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Die politische Gärung im Reich findet selbstverständlich in den Arbeitermassen die von vornherein in der schärfsten Opposition zu dem kapitalistischen Staat stehen, ihren stärksten Ausdruck. Die Arbeiter leiden ja auch am meisten unter den Einschränkungen der politischen Freiheit, vor allem des Koalitionsrechts unter der Verteilung der Machtverhältnisse im Reich, die dem Junkertum eine maßgebende Stellung sichern, unter der Machtlosigkeit des Parlaments, dann unter den Steuern, der Teuerung und jenen handelspolitischen Verhältnissen, die die Entwicklung der Industrie hemmen. Außerdem sehen die Arbeiter in den Kartellen und Großbanken eine gewaltige Macht erstehen, deren Druck sie wirtschaftlich und politisch immer mehr zu spüren bekommen. Die Erbitterung der Massen ist aber ein weiterer Faktor der politischen Zersetzung des Reichs.
Versuchen wir nun, den Meinungsstreit innerhalb der Partei seinen objektiven Ursachen und Zusammenhängen zu erfassen, so konstatieren wir, dass die Diskussion schon lange nicht, vielleicht nie von solcher politischer Aktualität war wie diesmal. Die Idee des Massenstreiks ist in Deutschland erst 1896 als theoretische Verallgemeinerung und Übertragung der belgischen Erfahrung aufgetaucht. Sie war damals noch rein spekulativ. Der Kampf um das preußische Wahlrecht und die russische Revolution veranlassten die Partei [1905], sie durch Parteitagsbeschluss in die Praxis hinüberzuführen. Jetzt aber tritt uns der politische Massenstreik als nahe politische Möglichkeit entgegen. Das ist es, was dem Meinungsstreit seine Tragweite und seine Schärfe verleiht. Man versperrt sich selbst den Weg zur Lösung des Problems und zur geistigen Einigung der Partei, wenn man den Streit, wie dies schon gelegentlich seitens der Neuen Zeit und des Vorwärts geschah, auf die polemische Verbissenheit einer einzelnen Person zurückgeführt. Schon der äußere Verlauf der Diskussion schlägt dem ins Gesicht. Lange noch vor Luxemburg tauchte die Idee des Demonstrationsstreiks an verschiedenen Orten in der Partei auf, wurde in der Presse und in den Organisationen diskutiert – bezeichnenderweise ebenso von der radikalen wie von der sogenannten opportunistischen Richtung – dann kam R. Luxemburg mit ihren Artikeln und ihrer Agitationstour, und nun entfaltete sich das Ganze unter Beteiligung der gesamten Parteipresse zu einer Massenbewegung. Am allerwenigsten geziemt es dem wissenschaftlichen Organ der Partei, den aus der sehr komplizierten Situation sich ergebenden Ideenkampf in eine ebenso kleinliche wie persönliche gehässige Polemik hinauslaufen zu lassen; es untergräbt dadurch selbst das Vertrauen in die Objektivität und folglich Wissenschaftlichkeit seines Urteils. Die Frage des Massenstreiks ist durch die politische Entwicklung auf die Tagesordnung gebracht worden, und es ist für den Streik eine starke Stimmung in den Arbeitermassen vorhanden. Damit soll aber noch keineswegs gesagt werden, dass wir dieser Stimmung blindlings zu folgen haben. Die Stimmung der Massen ist nur ein politischer Faktor, den wir mit in Erwägung zu ziehen haben – neben anderen.
Man gelangt zu verschiedenen taktischen Resultaten, je nachdem man zur Ausgangspunkt seiner Betrachtungen nimmt: entweder die revolutionäre Stimmung der Massen, oder die politische Situation oder die parlamentarische Konstellation.
Jeder dieser Gesichtspunkte ist einseitig; jede dieser Einseitigkeiten fand Wortführer, die die taktischen Schlussfolgerungen ihres Gesichtspunktes zogen; und der Gegensatz dieser Einseitigkeiten zu einander bildet den Inhalt der Diskussion. Es gilt aber, ihre Relativität zu erkennen, vom Gesichtspunkte der sozialrevolutionären Entwicklung sie gegeneinander abzuwägen und zu einer höheren Einheit zusammen zu fassen. Die Taktik der Sozialdemokratie im 20. Jahrhundert ist nicht mehr ein einfaches Klassenschema, sondern eine komplizierte Bildung. Die Stimmung der Massen nimmt R. Luxemburg zu ihrem Ausgangspunkt. Sie macht der Parteileitung den Vorwurf, dass diese die erbitterte Stimmung der Massen nicht zu einem Demonstrationsstreik ausgenützt habe. Allein die Stimmung der revolutionären Arbeitermassen war nicht erst im Februar und März 1910 kampfesfreudig. Wollten wir nur auf diese achten, so hätten wir oft genug Gelegenheit zum politischen Streik. Geschehen ist aber bis jetzt nichts. Haben wir also nichts anderes zu sagen, so hat die Partei nicht bloß dieses Mal gesündigt, sondern viele Male schon. Gibt es nun einen Unterschied zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit, oder gibt es keinen? Die Stimmung der Massen zeigte sich in der großen Demonstrationsbewegung. Haben wir aber nur deshalb den Erfolg gehabt, weil wir uns endlich entschlossen haben zu demonstrieren?
