmen. Wir haben sie jetzt – sie sind absolut ohnmächtig ..., wir werden mit ihnen nicht zusammenarbeiten ...“
Draußen fiel ein Schuß. Wir liefen zu den Fenstern. Ein Rotgardist, durch die Sticheleien der Menge zur Verzweiflung gebracht, hatte einen Schuß abgegeben und ein junges Mädchen am Arm verwundet. Wir konnten sehen, wie sie in einen Wagen gehoben wurde, umringt von einer erregten Menge, deren Stimmen bis zu uns empordrangen. Im nächsten Augenblick erschien ein Panzerwagen an der Ecke des Michailowski, dessen Maschinengewehre hin- und herfuhren. Die Menge begann sofort zu laufen, wie das in Petrograd üblich ist, sie warf sich auf den Boden nieder, versteckte sich in den Straßenrinnen und hinter den Telefonmasten. Der Panzerwagen hielt vor der Treppe der Duma, und ein Mann steckte seinen Kopf aus dem Turm heraus, die Herausgabe des Soldatski Golos verlangend. Die Pfadfinder liefen ins Gebäude. Einen Augenblick lang fuhr der Panzerwagen unentschieden hin und her und verschwand dann den Newski hinauf, während einige hundert Männer und Frauen sich wieder erhoben und ihre Kleider abzustauben begannen ...
Im Innern des Gebäudes hin- und herrennende Menschen, den Arm voller Exemplare des Soldatski Golos, nach einem Platz suchend, um sie zu verstecken ...
Ein Journalist kam in das Zimmer gelaufen, er schwenkte ein Blatt Papier.
„Hier ist eine Proklamation von Krasnow!“ schrie er. Er war sofort umringt. „Drucken lassen, schnell drucken lassen, und dann in die Kasernen damit!“
“Auf den Befehl des Obersten Befehlshabers bin ich zum Befehlshaber der um Petrograd konzentrierten Truppen ernannt.
Bürger, Soldaten, tapfere Kosaken des Don, des Kuban, des Transbaikal, des Amur, des Jenissej, ihr alle, die ihr euerm Eid treu geblieben seid, die ihr geschworen habt, euern Kosakeneid treu zu halten – ich rufe euch auf, Petrograd zu retten vor der Anarchie, vor dem Hunger, vor der Tyrannei, Rußland zu erretten vor der unerträglichen Schande, die eine Handvoll mit dem Golde Wilhelms gekaufter, unwissender Männer über Rußland zu bringen versuchen.
Die Provisorische Regierung, der ihr in den großen Märztagen die Treue geschworen habt, ist nicht gestürzt, sie wurde nur mit Gewalt aus dem Gebäude getrieben, in dem sie ihre Sitzungen abhielt. Die Regierung jedoch, mit Hilfe der Fronttruppen, die treu ihre Pflicht erfüllen, mit Hilfe des Kosakenrates, der unter seinem Kommando alle Kosaken vereinigt, im Bewußtsein ihrer Stärke und in völliger Übereinstimmung mit dem Willen des russischen Volkes, hat geschworen, dem Lande zu dienen, ihren Vorfahren in den stürmischen Zeiten von 1612 gleich, da die Kosaken des Don das von den Schweden, den Polen und den Litauern bedrohte Moskau befreiten. [Eure Regierung besteht noch immer ...] [4]
Die aktive Armee blickt auf diese Verbrecher mit Empörung und Verachtung. Ihre Akte der Zerstörung und der Plünderungen, ihre Verbrechen, ihre deutsche Manier, mit der sie auf das – niedergeworfene, aber noch nicht besiegte – Rußland schauen, hat sie dem ganzen Volke entfremdet.
Bürger, Soldaten, tapfere Kosaken der Petrograder Garnison! Schickt mir eure Delegierten, damit ich weiß, wer Verräter an seinem Lande ist und wer nicht, damit unnützes Blutvergießen vermieden wird.“
Fast im selben Moment hieß es, daß Rotgardisten im Begriff seien, das Gebäude zu umzingeln. Ein Offizier trat herein, mit einer roten Armbinde, und verlangte den Bürgermeister. Wenige Minuten später ging er, und der alte Schrejder kam aus seinem Büro, abwechselnd rot und blaß im Gesicht.
„Eine außerordentliche Sitzung der Duma!“ schrie er. „Sofort!“ In dem großen Saal wurden die Geschäfte unterbrochen. „Alle Mitglieder der Duma zu einer außerordentlichen Sitzung!“
„Was ist los?“
„Ich weiß nicht – man will uns verhaften – man will die Duma auflösen – man verhaftet Mitglieder vor dem Tor!“ – so liefen die Gerüchte.
