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Ich übergehe die vierte geistige Spezies des Opportunismus.
Unser Thema ist diesmal die opportunistische Taktik in ihren Beziehungen zu der bisherigen Tätigkeit der Partei.
Die Idee der Diktatur des Proletariats, die den Konzentrationspunkt der bisherigen revolutionären Politik der Sozialdemokratie bildet, lässt sich in ihren wesentlichen Zügen so zusammenfassen: Das Proletariat, das bereits die numerische Mehrzahl der Nation bildet und mit dessen Interessen auch jene der vom Kapital ruinierten Handwerker und Bauern zusammenhängen, setzt sich in den Besitz der politischen Macht. Neben der politischen und militärischen Reorganisation des Staates im Sinne der weitestgehenden Volksherrschaft, der Verhinderung jedes Missbrauchs der Staatsgewalt, so dass diese den Volksmassen nicht mehr den Willen einer ökonomisch herrschenden Minorität aufnötigen kann, wird es dann einen Produktionszweig nach dem anderen in den Besitz des Staates überführen der unter jenen Verhältnissen aus einer Regierungsmaschinerie, einem Werkzeug zur Unterdrückung des Volkes, in einen Verwaltungsorganismus sich verwandelt; es wird die Entwicklung des kommunalen Eigentums, der kommunalen Betriebe und der Genossenschaften mit allen politischen und ökonomischen Machtmitteln des Staates fördern. Das Privateigentum an den Produktionsmitteln verschwindet und die kapitalistische Produktionsweise macht dem Sozialismus Platz.
Die Diktatur des Proletariats ist es aber bekanntlich, an der der Opportunismus am meisten seinen Kritizismus übt. Er bestreitet zwar nicht direkt ihre Möglichkeit, aber er bezweifelt sie, er rückt sie in die weiteste Ferne, er will sie vor Allem aus den politischen Betrachtungen der Gegenwart eliminieren. Die Verhältnisse seien noch so unreif, dass, wenn das Proletariat die Staatsmaschinerie in die Hände bekäme, es sich durch seine Gesetzgeberei nur blamieren und das Ganze mit einer kolossalen Niederlage des Proletariats enden würde. Also müssten wir vorläufig die Herrschaft im Staate Denjenigen überlassen, die sie haben, den Junkern, der Börse, der Industrie, und jedem Wahlsieg beklommen entgegensehen als einem Schritte, der uns näher bringt – unserer Niederlage. Doch mit der Inkonsequenz, von der er lebt, vermeidet es der Opportunismus selbstverständlich, diese Schlussfolgerung aus seiner Voraussetzung zu ziehen. Aber was bietet er uns statt der Diktatur des Proletariats, die für ihn als politische Richtschnur nicht mehr in Betracht kommt? Wenn nicht durch Eroberung der politischen Macht, auf welchem Wege soll das Proletariat die kapitalistische Ausbeutung beseitigen? Was soll geschehen, wie soll sich die Arbeiterklasse organisieren, um dieses Ziel zu erreichen? Kurz, was bildet den Inhalt der so viel gepriesenen opportunistischen „Realpolitik“? Versuchen wir, uns die Antwort darauf aus der opportunistischen Praxis zu holen.
Es ist sehr natürlich, dass der Opportunismus, der die Hoffnung auf die politische Herrschaft des Proletariats aufgibt, zwischen Proletariat und Bourgeoisie zu vermitteln sucht. Wo der Sozialismus bis jetzt die schärfsten Klassengegensätze aufdeckte, da sucht der Opportunismus nach Einigungspunkten. Er treibt Kompromisspolitik. Er will die Spitzen abbrechen, die Gegensätze überbrücken. So entstehen jene Theorien der Anpassung, des Hineinwachsens etc., durch welche der Opportunismus vor sich selbst und vor der Welt die Hoffnungslosigkeit seines Standpunktes zu verdecken sucht. Sehen wir uns an, zu welchen Resultaten der Opportunismus gelangt, wenn er diese Theorien in die Praxis umzusetzen versucht.