Ich behaupte: geschweige schon vor zehn oder fünfzehn, noch mehr vor wenigen Jahren hätten unsere Demonstrationen bei weitem nicht jenen Umfang annehmen können wie diesmal. Unter dem Jubel der Bourgeoisie würde man uns beim ersten Anlauf schon durch das Militär auseinander jagen. Die Bourgeoisie hat gewiss auch jetzt eine große Angst vor den Arbeiterdemonstrationen, aber eine noch größere vor einem offenen Zusammenstoß zwischen den Massen und der Staatsgewalt, und in der letzten Zeit unter Bülow suchte auch die Regierung diesem auszuweichen. Wenn auch zwischen Furcht und Hoffnungen schwebend, steht die große Öffentlichkeit den Wahlrechtsdemonstrationen wohlwollend gegenüber; bis zu einem gewissen Grade haben wir sie durch die Tat selbst an diese gewöhnt. Unzweifelhaft erfasst das Interesse für das preußische Wahlrecht soziale Schichten, die bis dahin passiv blieben. Das ergibt sich aus der politischen Situation. Und die politische Situation erzeugt auch den revolutionären Drang der Massen. Darum: die Massendemonstrationen sind mitbestimmend für die politische Situation, und doch verdanken wir ihren Erfolg zu einem bedeutenden Teil der politischen Situation. Weil aber R. Luxemburg den Zusammenhang zwischen der politischen Situation und der Massenstimmung außer acht lässt, erscheint ihr diese als Zufall, und sie mahnt uns, das Glück zu erfassen, solange es uns nicht entschlüpft ist. Deshalb die Zuspitzung des Problems: jetzt oder niemals! Äußerlich revolutionär, offenbart diese Denkweise in Grunde ein geringes Vertrauen in die revolutionäre Entwicklung und kann leicht in ihr Gegenteil ausschlagen – wofür Präzedenzfälle genug vorliegen. Ist die Stimmung der Massen so, dass sie von heute auf morgen sich verflüchtigen kann, dann dürfen wir den Kampf unter keinen Umständen wagen; ist sie aber wirklich revolutionär, dann ergibt sie sich aus der politischen Entwicklung und kann nur steigen, bis die politische Lösung der schwebenden Probleme gefunden ist. Tatsächlich zeigt eine Analyse der politischen Entwicklung, dass die Arbeitermassen in eine immer schärfere Kampfesstellung gebracht werden. Sollte uns zum politischen Massenstreik nichts anderes fehlen als die revolutionäre Energie der Massen – die revolutionäre Energie der Massen kann unter diesen Umständen nicht ausbleiben.
Die parlamentarische Konstellation konnte, bei den politischen Verhältnissen des Reichs, nur in Süddeutschland tonangebend für die Taktik der Partei werden. Süddeutschland befand sich stets in einer Opposition zu Preußen. Jetzt wird es auch in seiner industriellen Entwicklung – sowohl durch neue Beziehungen des Weltmarkts wie durch neue technische Bedingungen – auf eigene Wege zugeführt. Diese Momente und das Sinken der Autorität des Reiches entfachten aufs neue das Selbständigkeitsgefühl der süddeutschen Regierungen, die deshalb auf der andern Seite nach Popularität streben und ein vertragliches Verhältnis mit der Sozialdemokratie herbeischaffen möchten. Gewiss muss auch unsererseits diesen Umständen Rechnung getragen werden. Das wird uns noch dadurch erleichtert, dass durch die Reichsverfassung die politischen Funktionen der süddeutschen Staaten stark eingeschränkt worden sind, so dass sie als Vasallenstaaten, als Provinzverwaltungen mit einer eigenen Regierungsmaschinerie jetzt dastehen. Unsere Parteivertretungen im Süden haben es denn auch bereits verstanden, durch ihre Tätigkeit sich eine freiere Entwicklung zu verschaffen; es muss anerkannt werden, dass sie damit sowie durch die Schwächung des preußischen Einflusses nützliche Arbeit für die Gesamtentwicklung der Partei leisten. Doch einleuchtend ist zunächst, dass die Unterstützung der süddeutschen Opposition nicht in eine Förderung des Separatismus ausarten darf, denn die Tendenz der politischen Entwicklung Deutschlands und damit der Sozialdemokratie liegt nicht in der Aufrechterhaltung, vielmehr in der Beseitigung der politischen Überbleibsel der Kleinstaaterei: Es zeigt sich aber in Süddeutschland das Bestreben, sich vor der übrigen Partei politisch einzukapseln, die Partei in einen föderalistischen Verband zu verwandeln, und das angesichts der Tatsache, dass die Herrschaft Preußens noch keineswegs gebrochen ist. Man beginnt, sich immer mehr als badische, bayerische, schwäbische, hessische Partei zu fühlen. Man glaubt, weil man im eigenen Landtage eine günstigere parlamentarische Konstellation hat, eigene Wege gehen zu können. Man kann aber vom Gesichtspunkte des badischen oder bayerischen Landtags weder die Taktik der Gesamtpartei noch selbst ihre Taktik in Baden oder Bayern bestimmen.
