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Das neue deutsche Kaiserreich hat keine Tradition, wohl aber eine doppelte Autorität in die Waagschale zu werfen: die militärische Macht und den Erfolg. Beides wurde von der Bourgeoisie idealisiert., und die Ideen wurden personifiziert. Die Namen der Personen waren: Moltke und Bismarck. In diesem Zeichen und im Zeichen der Sozialdemokratie vollzog sich die politische Entwicklung Deutschlands seit 1860.
Zwischen Bismarck und Sozialdemokratie erblühte der Nationalliberalismus. Er war groß in Zugeständnissen und seine Entwicklung bestand in seinem Zerfall, aber gerade dadurch erfüllte er seine geschichtliche Mission. Die Bourgeoisie musste Konflikte mit der Regierung vermeiden, da ihr die Aufgabe zufiel, die nationale Macht des neugebildeten Staats in Kapital zu verwandeln. Sie erreichte dieses Ziel vorzüglich, indem sie die Autorität des Staats nach außen zur Erweiterung ihrer Handelsbeziehungen, die nationale Regierung zum Ausbau der Großstädte, vor allem Berlins, ausnützte und sich auch direkt von Staatsaufträgen sowohl auf dem Kapitalmarkt wie auch auf dem industriellen Markt – man denke an die Eisenbahnen, die Geschütz- und Panzerplattenlieferungen – bereicherte. Darum suchte die Bourgeoisie sich an die Regierung anzuschmiegen. Die Feigheit der deutschen Bourgeoisie während der Märzrevolution war Klasseninstinkt, ihre Feigheit nach der Reichsgründung war Berechnung. Was sie früher nicht wagte, das wollte sie jetzt nicht wagen. Diese Taktik musste sie aber den Volksmassen entfremden, und so waren die Bedingungen ihres geschäftlichen Erfolges zugleich Bedingungen ihres politischen Niedergangs. Obwohl die Sozialdemokratie mitbestimmend war für die Entwicklung des Nationalliberalismus, wurde sie doch selbst von den gleichen politischen Verhältnissen mitbestimmt, die den Nationalliberalismus herausbildeten. Schwach entwickelt und politisch isoliert konnte die Sozialdemokratie auf keinen Fall eine Generalschlacht gegen die in der ganzen Frische der materiellen und ideellen Macht des neuen Staates stehende Reichsregierung wagen. Darum entsprach der Anschmiegepolitik der Bourgeoisie die Ausharrungs- und Ausweichtaktik der Sozialdemokratie. So entstand jene „Ermattungsstrategie“, die K. Kautsky jetzt glorifiziert, indem er aus der Not eine Tugend macht, der geschichtlichen Entwicklung die nachträgliche Erkenntnis, den Dingen die Personen, den Personen die Idee vorausschickt, und nachdem er den ideologischen Schattenwurf der Ereignisse von seiner Umgebung losgelöst hat, diesen in dem luftleeren Raum des abstrakten Denkens zu einer Theorie verallgemeinert, die dann allerdings ebenso abgeschlossen wie ausschließend erscheint und infolgedessen so konservativ erscheint, dass er selbst sich beeilt, sie für die Zukunft zu durchlöchern – indessen aber hat er sich durch diesen Sprung in die Vergangenheit und aus der Vergangenheit in das Jenseits der Tatsachen, aus dem Jenseits in die Zukunft über die Lücken der Gegenwart hinweggeholfen. Nationalliberalismus und Ermattungsstrategie gehören zusammen, sie sind das Produkt der gleichen Zeit und müssen weichen, wenn sich die Verhältnisse ändern.
