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Hält man sich von dem Drum und Dran der Polemik das Auge frei, so besteht R. Luxemburg darauf, dass die Partei den revolutionären Augenblick verpasst habe, während K. Kautsky mit Recht darauf verweist, dass die gesamte politische Situation revolutionär sei und fürs nächste verbleiben werde. Allein, wenn auch die Zuspitzung der Taktik auf den Moment charakteristisch ist für die politische Richtung, die R. Luxemburg vertritt, so bildet sie doch nicht ihren wesentlichen Inhalt. Wenn uns R. Luxemburg sagt, wir hätten streiken sollen, so will sie damit offenbar sagen: wir werden demnächst energischer vorgehen und bei der Gelegenheit, die sich uns bieten wird, streiken müssen. Und auch K. Kautsky sagt, es könne demnächst Umstände eintreten, die uns den Massenstreik aufnötigen und zweckmäßigen erscheinen lassen werden. Ist man nun im Grunde einig? Nein, durchaus nicht; man hat nur die Streitfrage auf der einen Seite viel zu scharf zugespitzt, auf der anderen abgestumpft, um – in diesem Fall nicht ohne gewissen Erfolg – die „Ermattungsstrategie“ anzuwenden. K. Kautsky beruft sich auf die revolutionäre Situation nur, um ein nicht revolutionäres Vorgehen zu rechtfertigen, unsere Taktik leitet er nicht von dieser ab – sie soll erst später eine Änderung der Taktik erforderlich machen – er leitet sie von unserer alten Taktik ab. Er kennt überhaupt keine neue Taktik, sondern nur die alte – altbewährte. Die Kämpfe der Gegenwart sind ihm nur die direkte Fortsetzung der Kämpfe der Vergangenheit. Aber dieser Zusammenhang ist viel zu allgemein, er lässt deshalb gerade das Verschwinden, was für die Taktik maßgebend sein muss – die besonderen Verhältnisse der Gegenwart. Aus allen Betrachtungen Kautskys über die politische Situation, über die Vergangenheit und Zukunft bleibt uns denn auch als Direktive für die Gegenwart doch nur – die „Ermattungsstrategie“, die, nach Kautsky, die Quintessenz unserer alten Taktik darstellt.
Der Gesichtspunkt der politischen Situation, getrennt von anderen, führt nur zum politischen Fatalismus, zu einer Taktik des Gehenlassens. Es gilt aber vor allem, an der politischen Situation die revolutionäre Energie der Massen, die parlamentarische Konstellation und die alten taktischen Regeln zu überprüfen. Ändert sich die politische Situation, so muss auch die Taktik geändert werden. Wie sich das aber Kautsky denkt, dass wir in der Ermattungsstrategie fortfahren und dann auf einmal die Massen in die Entscheidungsschlacht führen, ist es die reinste Verschwörerromantik. So lassen sich heutzutage nicht einmal Armeen kommandieren; der proletarische Klassenkampf ist aber gegenwärtig eine gewaltige politische und kulturelle Bewegung, bei der die Initiative der „Unterführer“ und das Bewusstsein der einzelnen eine große Rolle spielen. Die Änderung der politischen Situation geschieht auch niemals mit einem Schlage, sie ist vielmehr das Produkt einer Entwicklung, die erst allmählich, mit vielen Schwankungen und Abweichungen, zu einer entscheidenden Wendung gelangt; auf dem ganzen Wege dieser Entwicklung zwingen die neuen Verhältnisse zu taktischen Abweichungen, denen die politische Tradition im Wege steht, bis schließlich mit dieser gebrochen wird. So ist auch innerhalb der deutschen Sozialdemokratie die Praxis, der politischen Entwicklung folgend, längst über die alte Taktik hinausgewachsen, wir stehen nicht vor einem Bruch mit der alten Taktik, sondern vor einem Bruch mit der Tradition, die der revolutionärer Zusammenfassung der neuen Praxis zu taktischen Regeln im Wege steht. Um aber die vollzogenen Änderungen in der Betätigung der Partei zu begreifen, muss man erst die alte Taktik vom richtigen Gesichtspunkte ins Auge fassen.