Man sollte meinen, der dem Opportunismus nächstliegende Gedanke wäre jener der Verstaatlichungen. Das wäre der Weg der Verständigung, auf dem nichts ohne die Zustimmung der Kapitalistenklasse geschieht und dennoch die Produktion dem kapitalistischen Privatbesitz entzogen wird. Das ist ja auch die Basis, auf der sich der Kathedersozialismus aufbaut. Aber gerade an den Gedanken der Verstaatlichungen wagen sich unsere Opportunisten am allerwenigsten heran. Warum? Der Grund ist klar: sie fürchten den Staat. Zwar wiederholen sie auf Schritt und Tritt, dass der Staat fortgesetzt und von selbst immer demokratischer werde, aber in der Praxis schrecken sie selbst vor den Konsequenzen ihres eigenen theoretischen Denkens zurück.
Also Verstaatlichungen – nicht. Dann vielleicht Kommunalisierungenßß Um diese macht der Opportunismus ein breites Gerede, aber man wird sich vergeblich bemühen herauszufinden, was denn eigentlich der Opportunismus in dieser Richtung hin in der Praxis Neues zu proponieren hätte. Die Sozialdemokratie hat ihre Kommunalpolitik entwickelt, ohne auch nur im Geringsten ihre sozialrevolutionären Grundsätze zu verletzen. Im Gegenteil, die Tätigkeit in der Gemeinde bringt ihr nur von Neuem den Beweis der Notwendigkeit einer Änderung der kapitalistischen Staatsorganisation wie der kapitalistischen Eigentumsordnung. Ob es sich um die Wohnungsfrage, um Elektrizitätswerke oder um Straßenreinigung, darum, dass in einem Arbeiterviertel ein paar Laternen mehr aufgestellt werden, und dergleichen mehr handelt, immer stößt man in der Gemeindepolitik auf die Frage der Grundrente. Die Hausherren benutzen jeden Fortschritt, jede Verbesserung, um die Mietpreise zu steigern. Besteuert man sie, so wälzen sie die Steuern auf die Mieter ab. Aber währenddem der revolutionäre Sozialist zielbewusst gerade jene Momente hervorzuheben sucht, welche die Kommunalpolitik in Widerspruch setzen zu der kapitalistischen Eigentumsform, sind sie dem Opportunisten nur Ballast, der bleischwer seine Bewegungen hindert, ebenso viele Hindernisse seiner „positiven Tätigkeit“. Er vermag den Widerspruch nicht zu lösen, deshalb sucht er ihm aus dem Wege zu gehen, indem er sich möglichst unbedeutende Aufgaben stellt, bei denen die Gegensätze weniger schroff zum Ausdruck kommen. Aber je geringer der praktische Wert seiner Tätigkeit, desto kühner die theoretischen Spekulationen, die er daran knüpft. Der Revolutionär als Kommunalpolitiker kann sich durch nichts befriedigt fühlen, er hat für alle Mängel und Unzulänglichkeiten ein scharfes Auge und wird gerade deshalb zur treibenden Kraft – der Opportunist als Kommunalpolitiker hat stets alle Hände voll „positiver Arbeit“, bewegt sich geschäftig wie ein Maulwurf und bleibt wie dieser im engsten Kreise, macht aus jedem Quark ein großes Wesen und glaubt, den Grundstein zum Sozialismus gelegt zu haben, wenn er Volksbrausebäder und öffentliche Bedürfnisanstalten errichtet.
Der Opportunist glaubt, durch Kommunalpolitik den Kapitalismus ungestalten zu können – in Wirklichkeit scheitert die Kommunalpolitik an dem Kapitalismus, bleibt Stück- und Splitterwerk, wird durch die kapitalistischen Verhältnisse nicht nur gehindert, sondern umgestaltet, oft so, dass das Gegenteil von dem herauskommt, was beabsichtigt wurde. Man führt zum Beispiel nach einem Vorort Wasserleitung und Kanalisation, legt eine Straßenbahn an etc., um den dort wohnenden Arbeitern Bequemlichkeiten zu verschaffen und erreicht damit, dass die Arbeiter aus ihren Wohnungen vertrieben werden, da nunmehr Beamte, Lehrer, Offiziere, Rentiers etc. nach dem Vorort ziehen und die Mietpreise steigen.