Die selben sozialen Kräfte, die den Regierungen in dem ganzen kapitalistischen Europa dem Proletariat gegenüber – und in der Militärsprache unseres bedeutendsten marxistischen Geschichtsschreibers sich auszudrücken – an Stelle der bisher beliebten Niederwerfungsstrategie die Beschwichtigungs-, Ermattungs- und Auskneifetaktik diktieren, müssen auch in Deutschland dem Liberalismus als kulturelle Richtung und politisches Ideensystem zum Durchbruch verhelfen. Nur sind hier viel größere Widerstände zu überwinden. Zunächst der Widerstand der Regierung, die als selbständige und unabhängige Macht auftritt. Daneben aber auch die politische Tradition des Nationalliberalismus und die allgemeine politische Tradition im Reich, die keine entscheidenden politischen Kämpfe kennt. Ich sage: allgemeine politische Tradition – denn auch das Zentrum verdankt ja in Deutschland seine Erfolge der „Ermattungsstrategie“. Begreift man erst, dass das kein sozialdemokratisches Spezifikum ist, so wird man auch den Zusammenhang dieser Taktik mit den Verhältnissen zu würdigen wissen. Wenn man die „Ermattungsstrategie“ ihres theoretischen Aufputzes entkleidet, so entpuppt sie sich als einfach das: man hat die Regierung nicht niederzwingen können, aber man hat sich von ihr auch nicht unterkriegen lassen. Dies ist nun aber in der Vorstellung der politischen Partei zu einer Regel geworden, weshalb der Kampf gegen die Tradition innerhalb der bürgerlichen Parteien zugleich zu einem Kampf der jüngeren Generation gegen die ältere wird. Schließlich fehlt dem entschiedenen Liberalismus in Deutschland der Erfolg, der der Vater jeder großen Handlung ist. Darum brauchte dieser Liberalismus erst die Anerkennung der Regierung, um sich mit größerer Energie gegen de Regierung zu wenden. So schwachgemut und farblos der Bülowsche Liberalismus war, befand er sich doch schon im Gegensatz zu dem herrschenden System. Bülow selbst versicherte es unzählige Male, dass seine Scheinkonzessionen immer die größte Mühe kosteten und die Kundgebungen der letzten Tage bestätigen das ja vollkommen. Aber der Liberalismus begann sich zu fühlen – das erklärt viel mehr als die Schicksale der Finanzreform, dessen energischeres Hervortreten nach dem Sturz Bülows. Wir haben solche Farcen eines Regierungsliberalismus in Russland vor der Revolution kennen gelernt, mit dem gleichen Erfolg der steigenden Gärung. Sie sind überhaupt kennzeichnend für jede vorrevolutionäre Periode.
Während die Großstädte um den Liberalismus kämpfen, kämpft die eigentliche Bourgeoisie um die leitenden Staatsangestellten, die jetzt der preußische Adel hält. Der Kampf um die Verbürgerlichung des Staats wird dank der eigenartigen Stellung Preußens im Reich und dem Dreiklassenwahlrecht zu einem Kampf um das preußische Wahlrecht. Dieser wiederum erweitert sich zu einem Kampf gegen das Agrarkapital. Wir wollen uns nicht dabei aufhalten, wie der neue deutsche Zolltarif zustande kam; ich erinnere bloß daran, dass er die gewaltige Opposition im ganzen Reich aufgelöst hatte. Seitdem hat die Teuerung die Verhältnisse ungemein verschärft. Zu dieser – noch die handelspolitische Misere, die noch nie im Reich so groß war, wie jetzt.
Wir sehen denn auch neben den Konsumenten immer schärfer die Industrie hervortreten in dem Kampf um günstigere Handelsverträge, die nur durch agrarpolitische Konzessionen zu erlangen sind. In der Landwirtschaft selbst tritt dabei, abgesehen schon von den brotkaufenden Massen, ein Gegensatz hervor zwischen den viehzüchtenden Bauern und den Gutsherren. Diese Gegensätze, die das Lebensinteresse der Massen und das grundlegende Konkurrenzinteresse der Industrie erfassen, müssen in den nächsten Jahren an Schärfe und Umfang noch gewinnen und können durch keine staatserhaltende Erwägungen überbrückt werden. Die Notwendigkeit einer Wendung in der Handelspolitik ist so evident, dass die Regierung selbst bis zu einem gewissen Grade es nicht ungern sieht, dass dem Agrariertum ein Gegengewicht geschaffen wird.
