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Aus der Freie Volkszeitung (Göppingen), Nr. 287, 15. November 1911, gezeichnet „K. R.“
Kopiert mit Dank von der Webseite Sozialistische Klassiker 2.0.
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Die Konservativen gegen die Regierung, die Regierung gegen die
Konservativen! Solch ein schon lange ungesehenes Bild gab der
Reichstag, derselbe Reichstag, in dem erst vor einigen Wochen
Bethmann Hollweg mit erhobenen Fingern den Schwur ablegte, dass er
für die heiligsten Güter der Junker, für den
Brotwucher, selbst in der Zeit des Hungers eintreten wird! Die
Konservativen an der Spitze der Opposition gegen den Reichskanzler,
in den sie ihren treuesten Fridolin sehen, und dem sie selbst in der
Marokkofrage wie keine andere Partei die Stange gehalten haben! Ein
scharfer Zusammenstoß des Reichskanzlers mit den Konservativen,
dessen Wortführer in den Fragen der auswärtigen Politik,
Professor Schiemann, noch am 8. November in solcher Weise über
den Ausgang der Marokkofrage geschrieben hat: „der Vertrag gibt
uns in Marokko, was von jeher – soweit Deutschland in Betracht
kommt – unser Ziel gewesen ist …“ „die
Nation, die aus den heiligen Reiches Sandbüchse die Mark
Brandenburg gemacht und in Südwestafrika ein zukunftsweisendes
Kolonisationsgebiet zu schaffen verstand, wird – so glauben wir
fest – auch in Groß-Kamerun und seinen Dependancen
(Zubehören) das erreichen, woran bisher die französischen
Anstrengungen gescheitert sind.“ Das war in der Kreuzzeitung
vorigen Mittwoch zu lesen. Wo also liegt die Ursache des
Zusammenstoßen, welche Folgen kann er haben? Die liberale
Presse springt vor Freude wie ein junger Bock! Der Reichskanzler
gegen die Konservativen. Da kann doch selbst ein Liberaler Mut
fassen! Sie vergisst nur, dass dieselben Sünden, die Herr
v. Heydebrand und der Lafe in letzte Stunde begangen hatte, und
die den Reichskanzler zu einem wütenden Vorstoß
veranlassten, seit Monaten von der nationalliberalen Presse in viel
größerem Umfang verübt worden sind, und dass Herr
Bassermann in ebenso scharfer Weise gegen den Reichskanzler
gesprochen hat. Wenn dem aber so ist, so kann natürlich die
Auflehnung des Kanzlers gegen die Konservativen keine Anlehnung an
die Liberalen bedeuten, und dem Freudenrausch der Gutherzigen muss
ein Katzenjammer folgen.
Was bedeutet die Keilerei im Regierungslager? Sie ist ein Ausdruck der Desorganisation, die der Niederlage in der Marokkofrage auf dem Fuß gefolgt ist und die durch Wahlspekulationen der Nationalliberalen und Konservativen verstärkt wurde. Deutschland musste endgültig erklären, dass es auf Marokko verzichte. Das wäre an und für sich keine Niederlage, weil die Besetzung Süd-Marokkos durch Deutschland bei dem Bestehen des deutsch-englischen Gegensatzes es nötigen würde, seine Streitkräfte zu teilen, d.h. seine Position in der Nordsee zu schwächen. Es wäre auch darum keine Niederlage, weil, wie es die Prüfung der objektiven Lage und der offiziösen Äußerungen aus der Zeit vom April bis Juli d[iesen] J[ahres] ergibt, die deutsche Aktion von vornherein sich die Festsetzug in Marokko nicht zum ziel gesetzt hatte. Der Ausgang der Marokkokrise wurde erst zur Niederlage des deutschen Imperialismus, als durch die Entsendung des Panther der Eindruck erweckt wurde, dass die deutsche Regierung in Südmarokko hat bleiben wollen, und als die Regierung, um sich auf den imperialistischen Rummel während de Unterhandlungen mit Frankreich stützen zu können, dieser Meinung nicht entgegengetreten ist. Der Eindruck der Niederlage wurde verstärkt, als sich die englische Regierung in die deutsch-französischen Verhandlungen als Weltfriedensschlichter einmischte, um durch diesen Bluff – es war nur ein Bluff, denn sie wusste gut, dass Deutschland in Marokko nicht bleiben will – das Ansehen Englands in der Welt zu heben. Und schließlich wurde dieser Eindruck noch durch die Kongoentschädigung verstärkt, die einen kleinen kolonialen Wert selbst vom kapitalistischen Standpunkt darstellt und jedenfalls nicht gleichwertig ist dem, was Frankreich in Marokko bekommt.