Im Nikolaisaal war kaum Platz zum Stehen. Der Bürgermeister gab bekannt, daß an allen Eingängen Truppen stationiert seien, die niemand herein und heraus ließen, und daß ein Kommissar gedroht habe, die Stadtduma aufzulösen und ihre Mitglieder zu verhaften. Eine Flut leidenschaftlicher Reden von Mitgliedern und sogar von den Galerien war die Antwort. Die frei gewählte Stadtverwaltung könne von keiner Macht aufgelöst werden; die Person des Bürgermeisters und aller anderen Mitglieder sei unverletzlich; die Tyrannen, die Provokateure, die deutschen Agenten könnten niemals anerkannt werden; was die Drohung mit der Auflösung anbelange, so sollten sie nur versuchen – „nur über unsere Leichname werden sie in diesen Saal eindringen, wir werden, den römischen Senatoren der Antike gleich, mit Würde das Kommen der Barbaren erwarten ...“
Entschließung, die Dumas und Semstwos von ganz Rußland telegrafisch zu benachrichtigen. Entschließung, daß es für den Bürgermeister oder den Präsidenten der Duma unmöglich sei, in irgendwelche Beziehungen zu den Vertretern des Revolutionären Militärkomitees oder zu dem sogenannten Rat der Volkskommissare zu treten. Resolution, einen neuen Appell an die Bevölkerung Petrograds zu richten, sich für die Verteidigung ihrer erwählten Stadtregierung zu erheben. Resolution, in permanenter Tagung zusammenzubleiben ...
Inzwischen kam ein Mitglied mit der Nachricht, daß er mit dem Smolny telefoniert und daß das Revolutionäre Militärkomitee ihm erklärt habe, daß keinerlei Befehle gegeben worden seien, die Duma zu umzingeln, und daß die Truppen zurückgezogen würden.
Als wir die Treppen hinunterkamen, stürmte, in höchster Aufregung, Rjasanow durch das Haupttor.
„Werden Sie die Duma auflösen?“ fragte ich.
„Mein Gott, nein!“ antwortete er. „Es ist alles ein Irrtum. Ich habe dem Bürgermeister heute morgen mitgeteilt, daß wir die Duma in Ruhe lassen würden ...“
Aus dem Newski, in der sinkenden Dämmerung, kam eine lange doppelte Reihe Radfahrer mit Gewehren über ihren Schultern. Sie hielten. Die Menge drängte auf sie ein, sie mit Fragen überhäufend.
„Wer seid ihr? Woher kommt ihr?“ fragte ein ältlicher dicker Mann mit einer Zigarre im Munde.
„Zwölfte Armee, von der Front. Wir kommen, um die Sowjets gegen die verdammten Bourgeois zu verteidigen.“ Wütende Schreie. „Ah! Bolschewistische Gendarmen! Bolschewistische Kosaken!“
Ein kleiner Offizier in einem Ledermantel kam die Stufen heruntergeeilt. „Die Garnison schwankt!“ rief er mir zu. „Das ist der Anfang vom Ende der Bolschewiki. Wollen Sie sehen, wie die Zeiten sich ändern? Kommen Sie mit!“ Und fast laufend, eilte er den Michailowski hinauf. Wir hinter ihm her.
„Welches Regiment ist es?“
„Die Bronewiki.“ Und in der Tat war hier die Lage ernst. Die Bronewiki waren die Panzerwagentruppen, gewissermaßen der Schlüssel der ganzen Situation. Wer die Bronewiki hatte, der hatte sie Stadt. „Die Kommissare des Komitees zur Rettung des Vaterlandes und die Vertreter der Duma haben zu ihnen gesprochen.Jetzt haben sie eine Versammlung,wo sie entscheiden werden.“
„Was entscheiden? Auf wessen Seite sie kämpfen sollen?“
„O nein, so darf man ihnen nicht kommen. Sie werden niemals gegen die Bolschewiki kämpfen, sondern höchstens beschließen, neutral zu bleiben – dann aber werden die Offiziersschüler und Kosaken ...“
Das Tor der großen Michailowski-Reitschule gähnte schwarz. Zwei Posten versuchten uns anzuhalten. Aber wir huschten vorüber, ohne auf ihre wütenden Zurufe zu achten. Im Innern eine einzige, matt brennende Bogenlampe, hoch unter dem Dach der mächtigen Halle, deren luftige Pfeiler und Fensterbögen in der Dämmerung fast verschwanden. An den Seiten die dunklen Silhouetten riesiger Panzerwagen. Einer stand in der Mitte der Halle, direkt unter der Lampe, und um ihn herum waren an die zweitausend wettergebräunte Soldaten versammelt, fast verschwindend in der Riesenhaften Ausdehnung des Gebäudes. Ein Dutzend Leute, Offiziere und der Vorsitzende des Soldatenkomitees, waren auf dem Dach des Wagens postiert, und vom Turm aus sprach ein Soldat. Die war Chanshonow, der schon den im vergangenen Sommer abgehaltenen Gesamtrussischen Kongreß der Panzereinheiten geleitet hatte. Ein geschmeidiger hübscher Mensch in einem Lederrock mit Offiziersachselstücken, der mit lebhafter Beredsamkeit für die Neutralität der Truppen eintrat.