Sollen wir denn jetzt noch wieder den Nachweis führen, dass selbst die vollkommenste Demokratie uns nur ein Mittel zum Zweck sein kann? Das Beispiel der naheliegenden Schweiz zeigt, wie wenig man durch Demokratie allein gegen den Kapitalismus aufkommt. Und dieselbe Schweiz zeigt uns, dass man zur Entwicklung des proletarischen Klassenkampfs vor allem des Großstaats bedarf. Das deutsche Reich ist aber vor allem bereits ein wirtschaftlich und politisch geeintes Land – darum sind in ihm die großen politischen Interessen maßgebend auch für seine einzelnen Teile. Die Tätigkeit der süddeutschen Landtage samt und sonders wird durch die Bedeutung der Fragen der Teuerung, der handelspolitischen Verhältnisse, des Militarismus und des Imperialismus auch für Süddeutschland weit in den Schatten gestellt. Und die ganze süddeutsche Demokratie steht auf schwachen Füßen, so lange die Herrschaft Preußens verbleibt – nicht viel anders wie die Demokratie Finnlands neben dem russischen Zarismus. Preußen steht aber nicht müßig da, es benutzt seine politische und seine wirtschaftliche Macht, um durch Verbindung mit dem kartellierten Kapital, mit der Großfinanz, durch Staatsmonopole seine Machtstellung zu erweitern. Darum liegt die Entscheidung über die Taktik auch für Süddeutschland in diesem Moment in Preußen.
Der Kampf, den die deutsche Sozialdemokratie um das preußische Wahlrecht führt, muss mitbestimmend sein für das Verhalten der Partei im ganzen Reich. Dieser Kampf erfordert aber eine Massenaktion des Proletariats, ein geschlossenes Auftreten der Sozialdemokratie. Nicht auf die parlamentarische Konstellation in den Landtagen, nicht auf wohlwollende Ministerreden, auf fürstliche Leutseligkeit, auf die politische Rückständigkeit indifferenter Massen – auf die Erfordernisse des großen proletarischen Massenkampfes, den die Partei in Preußen führt, muss in erster Linie Rücksicht genommen werden. Zieht man das in Betracht, so wird man es unbegreiflich finden, wie man in Baden zu einer demonstrativen Abstimmung hat kommen können, die die Einheitlichkeit der Aktion der Partei stört.
Ich lasse die theoretischen Bedenken beiseite; es bleibt noch immer der schwere politische Vorwurf gegen die Badenser, dass sie eine badische Separattaktik schaffen wollen in einem Augenblick, da die Partei mehr denn je ihre Geschlossenheit braucht. Darum verstößt auch der Antrag aus Bayern und aus Hessen, die Nürnberger Resolution einer Revision zu unterwerfen, gegen die primitivsten Anforderungen einer praktischen Parteipolitik. Dass der Antrag auf diesem Parteitag keine Mehrheit finden kann, dürfte doch den Antragstellern selbst klar sein. Welchen anderen Erfolg kann er dann haben, als Uneinigkeit in die Partei zu bringen? Und das jetzt, da uns die Einigkeit am meisten Not tut und angesichts der Zerwürfnisse innerhalb der staatserhaltenden Elemente unsere Autorität hochhält und uns unmittelbaren politischen Nutzen bringt! Wie bei der Stimmung der Massen, so fürchtet man auch bei der parlamentarischen Konstellation, diese könnte uns entschlüpfen. Denn hier wie dort ignoriert man die geschichtlichen Zusammenhänge der politischen Situation, berücksichtigt nur die Statik, nicht die Dynamik, nicht den Zustand, nicht die Entwicklung, kennt nur den äußeren politischen Ausdruck des Vorhandenen, nicht die bewegenden Kräfte des Werdenden. Wir haben keine Veranlassung, unsere Zustimmung den süddeutschen Landtagen auf dem Präsentierteller entgegen zu bringen. Unsere Erfolge in Süddeutschland sind das Ergebnis der gesamten Machtstellung der Partei. Braucht man uns jetzt schon im Süden, so wird man uns demnächst hier wie im Reich erst recht brauchen. Andererseits ohne innigen Zusammenhang mit der Gesamtpartei würden unsere süddeutschen Vertretungen auch in ihren eigenen Ländern an Einfluss bald einbüßen, sie würden dann dem Schicksal der Süddeutschen Volkspartei verfallen. Und haben wir erst eine erfolgreiche Massenaktion in Preußen hinter uns, dann wird unser Einfluss in Süddeutschland sicher mehr steigen, als man es durch parlamentarische Konzessionen je erreichen könnte.
Zuletzt aktualisiert am 29. May 2024