Die proletarische Kommunalpolitik vermag also die Staatspolitik des Proletariats nicht zu ersetzen. Sie bedarf vielmehr selbst, um sich vollständig entwickeln zu können, einer grundsätzlichen Änderung der ökonomischen Struktur der Gesellschaft, die ohne die Diktatur des Proletariats nicht durchzuführen ist. Indem der Opportunismus mit dieser nicht mehr rechet, untergräbt er auch hier den Boden jeder praktischen Tätigkeit, deren Gesichtskreis über jenen der bekannten sozialpolitischen Bürgermeister etwas hinausreicht.
Ein weiteres Lieblingsthema der Opportunisten sind die Genossenschaften, vorzüglich die Konsumvereine. Und wieder gerät man in die größte Verlegenheit, wenn man herausfinden will, welche besonderen Vorschläge der Opportunismus in der Praxis zu machen hat. Gewiss war der Standpunkt der Partei in diesen Dingen eine Zeit lang einseitig und beschränkt, doch hat sie die Entwicklung der Konsumvereine nicht nur nicht gehindert, sondern gefördert. Sie hat ihre Freude an dieser Entwicklung, braucht aber deshalb noch keineswegs sich Illusionen hinzugeben über die ökonomische Tragweite und die sozialpolitische Bedeutung der Konsumvereine und der mit ihnen zusammenhängenden Genossenschaften. Gegen die Versuche der Mittelstandspolitiker, die Konsumvereine durch eine fiskalische Gesetzgebung zu strangulieren, hat die Partei stets energisch Front gemacht – allerdings nicht gerade, weil es sich um sozialistische Bildungen, um so mehr aber, weil es sich um eine Verbrauchssteuer auf das Volk handelt –, sonst aber lässt sich zu Gunsten der Konsumvereine, außer einer allgemeinen Propaganda, seitens der Partei tatsächlich nicht mehr viel tun. Der Opportunismus selbst ist weit davon entfernt, die Partei zu einer allgemeinen Gründung von Konsumvereinen aufzufordern, denn das würde allerdings schnell zu einer „kolossalen Niederlage“ führen.
Damit verlassen wir nun überhaupt das Gebiet jener Maßnahmen, die mit mehr oder weniger Aussichten auf Erfolg, auf eine Änderung der ökonomischen Struktur der Gesellschaft bzw. der grundlegenden Verhältnisse, welche die Ausbeutung bedingen, hinausgehen. Die Ausbeute, die uns dabei der Opportunismus gewährt, ist äußerst armselig: keine Änderung der Eigentumsform auf politischem Wege, keine Verstaatlichungen, eine Kommunalpolitik, die verurteilt ist, Stück- und Flickwerk zu verbleiben, schließlich die Konsumvereine. Nichts, was die Partei nicht auch schon, ohne opportunistisch zu werden, beachtet hätte, nichts, was die Partei auf diesen Gebieten mehr als bisher vorwärts treiben sollte, nur utopische Phantastereien und Illusionen. Das nennt sich „Realpolitik“! Der Unterschied ist nur der, dass währenddem die Partei das eine tut, ohne das andere zu lassen, und zum Beispiel energische Kommunalpolitik betreibt, ohne deshalb die Eroberung der politischen Macht, die ihr die Möglichkeit geben würde, die allgemeinen Verhältnisse im Staat zu ändern, und auch in der Kommunalpolitik ganz andere Potenzen ihr in die Hand legen würde, außer Acht zu lassen, der Opportunismus die Kommunalpolitik vorschiebt, um den Mangel eines sozialrevolutionären Standpunktes zu decken, und in Folge dieses Mangels die Kommunalpolitik selbst in eine farblose Reformtätigkeit im seichtesten bürgerlichen Sinne auflöst.