„Es ist entsetzlich, zu denken, daß Russen einander morden sollen. Es darf keinen Bürgerkrieg geben zwischen Soldaten, die Schulter an Schulter den Zaren und den äußeren Feind in Schlachten bezwungen haben, die noch lange in der Geschichte fortleben werden. Was kümmert uns Soldaten das Gezänk der politischen Parteien? Es fällt mir nicht ein, zu behaupten, daß die Provisorische Regierung eine demokratische Regierung war. Wir wollen keine Koalition mit der Bourgeoisie! Aber was wir haben müssen, ist eine Regierung der vereinten Demokratie, sonst ist Rußland verloren. Bekommen wir eine solche Regierung, dann ist der Bürgerkrieg unnötig und der Brudermord bleibt uns erspart.“
Das klang einleuchtend, und der weite Raum hallte vom Beifall wider.
Ein Soldat kletterte hinauf, blaß und übermüdet. „Genossen! Ich komme von der rumänischen Front, und ich sage euch, daß wir Frieden haben müssen, sofortigen Frieden. Wer immer uns den Frieden geben kann, seien es nun die Bolschewiki oder diese neue Regierung, dem werden wir folgen. Friede. Friede! Wir an der Front können nicht mehr kämpfen, weder gegen die Deutschen noch gegen die Russen“, und damit schloß er. Aus den wogenden Massen stieg ein Durcheinander streitender Stimmen, das sich zu zornigen Rufen steigerte, als der nächste Redner, ein Menschewik, sie zu überzeugen suchte, daß der Krieg weitergeführt werden müsse bis zum Siege der Alliierten.
„Du sprichst wie Kerenski!“ rief eine rauhe Stimme dem Redner zu.
Ein Dumadelegierter plädierte für Neutralität. Sie hörten ihm zu, aber voller Mißtrauen, fühlten, daß er nicht zu ihnen gehörte. Niemals wieder sah ich Männer so ängstlich bemüht, zu begreifen und richtig zu entscheiden, unbeweglich, in fast bedrohlicher Spannung auf die Redner starrend, die Augenbrauen zusammengezogen in der Anspannung des Nachdenkens, die Stirnen schweißbedeckt; Riesen an Gestalt, mit den klaren, unschuldigen Augen von Kindern und den Gesichtern von Helden.
Jetzt sprach ein Bolschewik, einer von ihren eigenen Leuten, heftig, haßerfüllt. Sie hörten ihm nicht mit mehr Sympathie zu als den anderen. Seine Art entsprach nicht ihrer Stimmung. Aber er riß sie einen Moment lang aus dem Trott alltäglichen kleinlichen Denkens empor zum Bewußtsein ihrer Verantwortung gegenüber dem Schicksal Rußlands, des Sozialismus, der Welt, der Revolution.
Redner folgte auf Redner, unter gespanntem, nur dann und wann von Beifalls- oder Zornesrufen unterbrochenem Schweigen abwechselnd für und gegen die Neutralität sprechend. Chanshonow redete noch einmal, hinreißend, sympathisch. Aber war er nicht ein Offizier, wieviel er immer vom Frieden sprach? Dann ein Arbeiter aus dem Stadtteil Wassili-Ostrow. Ihn empfingen sie mit den Worten: „Nun, Arbeiter, wirst du uns den Frieden bringen?“ Ganz in unserer Nähe hatten einige Leute, in der Mehrzahl waren es Offiziere, eine Art Claque gebildet, die systematisch für die Verteidiger der Neutralität Stimmung machte. „Chanshonow, Chanshonow!“ riefen sie fortgesetzt und zischten und pfiffen, wenn ein Bolschewik zu sprechen versuchte.
Plötzlich begannen auf dem Dach des Wagens die Komiteemitglieder und die Offiziere, die sich offenbar über irgend etwas uneinig geworden waren, aufgeregt und heftig gestikulierend aufeinander einzureden. Die Versammlung wurde aufmerksam und verlangte zu wissen, um was es sich handle. Ein Soldat, von einem Offizier zurückgehalten, riß sich los und hob seine Hand empor.