K. Kautsky wird vor allem der alten Taktik der Partei nicht gerecht. Er stutzt sie einseitig nach seinem augenblicklichen Bedarf zu, wie der Schuster, der das Stück Leder zuschneidet, bevor er es auf den Leisten bringt; und Kautsky schlägt mit Gewalt die gesamte Entwicklung der Partei seit dem Sozialistengesetz über einen Leisten. Als die Partei sich überzeugt hatte, dass sie der Regierung keine Generalschlacht liefern konnte, verlegte sie sich mit aller Energie darauf, die vorhandenen Möglichkeiten der Organisation auszunützen, um eine Macht zu bilden, die sie in den Stand setzen würde, einst den entscheidenden Kampf zu wagen. Das war die alte Taktik. Keinen Augenblick dachte man daran, dass die Regierung je „ermatten“ würde, dass man durch die Fortentwicklung der Partei allein politische Erfolge erreichen könnte. Man erwartete große Kämpfe und rüstete zu diesen – das war alles. Die alte Taktik setzte sich aus zwei Teilen zusammen: 1. Der entscheidende Kampf in der Zukunft, 2. Die Sammlungsarbeit in der Gegenwart. Der entscheidende Kampf verschmolz sich ideologisch in der Vorstellung mit dem Kampf um das Endziel, mit der sozialen Revolution. Das Proletariat – argumentierte man – stehe allein, der Widerstand des Staats, der seine Armee gegen die Arbeiter ins Feld führen will, sei so groß, dass die größte Energie des Proletariats dazu gehöre, ihn zu überwinden; dann aber handle es sich offenbar um die Existenz der kapitalistischen Gesellschaft. Man kannte also nur einen Kampf – den letzten; vorher – die Agitation. Ich erinnere daran, dass noch auf dem Parteitag in Halle als der eigentliche Inhalt der parlamentarischen Tätigkeit die Agitation hingestellt wurde. Man war also weit von der Idee entfernt, durch eine „Ermattungsstrategie“ dem Staat Konzessionen abringen zu können; es war vielmehr der alten Taktik eine allgemeine Unterschätzung sowohl der Gegenwartserfolge wie der Gegenwartskämpfe eigen.
Die alte Taktik hatte ihre großen Vorteile. Sie war einfach und klar und führte zur revolutionären Einigung der Massen. Aber sie war argwöhnisch gegen alles, was nicht direkt Endziel oder Partei war. Schon in den letzten Jahren unter dem Sozialistengesetz erwies sie sich als viel zu eng für die Tätigkeit des Proletariats. Sie war das Produkt der wirtschaftlichen Stagnation und der politischen Reaktion, die den Arbeitern tatsächlich für einige Jahre alle Wege versperrten. Schon der wirtschaftliche Aufschwung der achtziger Jahre brachte eine erfolgreiche Streikbewegung mit sich und mit den Streiks kamen die Gewerkschaften auf. Aber diese Entwicklung fand bereits keinen Platz innerhalb der alten Regel, darum mussten die Gewerkschaften erst die politische Tradition der Partei überwinden. Man glaubte nicht an den Erfolg der Gewerkschaften, weil man von der kapitalistischen Gegenwart überhaupt kaum etwas erwartete; man sah dagegen in den Gewerkschaften, zumal als sie zur Zentralisation übergingen, eine mit der Partei konkurrierende Organisation. Dies die Meinungskämpfe der 90er Jahre. Die „Neue Zeit“ hat damals sehr geschickt ihr Schiffchen für Szylla und Charybdis gelenkt; sie unterstützte die Gewerkschaften, und doch fanden die Gewerkschaften darin nicht viel, worauf sie sich stützen konnten. Die Gewerkschaften gelangten vielmehr dahin, dass sie, um ihre Gegenwartskämpfe zur rechtfertigen, die Bedeutung der „positiven Arbeit“ in der Gegenwart überschätzten. Die Entwicklung der Gewerkschaften hat der Exklusivität der alten Taktik einen Stoß versetzt, von dem sie sich nicht mehr hat erholen können. Wirtschaftlich kämpft das Proletariat ganz eminente Gegenwartskämpfe, wobei je nach den Umständen die Offensive mit der Defensive abwechselt, es hat beachtenswerte Erfolge erzielt und ist zu einer bedeutenderen Macht geworden. Diese Gegenwartsarbeit hat nicht zur Abstumpfung der Massen geführt, sie hat vielmehr ihr Selbstgefühl gehoben und muss sie, indem sie ihre Gegenwartsforderungen steigert, dazu bringen, die Änderung der Produktionsweise selbst als Gegenwartskampf zu erfassen. Die Entwicklung einer Idee kann der geschichtlichen Entwicklung vorauseilen, aber die Geschichte operiert nicht mit Begriffen, sondern mit materiellen Kräften, darum muss sie sich von der Voraussetzung bis zur Schlussfolgerung durch die Gegenwart durchkämpfen. Auch die Genossenschaften haben gegen die Parteitradition kämpfen müssen. Die Resolution des Berliner Parteitages 1892, die durchaus die Anerkennung der Neuen Zeit fand, ist ein anderer Beweis dafür, wie das, was ich an anderer Stelle den „Revolutionismus der letzten Tage“ genannt habe, die Aussichten für die Möglichkeit versperrte.