Mag sich der Opportunismus sozialistisch oder gar sozialrevolutionär nennen, Tatsache ist, dass für ihn in der Praxis jede grundsätzliche Änderung der ökonomischen Struktur der Gesellschaft in den weiten Hintergrund tritt. Da wird der Sozialismus bestenfalls zu einem Glaubensartikel, den man nur gewohnheitsmäßig hersagt, ohne ernstlich daran zu denken, ihn im Leben zu verwirklichen. Darum wird dem Sozialismus so gern von den Opportunisten das Gebiet der Propaganda eingeräumt: über den Sozialismus reden, so viel man will, nur für die Praxis sei das nichts, da müsse „Realpolitik„ getrieben werden. Das Prinzip antasten – bewahre! Nur sei das Prinzip eins und die Taktik etwas ganz anderes, dem Prinzip diametral Entgegengesetztes!
Je mehr der Opportunist den Sozialismus in die weiteste Ferne, in das Reich der Phantasie verlegt, desto mehr lernt er, sich den kapitalistischen Verhältnissen unterzuordnen. Das ist etwas ganz anderes, als sich nach den Verhältnissen richten, um sie für vorgefasste Zwecke um so besser ausnützen zu können. Der Unterschied zeigt sich besonders in der Arbeiterschutzgesetzgebung.
Bei der Aufstellung ihrer Arbeiterschutzforderungen richtet sich die Sozialdemokratie nach den allgemeinen Verhältnissen der kapitalistischen Produktion. Soweit es sich dabei um Einschränkungen der Ausbeutung handelt, steht und fällt ja die Fabrikgesetzgebung mit dem Kapitalismus. Die Sozialdemokratie geht noch weiter und zieht bei der Abfassung ihrer Gesetzesanträge die allgemeinen industriellen Verhältnisse des Landes in Betracht. Aber das alles genügt noch der opportunistischen „Realpolitik“ nicht. Da es sich um ein Gesetz handelt, so erkundigt sich der Opportunist vor Allem nach den parlamentarischen Konstellationen. Was werden die bürgerlichen Parteien sagen? Wie wird sich die Regierung zu der Frage stellen? Und er reduziert seine gesetzgeberische Forderung, obwohl er von der ökonomischen Möglichkeit ihrer Durchführung überzeugt ist, um nur die nötige Stimmenzahl im Parlament und die Einwilligung der Regierung zu erlangen. So entsteht jene Scheingesetzgebung, von der der Millerandsche Normalarbeitstag und seine Streikregulierungsvorlage die kennzeichnenden Beispiele sind. Statt auf die parlamentarischen Parteien einen Druck von außen auszuüben, statt die Zusammensetzung des Parlaments zu beeinflussen, kurz, statt das Parlament dem eigenen Willen anzupassen, fügt sich der Opportunist von vornherein der bürgerlichen Parlamentsmehrheit.
Wenn nun diese opportunistische Taktik in der Arbeiterschutzgesetzgebung an Stelle einer Politik tritt, welche die politischen Gegensätze auf die Spitze treibt, so kann sie zunächst wohl einige kleine Erfolge erzielen. Die bürgerlichen Parteien sind dann froh, dass die Spannung nachlässt und zeigen dann ihrerseits etwas Entgegenkommen. Der Opportunismus verdankt also jene Erfolge nicht sich selbst, sondern er liquidiert bloß die übernommene Erbschaft, er wechselt das durch langjährige sozialrevolutionäre Agitation gesammelte Kapital in kleine Münze aus. Es ist sehr begreiflich, dass der Opportunismus, der nichts vor sich hat, keine politischen Perspektiven, kein Endziel, das aus dem Sozialismus ein verschwommenes utopistisches Ideal macht, da dessen sozialrevolutionärer Zusammenhang seinem Gesichtskreis entschwindet, nach sofortigen „positiven“ Erfolgen trachtet, denen zu Liebe er die Vergangenheit und die Zukunft opfert. Aber diese politische Verschwendung endet noch rascher und schmählicher, als jede andere Form der Verschwendung. Die Bourgeoisie, die sich erst darüber freut, dass sich die Sozialdemokratie auf Kompromisse einlässt, wird, je mehr Entgegenkommen sie von ihrem Widerpart findet, desto zurückhaltender. Da ist der Bourgeois ein zu guter Geschäftsmann, um nicht seinen Vorteil wahrzunehmen. Je weniger energisch die Sozialdemokratie auftritt, um so weniger Respekt hat man vor ihr. In gleichem Maße steigt die Liebenswürdigkeit, mit der man sie behandelt.