„Genossen“, schrie er, „der Genosse Krylenko ist hier und wünscht uns zu sprechen.“ Ein Sturm wilden Beifalls brach los, dann Pfeifen und Rufe: „Prossim! Prossim! – Doloi!“ (Hinauf! Hinauf! – Nieder mit ihm!). Währenddessen kletterte, von hilfsbereiten Händen gezogen und geschoben, der Volkskommissar für das Heer an der Seite des Wagens empor. Sich aufrichtend, stand er einen Moment, ging dann nach vorn, die Hände auf die Hüften gestützt, und blickte lächelnd um sich, eine kleine Gestalt, kurzbeinig, ohne Kopfbedeckung und ohne Rangabzeichen auf der Uniform.
Die Claque in meiner Nähe hörte nicht auf zu schreien: „Chanshonow, Chanshonow! Wir wollen Chanshonow hören! Hinunter mit ihm! Schluß, Schluß! Nieder mit dem Verräter!“ Die Aufregung begann allgemein zu werden. Da plötzlich eine Bewegung gleich einer auf uns niederrollenden Lawine: riesenhafte, zornigblickende Gestalten bahnten sich einen Weg durch das Gedränge.
„Wer stört hier unsere Versammlung? Woher das Pfeifen??“ Die Claque verstummte, drückte sich schleunigst und unterließ jede weitere Störung.
“Genossen Soldaten!“ begann Krylenko mit vor Müdigkeit heiserer Stimme. „Ich kann leider nur sehr schlecht zu euch sprechen, denn ich habe seit vier Tagen nicht mehr geschlafen.
Ich brauche euch nicht erst zu sagen, daß ich ein Soldat bin wie ihr und daß ich den Frieden wünsche. Was ich aber hier sagen muß, ist, daß die bolschewistische Partei, die mit eurer Hilfe und mit Hilfe vieler anderer braver Genossen in der siegreichen Arbeiter- und Soldatenrevolution die Macht der blutdürstigen Bourgeoisie stürzte, das von ihr gegebene Versprechen, ein Friedensangebot an alle kriegführenden Völker zu richten, bereits, und zwar am heutigen Tag, eingelöst hat.“ (Stürmischer Beifall.)
„Man fordert euch hier zur Neutralität auf, während die Offiziersschüler und die Todesbataillone, die niemals neutral sind, uns in den Straßen niederschießen und Kerenski oder irgendeinen andern von dieser Bande nach Petrograd zurückbringen wollen. Vom Don aus marschiert Kaledin; Kerenski kommt von der Front, und Kornilow hetzt die Tekinzy auf und will sein Augustabenteuer wiederholen. Die Menschewiki und Sozialrevolutionäre, die euch hier so ängstlich beschwören, doch um alles in der Welt den Bürgerkrieg zu verhindern, haben sie sich anders an der Macht halten können als vermittels des Bürgerkrieges, der seit dem letzten Juli nicht aufgehört hat zu wüten und in dem sie immer – genau wie heute – auf der Seite der Bourgeoisie zu finden waren?
Wie kann ich euch überzeugen, wenn ihr euch bereits festgelegt habt? Die Frage ist ganz klar. Auf der einen Seite die Kerenski, Kaledin, Kornilow, die Menschewiki, die Sozialrevolutionäre, die Kadetten, die Duma und die Offiziere. Auf der anderen Seite stehen die Arbeiter, die Soldaten und Matrosen, die armen Bauern. Die Regierung ist in euren Händen. Ihr seid die Herren. Ganz Rußland gehört euch. Wollt ihr es wieder zurückgeben?“
Nur mit der größten Willensanstrengung hielt er sich, während er redete, aufrecht; aber die ihn beseelende tiefe und ehrliche Begeisterung begann allmählich trotz seiner Ermüdung ihre Wirkung auf die Versammlung auszuüben. Als er geendet hatte, wäre er fast gefallen. Hundert Hände streckten sich ihm entgegen, ihm beim Herabsteigen behilflich zu sein.
Chanshonow versuchte erneut zu sprechen. Aber „abstimmen, abstimmen!“ schallte es ihm entgegen. Er gab schließlich nach und verlas die Resolution, die besagte, daß die Panzereinheit ihren Vertreter aus dem Revolutionären Militärkomitee zurückziehen und in dem gegenwärtigen Bürgerkrieg neutral bleiben würde. Wer für die Resolution war, sollte nach rechts, wer dagegen war, nach links treten. Es gab einen Moment des Schwankens. Dann aber begann die Menge, in immer schnellerem Tempo, einer über den anderen stolpernd, nach links zu fluten. Nicht weit von uns entfernt fanden sich gegen fünfzig Mann zusammen, die für die Resolution gestimmt hatten; das war alles. Während noch die Halle von dem Siegesjubel der anderen widertönte ‚ verließ das Häuflein eiligst das Gebäude – und einige von ihnen auch für immer die Revolution.