Das wissenschaftliche Organ der Partei hat eine gewaltige Arbeit der Propaganda der Ideen des Marxismus geleistet, aber politische Initiative hat es äußerst selten entwickelt. K. Kautsky selbst überhaupt niemals – resolut war er nur in Zurückweisungen, wenn es galt, die Abweichung von einer übernommenen Regel festzustellen.
Im Zusammenhang mit der Vorstellung von dem letzten und einzigen der eigentlichen Kämpfe und den gleichen Verhältnissen entspringend wie diese, lebte in der Partei auch noch lange Jahre nach dem Fall des Sozialistengesetzes ein Gefühl der Unsicherheit. Das war sogar hinderlich für den inneren Ausbau der Partei. Ich erinnere nur an die Bewegung zur Errichtung eigener Zeitungsdruckereien, in der die großartige Entwicklung der Parteipresse ihre materielle Grundlage fand. Diese ganze Entwicklung wurde der Initiative einzelner Personen und Organisationen überlassen und vollzog sich zum Teil direkt in Auflehnung gegen die Meinung der Parteileitung. Man lebte für den Tag und fürchtete den nächsten Tag. Das nennt Kautsky „Ermattungsstrategie“!
In dem Kampf um das preußische Wahlrecht dieselben hemmenden Kräfte. Erst ist man dem Kampf überhaupt ausgewichen. Was sollte man sich noch um Preußen kümmern, da man im Reich auf die große Entscheidung hinarbeitete? Der preußische Staat fühlte sich durch diese Taktik nicht „ermattet“. Man musste zum Angriff übergehen. Das erste war darum die Beteiligung an den Wahlen. Da kam aber, gedeckt von dem Mantel des großen revolutionären Entschlusses, die große Unschlüssigkeit wieder auf. Man glaubte nicht an die Möglichkeiten des Erfolges und fürchtete die Ablenkung von dem großen Ziel und von dem großen letzten Kampf. Was Wunder, dass wir jetzt, da wir vor einer Entfaltung unserer Offensive in Preußen stehen, wiederum auf die Tradition der alten Taktik stoßen! Sie tritt aber jetzt lange nicht so abgeklärt und selbstbewusst auf wie früher; sie ist nur noch Stimmung, die die Entscheidung möglichst hinausschieben möchte.