Die Niederlage Deutschlands war also in einem Teile durch
diplomatische Fehler verursacht. Ihre wichtigsten Quellen liegen aber
viel tiefer: neben den geographischen und strategischen Momenten, die
wir vorher genannt haben, bestimmt die Haltung der Regierung die
Tatsache, dass sie bei der Stimmung der deutschen Arbeitermassen
wegen Marokko keinen Angriffskrieg führen konnte; noch weniger
wegen des kleinen Ausmaßes der Entschädigungen. Diese
Gewissheit steifte den Nacken der französischen Diplomatie und
entschied den Ausgang der Affäre. Aber diese wichtige Ursache
dürfen die besitzenden Klassen nicht in ollem Umfange würdigen,
obwohl manche ihrer Vertreter sich davon Rechnung abgeben; sie dürfen
es nicht tun, weil sie zugeben müssten, dass es eitel Geschwafel
war, als sie während der Marokkokrise von der nationalen
Stimmung der Arbeitermassen sprachen. Dabei treibt das Bürgertum,
das über Massenpsychologie immer die Nase rümpft, eine
Politik der Herde, die nicht aufgrund ruhiger Beurteilung der Lage
handelt, sondern sich von Stimmungen treiben lässt, darum
erregte sie der Misserfolg des deutschen Imperialismus so sehr, darum
sah sie seine Ursache nur in der Unfähigkeit der deutschen
Diplomatie, obwohl Kiderlen-Wächter bei ihr gestern noch als
bester Schüler Bismarcks galt. Die Missstimmung war in allen
Schichten des Bürgertums allgemein. Aber sie äußerte
sich je nach dem stärkeren oder schwächeren Verwachsensein
mit dem Imperialismus, je nach dem mehr oder weniger entwickelten
Machtgefühl. Die Junker haben wirtschaftlich kein so großes
Interesse an dem Imperialismus, aber als im Staate herrschende Kaste
fühlten sie die Niederlage sehr stark. Die Finanzkreise haben
ein viel größres Interesse an der Weltpolitik, aber eben
darum warnten sie vor hysterischem Geschrei. „An Deutschlands
Kraft und Bereitschaft muss das Ausland zweifeln, wenn aus deutschem
Mund Klagen über den Niedergang deutschen Namens kommen, wenn
gar von Schmach und Erniedrigung des deutschen Vaterlandes gesprochen
wird“, heißt es in ihrem Aufruf. Das bedeutet: schreit
nicht zu sehr, denn ihr mindert das Ansehen deutschen Kapitals auf
dem Weltmarkte.
Diese Desorganisation der imperialistischen Kreise wurde erst verstärkt, als die Nationalliberalen sie in ihrem Parteiinteresse auszunützen suchten. Da sie die „nationale“ Missstimmung vor ihren Wahlkarren zu spannen suchten, wollten ihnen die Konservativen zuvorkommen. Nachdem ihre Presse in der ganzen Zeit der Marokkokrise mit der Regierung hielt, änderten sie im Reichstag ihre Taktik und traten als Wortführer der imperialistischen Krise auf. Die Bürokratie musste das als Überfall aus dem Hinterhalt ansehen, der umso schmerzlicher war, da sie durch die Desorganisation ihrer eigenen Reihen sehr geschwächt war. – Ein Kanzler, den der Kolonialsekretär vor dem Feinde – und als solche betrachtet jede Bürokratie selbst das gefügigste Parlament – bloßstellt, indem er erklärt: iss die Suppe selbst, die du eingebrockt hast, ein Kanzler, gegen den der Kronprinz öffentlich demonstriert, muss in Verzweiflung geraten, wenn ihm noch die einen Stoß versetzen, deren Interessen er mit der ganzen Hingebung eines eifrigen Knechtes verfochten hat. So explodierte der lederne mit allgemeinen Sentenzen gefüllte Kanzlerbeutel, als wäre er eine Bombe, von einem Umstürzler für die Junker vorbereitet.
Die Verwirrung ist in dem Regierungslager sehr groß. Vom Kanzler schwarz auf weiß bestätigt zu bekommen, dass man aus Wahlrücksichten mit dem Kriegsfeuer spielt und in Patriotismus macht, würde auch eine Partei nicht gut vertragen können, die sich in einer viel besseren Situation befindet als die Junker. Darum wird sich der Riss im Regierungslager nicht leicht verkleistern lassen. Aber man müsste vergessen, dass es eine Junkerregierung ist, die jetzt an der Spitze Deutschlands steht, man müsste vergessen, dass die Junker trotz aller ihrer Sünden fester in ihren hinterpommerschen Wahlkreisen sitzen als die Liberalen, man müsste mit der Blindheit der liberalen Presse geschlagen sein, die nicht bemerkt, dass die Liberalen von den Geschossen Bethmanns, des rasenden Rolands, ebenso getroffen sind wie die Junker, um anzunehmen, dass die Bürokratenhand die Junkerhand nicht suchen wird, um sie um Entschuldigung zu bitten. Die Niederlage in der Marokkofrage hat die Bourgeoisie und die Bürokratie desorganisiert, ihre verschiedenen Abteilungen gerieten auf der Flucht aufeinander und ineinander, ihre Reihen lösten sich auf. Aber morgen gilt es weitere Schlachten zu schlagen auf dem Kampffelde des Imperialismus, gegen die imperialistischen Mächte des Auslandes und antiimperialistischen Kräfte in Deutschland. Da sollten sie nicht an die Sünden vergessen und an die heutige Keilerei? Sie müssen und werden es tun.
Zuletzt aktualiziert am 29. Januar 2025