Derselbe Kampf spielte sich in allen Kasernen der Stadt ab, in allen Bezirken, an der ganzen Front, in ganz Rußland. Solcher Krylenkos gab es viele; nie zum Schlafen kommend, von Ort zu Ort eilend, die Regimenter überwachend, überredend, drohend, beschwörend. Dasselbe in sämtlichen Ortsorganisationen jeder einzelnen Gewerkschaft, in den Fabriken, in den Dörfern, auf den Kriegsschiffen der weitverstreuten russischen Flotte. In dem weiten Land Hunderttausende russischer Männer, Arbeiter, Bauern, Soldaten, Matrosen, um die Redner geschart, mit ungeheurem Willensaufwand zu begreifen, zu wählen bemüht, angespannt nachdenkend – und zu guter Letzt so einmütig entscheidend. So war die russische Revolution...
Der neue Rat der Volkskommissare im Smolny war inzwischen nicht müßig gewesen. Das erste Dekret war bereits im Druck und wurde in Tausenden von Exemplaren noch in derselben Nacht in den Straßen der Stadt verbreitet und in mächtigen Ballen mit den süd- und ostwärts fahrenden Zügen ins Land befördert:
“Im Namen der von dem Gesamtrussischen Sowjetkongreß der Arbeiter- und Soldatendeputierten unter Mitwirkung von Bauerndeputierten gewählten Regierung der Republik ordnet der Rat der Volkskommissare an :
Im Namen der Regierung der Russischen Republik
Der Vorsitzende des Rates der Volkskommissare
Wladimir Uljanow-Lenin.“
Die im Stadthaus tagende Duma war in voller Aufregung. Als wir ankamen, hatte gerade ein Mitglied des Rates der Russischen Republik das Wort. Der Rat, erklärte er, betrachte sich keineswegs als aufgelöst, er sei nur außerstande, seine Arbeiten fortzusetzen, solange er nicht einen neuen Sitzungsraum zur Verfügung habe. In der Zwischenzeit habe das Ältestenkollegium des Rates beschlossen, in corpore dem Komitee zur Rettung des Vaterlandes beizutreten. Dies war die letzte Lebensäußerung des Rates der Russischen Republik.
Dann kam das gewohnte Nacheinander von Delegierten aus den Ministerien, dem Wikshel, dem Verband der Post- und Telegrafenbeamten, die zum hundertsten Male ihren festen Willen bekundeten, unter keinen Umständen für die bolschewistischen Usurpatoren zu arbeiten. Ein Offiziersschüler, der mit im Winterpalast gewesen war, schilderte in stark aufgetragenen Farben seine und seiner Kameraden angebliche Heldentaten und das schmähliche Verhalten der Rotgardisten. Alles wurde kritiklos geglaubt. Irgend jemand las laut einen Bericht aus der sozialrevolutionären Zeitung Narod vor, der den im Winterpalast angerichteten Schaden auf fünfhundert Millionen Rubel veranschlagte und die angeblichen Plünderungen und Zerstörungen in allen Einzelheiten beschrieb.
Von Zeit zu Zeit kamen Kuriere mit neuen Telefonmeldungen: Die vier sozialistischen Minister seien aus dem Gefängnis entlassen worden. Krylenko sei in die Peter-Pauls-Festung gegangen, um an den Admiral Werderewski die Aufforderung zu richten, das noch unbesetzte Marineministerium zu übernehmen. Der alte Seemann habe akzeptiert. Kerenski habe von Gattschina aus den Vormarsch angetreten. Die bolschewistischen Garnisonen zogen sich vor ihm zurück. Im Smolny hätten sie ein neues Dekret herausgegeben, bestimmt, die Vollmachten der Stadtduma hinsichtlich der Lebensmittelversorgung zu umgrenzen.
Diese letzte „Unverschämtheit“ hatte einen Wutausbruch zur Folge. Lenin, der Usurpator und Tyrann, dessen Kommissare sich der städtischen Garagen und Vorratshäuser bemächtigt hatten, sich in die Tätigkeit der Ernährungsämter einmischten, dieser Lenin maßte sich an, die Grenzen der Macht der freien, unabhängigen, autonomen Stadtverwaltung bestimmen zu wollen. Ein Mitglied schlug zornentbrannt vor, der Stadt die Lebensmittelzufuhr zu sperren, wenn die Bolschewiki es wagen sollten, sich in die Geschäfte der Ernährungsämter einzumischen ... Ein anderer, Vertreter des Ernährungsamtes, schilderte die Situation als sehr ernst und forderte Maßnahmen zur beschleunigten Heranführung der Lebensmittelzüge.