Die alte Taktik beruht auf der Defensive; die neue Taktik betont den Übergang zur Offensive. Die alte Taktik kannte nur die Agitation und die Organisation der Massen; die neue Taktik geht darauf hinaus, die angesammelte Energie der Massen zu betätigen. Die Partei wird dazu zunächst durch ihre eigene Entwicklung, ihr Wachstum, die Erfolge der gewerkschaftlichen Kämpfe, das steigende Machtbewusstsein und die Kampfesstimmung der Massen gedrängt; es kommen ihr aber dabei die politische Situation und die parlamentarische Konstellation zugute. Die Massenaktion hat aber auch noch ihre eigenen Quellen. Die Massen treten überhaupt im 20. Jahrhundert in einer Weise hervor wie noch niemals. Wo haben wir je daran denken können, dass die Konsumenten sich zu Massenaktionen werden zusammenfassen lassen? Wir haben aber jetzt selbst ein organisiertes Auftreten der Mieter gesehen. Und doch befindet sich all das noch in seinen ersten Anfängen. Die Generationen, die in der Großstadt unter dem Parlamentarismus, in politischer Freiheit aufgewachsen sind, Massen, die eng beisammen wohnen, die alten Wirtschaftsformen nicht mehr kennen und ihrem engen Gesichtskreis entwachsen sind, die den Kapitalismus von Kindesbeinen auf kennen gelernt haben, sie entwickeln eben die ihnen eigene politische Initiative. So gelangen wir aus dem Parlamentarismus, der auf der politischen Vertretung beruht, in eine Zeit der direkten Massenaktionen. Unter den Arbeitermassen muss sich aber dieser Drang mehr geltend machen als in allen anderen sozialen Schichten.
Diese Stimmung kam auch bei der jetzigen Diskussion zum Ausdruck. Es ist, neben anderen, ein großes Verdienst der Genossin R. Luxemburg, durch ihr energisches Auftreten die vorwärts drängenden Kräfte enthüllt zu haben. Man braucht auch kein Prophet zu sein, um vorauszusagen, dass die Entscheidung des Parteitages in der Richtung einer stärkeren Offensive und direkten Betätigung der Massen liegen wird. Wohl aber muss man sich in Acht nehmen, die Offensive als den einen entscheidenden Angriff, die Massenkämpfe als die eine, entscheidende Massenaktion aufzufassen. Wir werden wiederholt vordringen müssen, und es wäre töricht, nicht damit zu rechnen, dass wir auch gelegentlich zurückgeschlagen werden. Was speziell den Demonstrationsstreik anbetrifft, so kann ich mich für ihn nicht erwärmen, er erscheint als Kompromissgedanke: für eine Demonstration stellt er zu viel auf die Karte, für einen Massenkampf entwickelt er zu wenig Kraft. Ich habe aber auch nicht den Eindruck, dass die rein politischen Demonstrationen in Deutschland bereits verbraucht sind. Das höchste bleibt hier vielleicht noch zu leisten, nur darf man sich durch keine Drohungen, durch nichts abschrecken lassen – ebenso wie man sich in Belgien, Italien, Österreich oder Russland durch nichts hat abschrecken lassen. Die Demonstrationen sind auf der Tagesordnung; nicht bloß beim preußischen Wahlrecht, auch bei anderen Angelegenheiten, so vor allem im Kampf gegen die Teuerung, müssen sie an Anwendung gebracht werden. Die Regierung pocht auf die bewaffnete Macht. Allein auch in der Armee wirkt neben der Disziplin die Tradition. Die Armee ist gewohnt zu gehorchen. Die Regierung ist mehr als wir daran interessiert, diese Macht der Tradition bis zu einem entscheidenden Kampf aufrecht zu erhalten. Führt sie die Armee gegen das Volk, so wird sie damit ihre Machtstellung nach außen erschüttern, die Erbitterung in den Massen steigern, die Disziplin lockern, den Zwang gegen das Volk in einen verhassten Zwang über die Armee verwandeln und dadurch schließlich ihre eigene Autorität untergraben. Sie wird dadurch unsere späteren Kämpfe nicht erschweren, sondern erleichtern. Und es ist nun einmal so, dass wir unseren Weg zum Sieg nicht abseits von der Armee einschlagen können.
Wir können nur die Taktik bestimmen, nicht den Kampf. Dieser selbst wird in seiner ganzen Tragweite von den Verhältnissen bestimmt. Die Verhältnisse können sich zuspitzen auf dem Gebiete der wirtschaftlichen Kämpfe, auf jenem der Handelspolitik, der inneren politischen Entwicklung oder auch der äußeren Politik. In diesem Augenblick liegt der kritische Punkt im Orient. Hier können Ereignisse eintreten, die eine Wendung in der politischen Geschichte Europas nach sich ziehen würden. Nur wenn wir energisch in der Gegenwart kämpfen, würden wir imstande sein, den großen Kampf der Zukunft mit der größten Energie durchzuführen.
Zuletzt aktualisiert am 29. May 2024