Mit der Entwicklung einer Weltindustrie treten für das deutsche Reich die Weltzusammenhänge der kapitalistischen Produktionen in den Vordergrund. Das Reich fasste bis jetzt die Sache nur vom militärischen Gesichtspunkte auf und baute Kriegsflotten. Allein jede Weltherrschaft ist zugleich eine ideelle Herrschaft. Es war kein Zufall, dass Großbritannien mit den billigen Waren auch die Ideen des Parlamentarismus in der Welt verbreitete; und wie die Entwicklung der Kolonien ihm Demokratie einpaukte, zeigen die Beispiele Nordamerikas, Australiens und das jüngste Beispiel Südafrikas. Andererseits zeigt das Beispiel Russlands, das trotz seiner außerordentlich günstigen geographischen Lage aus Asien zurückgedrängt wird, wie politische Rückständigkeit wirkt. Will Deutschland die Welt beherrschen, so muss es sich an die Spitze der politischen Entwicklung der kapitalistischen Welt setzen. Mit der Weltindustrie verlässt auch die deutsche Bourgeoisie ihren nationalen Boden. Sie brauchte den Nationalismus, um die Industrie zu entwickeln – um ihr eine Weltherrschaft zu sichern, [jetzt] braucht sie den Liberalismus und zwar sowohl in den Handelsbeziehungen wie in der allgemeinen Politik. Ohne diesen wird sie weder jene materiellen noch jene ideellen Kräfte entwickeln können, die dazu im 20. Jahrhundert erforderlich sind.
Die deutsche Weltpolitik hat aber bis jetzt sich nicht die Sympathien der Völker erobert, sie hat nur Feindschaft und Misstrauen erzeugt. So in China, in Japan und auch in der Türkei wo die deutsche Freundschaft die letzte Stütze des alten Regimes bildete. Man sucht in der deutschen Politik nur noch Eigennutz und Anmaßung. Das ließ man sich gefallen, so lange die politische Autorität des Reiches intakt blieb. Allein sie ist jetzt in der äußeren Politik stark verbraucht. Innerhalb weniger Jahre – seit dem russisch-japanischen Krieg – hat ein totaler Umschwung stattgefunden. Das Deutsche Reich ist aus seiner führenden Stellung in Europa herausgedrängt worden und hat einen harten Kampf zu bestehen, um sich politisch geltend zu machen. Es fällt ihm nichts mehr von selbst zu mit dem Recht des Mächtigeren – um den kleinsten Erfolg muss es ringen und das Größte wagen.
Die Schwächung der politischen Autorität des Reichs nach außen ist ein weiteres Moment, das die Autorität der Regierung im Innern untergräbt. Von den zwei Komponenten ihrer Macht ist der Erfolg durch die veränderte Stellungnahme Europas ausgeschaltet worden, und die bewaffnete Macht, die untätig bleibt, macht sich nur durch ihre Kehrseite fühlbar – den militärischen Druck.
Und so sehen wir denn jetzt, dass selbst die süddeutschen Regierungen, die nach der Gründung des Reichs nur noch als Platzhalter Preußens galten, sich dem preußischen Einfluss zu entziehen verstehen und zu einer mehr selbständigen Politik übergehen. Es wirken zentrifugale Kräfte im Reiche, die die Peripherie vom Zentrum loslösen. Die Situation ist jetzt umgekehrt als 1878, da Bismarck, gestützt auf die Macht und Autorität des Staats, die Arbeitermassen provozieren durfte. Ich lasse die Frage beiseite, ob die Regierungen noch im Stande wäre, die Arbeitermassen niederzukartätschen; Tatsache ist, dass sie durch eine solche Gewaltpolitik, durch den offenen Bürgerkrieg die letzten Spuren ihrer Machtstellung in Europa vernichten und das Reich in ein Chaos politischer Kämpfe auflösen würde.
Zuletzt aktualisiert am 29. May 2024