„Sozialistengesetz? Um Gottes Willen, nein, da macht man nur die Führer zu Märtyrern und reizt die Massen! Aber wozu auch? Es sind ja ganz nette, diskutable Leute, die der Staatsräson wohl zugänglich sind. Sozialpolitik? Ja gewiss, freilich, berechtigte Forderung der Arbeiter! Aber nur nicht alles auf einmal. Der Staat, die Regierung haben auch ohnedies kolossal viel zu tun. Was die Dinge im fernen Ostasien allein für Sorgen machen! Die Unterstützung unserer stammesverwandten Buren in Südafrika und die Abmachungen mit dem Vetter über dem Kanal! Bald passiert in Zentralamerika was, bald auch in der Türkei! Wir müssen Weltpolitik treiben. Dazu der Militarismus, die Marine, Panzerbauten – Beschäftigung für Arbeiter, auch Sozialpolitik! Also nur geduldig warten, mit der Zeit, vielleicht später einmal – warum denn nicht, wir denken modern! Ihr sagt ja auch, die Entwicklung sorgt schon von selbst ... Immer langsam voran. Wir machen gelegentlich auch wieder ein bisschen Sozialpolitik, indessen jetzt müssen wir die Lebensmittelzölle erhöhen!„
Kein Mensch wird sich nach der Zeit zurücksehnen, da die Partei unter dem „Schandgesetz“ stand. Aber vergessen wir nicht, dass die deutsche Sozialdemokratie das Sozialistengesetz nicht dadurch stürzte, das sie die Hand leckte, welche über sie die Peitsche schwang, sondern durch ehernen Trotz. Nicht weil sich die Sozialdemokratie mit dem kapitalistischen Staate ausgesöhnt hatte, sondern weil sie unter dem Ausnahmegesetz eine Furcht einjagende Macht geworden war, ließ man dieses Gesetz fallen. Und diese heilsame Furcht vor der Sozialdemokratie ist auch die hauptsächliche bewegende Kraft der Arbeiterschutzgesetzgebung. Dafür haben wir ja das klassische Zeugnis Bismarcks, das uns so große agitatorische Dienste leistet: „Wenn die Furcht vor der Sozialdemokratie nicht wäre, hätten wir auch das bisschen Sozialreformen nicht, das wir besitzen.“ Darum gehen denn auch sozialrevolutionäre Agitation und Sozialreform Hand in Hand. Wenn das Proletariat sich anschickt, die ganze kapitalistische Gesellschaftsordnung aus den Angeln zu heben, dann gibt ihm die Bourgeoisie Arbeiterschutzgesetze, um es zu beruhigen – wenn das Proletariat die ökonomischen Grundlagen in Ruhe lässt und in aller Bescheidenheit den zehnstündigen Arbeitstag verlangt, dann wird er ihm nicht gewährt, um es nicht zu begehrlich zu machen, sondern es erhält die Vertröstung auf den elfstündigen Arbeitstag!