Dedonenko teilte begeistert mit, daß die Garnison schwanke. Das Semjonowski-Regiment habe schon den Beschluß gefaßt, sich den Befehlen der sozialrevolutionären Partei zu unterstellen; Die Besatzungen der Torpedoboote auf der Newa seien unschlüssig. Es wurden sofort sieben Mitglieder bestimmt, die die Propaganda fortsetzen sollten ...
Dann betrat der alte Bürgermeister die Tribüne: „Genossen und Bürger! Ich erfahre soeben, daß das Leben der Gefangenen in der Peter-Pauls-Festung in Gefahr ist. Vierzehn Offiziersschüler von der Pawlowsker Schule sind von den bolschewistischen Wächtern geprügelt und gemartert worden. Einer hat den Verstand verloren. Jetzt drohen sie, die Minister zu lynchen!“ Ein Sturm der Entrüstung und des Schreckens brach los, der sich nur noch steigerte, als eine in Grau gekleidete, untersetzte kleine Frau das Wort verlangte. Dies was Wera Sluzkaja, eine alte Revolutionärin und ein bolschewistisches Mitglied der Duma.
„Das ist eine Lüge und Provokation“, erklärte sie, ungeachtet der gegen sie geschleuderten Schmähungen. „Die Arbeiter-und-Bauern-Regierung, die die Todesstrafe abgeschafft hat, kann solche Handlungen gar nicht dulden. Wir verlangen die unverzügliche Vornahme einer Untersuchung, und wenn an solchen Erzählungen auch nur ein Körnchen Wahrheit sein sollte, wird die Regierung nicht verfehlen, sofort die energischsten Maßnahmen zu treffen.“
Es wurde eine Kommission aus Mitgliedern aller Parteien ernannt und ‚ zusammen mit dem Bürgermeister, in die Peter-Pauls-Festung entsandt, um Erkundigungen einzuziehen. Als wir ihnen folgten, war die Duma dabei, eine weitere Kommission zu wählen, die mit Kerenski konferieren und auf ihn einwirken sollte, damit er Blutvergießen möglichst vermeide, wenn er in die Hauptstadt einzöge.
Es war Mitternacht, als wir die Wachen am Festungstor passierten und in dem schwachen Schimmer vereinzelter elektrischer Lampen dahinschritten, an der Kirche, wo die Zarengräber liegen, und dem schlanken goldenen Turm mit seinem Glockenspiel vorbei, das noch Monate nach der Märzrevolution nicht aufgehört hatte, jeden Mittag das „Gott erhalte den Zaren“ [5] zu spielen. Der Platz lag wie ausgestorben; die meisten Fenster blickten dunkel auf uns herab. Gelegentlich stießen wir auf Gestalten, die in der Dunkelheit ungeschickt dahinstolperten und unsere Fragen gewöhnlich mit „Ja ne snaju“ (Ich weiß nicht.) beantworteten.
Zu unserer Linken ragte drohend die Silhouette der Trubezkoi-Bastion empor, wo in den Tagen des Zaren so viele Märtyrer lebendig begraben wurden und ihren Verstand und ihr Leben verloren, wo die Provisorische Regierung dann die Minister des Zaren gefangenhielt und wo nun die neue Regierung die Minister der Provisorischen Regierung eingekerkert hatte. Ein freundlicher Matrose führte uns in ein kleines Haus, zum Büro des Kommandanten. Dort saßen in überheiztem, von Tabaksrauch erfülltem Raum, um einen lustig dampfenden Samowar, ein halbes Dutzend Rotgardisten, Matrosen und Soldaten. Sie begrüßten uns mit großer Herzlichkeit und boten uns Tee an. Der Kommandant sei nicht da. Er begleite eine Kommission von „Sabotashniki“ (Saboteuren) aus der Stadtduma, die sich nicht ausreden lassen wollten, daß hier alle gefangenen Offiziersschüler gemordet würden. Die revolutionären Soldaten fanden dies zu drollig. In einer Ecke saß ein kahlköpfiger, aufgeregter kleiner Herr in Gehrock und kostbarem Pelzmantel, der an seinem Schnurrbart kaute und wie eine gefangene Ratte um sich blickte. Er war eben verhaftet worden. Irgend jemand meinte nachlässig, daß er ein Minister oder dergleichen sei. Obwohl keinerlei Feindseligkeit ausgesetzt, war das Männchen augenscheinlich furchtbar ängstlich.
Ich ging zu ihm hinüber und sprach ihn auf Französisch an. „Graf Tolstoi“, antwortete er, sich steif verbeugend. „ich verstehe nicht, warum man mich verhaftet hat. Ich kam über die Troizki-Brücke, um nach Hause zu gehen, als zwei dieser – dieser Personen – mich anhielten. Ich war Kommissar der Provisorischen Regierung beim Generalstab, aber in keiner Weise Mitglied der Regierung ...“
„Laßt ihn gehen“, meinte ein Matrose. „Er ist ungefährlich ...“
„Nein“, antwortete der Soldat, der den Gefangenen gebracht hatte. „Wir müssen den Kommandanten fragen.“
„Oh, der Kommandant!“ sagte der Matrose. „Wozu habt ihr eigentlich die Revolution gemacht? Um nach wie vor den Befehlen von Offizieren zu gehorchen?“
Ein Fähnrich des Pawlowski-Regiments erzählte, wie der Aufstand begonnen hatte.
„Das Regiment hatte in der Nacht zum Sechsten Wachdienst beim Generalstab. Einige meiner Kameraden und ich standen Wache; Iwan Pawlowitsch und ein anderer – ich weiß im Moment seinen Namen nicht – saßen hinter den Fenstervorhängen in dem Zimmer, wo der Stab eine Sitzung abhielt, und sie hörten allerlei. Unter anderem auch Befehle an die Offiziersschüler von Gattschina, in der Nacht nach Petrograd zu kommen, und eine Befehl für die Kosaken, sich für den anderen Morgen marschfertig zu halten ... Die wichtigsten Stellen der Stadt sollten vor Tagesgrauen besetzt, dann die Brücken geöffnet werden. Als sie jedoch davon zu sprechen begannen, daß der Smolny umzingelt werden sollte, hielt Iwan Pawlowitsch es nicht länger aus. Es war in diesem Moment gerade ein großes Kommen und Gehen; so schlüpfte er hinaus und kam zur Wachstube herunter, der andere Genosse blieb oben, um aufzuschnappen, was er konnte.
Ich dachte mir schon, daß irgend etwas im Gange war. Automobile voller Offiziere kamen an, sämtliche Minister waren anwesend. Iwan Pawlowitsch teilte mir mit, was er gehört hatte. Es war halbdrei Uhr morgens. Der Schriftführer des Regimentskomitees war da, und wir machten ihm Mitteilung und fragten, was wir tun sollten.
‚Alles verhaften, was kommt und was geht!‘ sagte er. Das machten wir. Im Verlauf einer Stunde hatten wir einige Offiziere und ein paar Minister, die wir direkt nach dem Smolny bringen ließen. Das Revolutionäre Militärkomitee war jedoch nicht bereit; sie wußten nicht, was mit ihnen anfangen; und bald kam der Befehl, alle laufen zu lassen und niemand mehr zu verhaften. Wir stürmten natürlich gleich nach dem Smolny und haben etwa eine Stunde lang geredet, bis sie endlich kapierten, daß Krieg war. Es war genau fünf Uhr, als wir zum Stab zurückkamen, die meisten waren mittlerweile weg. Wir faßten aber doch einige, und die ganze Garnison war in Bewegung ...“
Ein Rotgardist von Wassili-Ostrow beschrieb in allen Einzelheiten, was sich in seinem Bezirk an dem großen Tag des Aufstandes abgespielt hatte.
„Wir hatten nicht ein Maschinengewehr dort“, sagte er lachend, „und der Smolny konnte uns keine geben. Genosse Salkind, ein Mitglied des Zentralbüros der Bezirksduma, erinnerte sich plötzlich, daß in dem Sitzungssaal der Bezirksduma ein Maschinengewehr lagerte, das von den Deutschen erobert worden war. Er und ich und dann noch ein anderer Genosse gingen hin, um es zu holen. Die Menschewiki und Sozialrevolutionäre hatten gerade eine Sitzung. Wir machten die Tür auf und gingen einfach hinein. Zwölf oder fünfzehn Personen saßen um einen Tisch herum, gegen uns drei. Als sie uns sahen, hörten sie auf zu sprechen und starrten uns an. Wir gingen, ohne uns umzusehen, durch das Zimmer, nahmen das Maschinengewehr auseinander, Genosse Salkind packte den einen Teil, ich den anderen; wir nahmen sie auf unsere Schulter und zogen ab – nicht einer sagte ein Wort!“
„Wissen Sie eigentlich, wie wir den Winterpalast nahmen?“ fragte ein dritter, ein Matrose. „So um elf Uhr herum hatten wir heraus, daß an der Seite der Newa keine Offiziersschüler mehr waren. Wir brachen die Tore ein und schlichen, teils einzeln, teils in Gruppen, die verschiedenen Treppen hinauf. Oben angekommen, wurden wir von den Offiziersschülern festgehalten, und sie nahmen uns unsere Gewehre ab. Von unseren Genossen kamen aber immer mehr, und schließlich hatten wir die Mehrheit. Jetzt drehten wir den Spieß um und nahmen den Offiziersschülern die Gewehre weg ...“
In diesem Moment trat der Kommandant herein, ein fröhlich dreinschauender junger Unteroffizier, seinen Arm in einer Binde und tiefe Ränder von Schlaflosigkeit unter den Augen. Sein erster Blick fiel auf den Gefangenen, der ihn sofort mit Erklärungen bestürmte.
„Ach, ich weiß“, unterbrach der andere. „Sie gehören mit zu dem Komitee, das am Mittwoch nachmittag die Kapitulation des Stabes verweigerte. Wir haben indes kein Interesse an Ihnen, Bürger. Entschuldigung —.“ Er öffnete die Tür und gab dem Grafen Tolstoi mit einer Handbewegung zu verstehen, daß er gehen könne. Verschiedene andere, besonders die Rotgardisten, wollten protestieren, und der Matrose bemerkte triumphierend: „Da habt ihr’s! Sagte ich’s nicht?“
Zwei Soldaten verlangten jetzt den Kommandanten zu sprechen. Sie waren ein von der Festungsgarnison gewähltes Protestkomitee. Die Soldaten beklagten sich darüber, daß die Gefangenen genauso verpflegt würden wie die Wachen, wo doch die vorhandenen Lebensmittel nicht einmal ausreichten, die Mannschaften satt zu machen. „Warum sollen wir die Konterrevolutionäre so gut behandeln?“
„Wir sind Revolutionäre, Genossen, und keine Banditen“, antwortete ihnen der Kommandant. Er wandte sich zu uns. Wir sprachen mit ihm über die Gerüchte, denen zufolge die Offiziersschüler gemartert würden und das Leben der Minister bedroht sei. „Könnten wir die Gefangenen wohl sehen, um in der Lage zu sein, diesen Erzählungen entgegenzutreten?“
“Nein!“ versetzte der junge Soldat. „ich will die Gefangenen nicht noch einmal stören. Ich habe sie eben erst wecken müssen – sie glaubten, wir kämen, sie umzubringen. Die meisten Offiziersschüler haben wir schon freigelassen, der Rest wird morgen gehen.“
„Dürfen wir mit der Dumakommission sprechen?“ Der Kommandant, der sich ein Glas Tee einschenkte, nickte.
„Sie sind noch draußen im Saal.“
So war es in der Tat. Die Kommissionsmitglieder standen draußen vor der Tür, im schwachen Licht einer Öllampe um den Bürgermeister geschart, aufgeregt miteinander redend.
„Herr Bürgermeister“, begann ich, „wir sind amerikanische Korrespondenten. Wollen Sie uns bitte offiziell das Resultat ihrer Nachforschungen mitteilen?“
Darauf der Bürgermeister:
„Die Berichte entsprachen nicht der Wahrheit. Von den Zwischenfällen abgesehen, die sich abspielten, als die Minister hier eingeliefert wurden, hat man sie durchaus rücksichtsvoll behandelt. Den Offiziersschülern ist kein Leid geschehen.“
Den Newski hinauf marschierte in tiefem Schweigen eine endlose Kolonne Soldaten – Kerenski entgegen ... In den Nebenstraßen sausten unbeleuchtete Automobile hin und her, und verstohlenes emsiges Treiben herrschte in der Fontanka Nr.6, dem Hauptquartier des Bauernsowjets, in einigen Wohnungen eines hohen Gebäudes am Newski und in der Ingenieurschule. Die Duma war hell erleuchtet ...
Im Revolutionären Militärkomitee wetterleuchtete es wie vor einem drohenden Gewitter.
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A. Siehe Einführende Bemerkungen und Erklärungen – J.R.
1. Murawjow war Oberstleutnant.
2. Der Menschewiki und Sozialrevolutionäre.
3. „Kühnheit, Kühnheit und abermals Kühnheit.“ Der berühmte Spruch Dantons in seiner Rede am 2. September 1792 in der Gesetzgebenden Versammlung Frankreichs über die militärische Gefahr und die Verteidigung der Revolution vor der Invasion der konterrevolutionären Koalition Preußens und Österreichs.
4. Die Worte in eckigen Klammern sind aus den Zeitungen nicht belegt.
5. Das Glockenspiel des Peter-Pauls-Kathedrale war Ehre sein Gott ...
Zuletzt aktualisiert am 15.7.2008