Ganz abgesehen schon vom Ausbeuterinteresse, selbst die feindselige Gleichgültigkeit der Kapitalistenklasse in allen Dingen, welche den Arbeitern von Nutzen sind, kann nur durch den Druck der Massen gebrochen werden. Der Opportunist mag dem Kapitalisten noch so gelehrt oder beredt nachweisen, dass eine Verkürzung der Arbeitszeit die Tagesleistung der Arbeiter nicht verringern würde, so wird der Unternehmer doch bei der alten Arbeitszeit bleiben, wenn er nicht gezwungen wird, es anders zu machen. Aber gerade dadurch, dass der Opportunist seine Arbeiterschutzanträge der bürgerlichen Parlamentsmehrheit anpasst, vermindert er ihre Anziehungskraft auf die Arbeiterklasse. Er verlangt zum Beispiel nicht den gesetzlichen Achtstundetag, sondern den zehn- oder elfstündigen, weil er hofft, diesen im Parlament leichter durchzudrücken; dadurch schiebt er die fortgeschrittenen Schichten der Industriearbeiter zur Seite, die bereits den neunstündigen Arbeitstag haben, für die also der zehnstündige kein praktisches Interesse mehr hat; das verminderte Interesse der Arbeitermassen kommt selbstverständlich auch in der Öffentlichkeit zum Ausdruck, das Parlament sieht sich von außen weniger bedrängt – in Folge dessen gewährt es auch nicht einmal den elfstündigen Normalarbeitstag. Auch die Argumentation, welche der Opportunist anwendet, um den kurzen Normalarbeitstag, die wichtigste Forderung des Arbeiterschutzes, die auf der Tagesordnung steht, zu verteidigen, ist sehr bemerkenswert. Er will vor Allem dem Unternehmertum beweisen, dass die Kürzung der Arbeitszeit ihm keinen Schaden, vielmehr Vorteile bringen würde. Nun ist es gewiss eine wichtige Sache, die kapitalistischen Übertreibungen der störenden Wirkungen der Arbeiterschutzgesetze zurückzuweisen, aber auf den Standpunkt stehen wir denn doch nicht, dass wir nur solche Fabrikgesetze verlangen, unter denen das kapitalistische Interesse keine Einbuße erleidet. Sonst kämen wir niemals zum Verbot der Kinderarbeit, der Nachtarbeit u. a. m. diese Rücksichtnahme auf das kapitalistische Interesse vermindert die Agitationswirkung auf die Arbeiter, deren Vorteile sich nie konsequent wahrnehmen lassen, ohne das Ausbeuterinteresse zu verletzen.
So führt auch in der Arbeiterschutzgesetzgebung der Versuch des Opportunismus, über die Klassengegensätze hinweg eine Verständigung zu erzielen, nur zur Lähmung der politischen Aktion des Proletariats. Das Kapital, das die herrschende Klasse ist und also nur die bestehenden Staatszustände zu verteidigen hat, zieht nur Vorteile daraus, wenn die Schärfe des Klassenkampfes gemildert wird, mit anderen Worten die Opposition gegen seine herrschende Stellung nachlässt. Darum seine Sehnsucht nach dem „sozialen Frieden“.
Die Gewerkschaften! Währenddem die bürgerliche Presse, bis tief hinein in die Reihen der hohen Bourgeoisie, in den Gewerkschaften Arbeiterorganisationen erblickt, die sich auf dem Boden der kapitalistischen Gesellschaftsordnung häuslich einrichten, bestimmte Interessen vertreten, ohne deshalb die Grundlagen des Kapitalismus anzutasten – behauptet der Opportunismus, die Entwicklung der Gewerkschaften führe zur Strangulierung der Kapitalistenklasse, zur allmählichen Beseitigung des kapitalistischen Privateigentums. Originell ist dieser Gedanke nicht, es ist die alte Redensart, die der Kapitalist gern bei Streiks in Umlauf setzt, um die öffentliche Meinung gegen die Arbeiter aufzuhetzen: die Gewerkschaft wolle statt seiner „Herr im Hause„ sein! Beide Anschauungen sind Übertreibungen. Die Gewerkschaften sind durchaus nicht harmlos, sie sind proletarische Kampforganisationen, die ihre Spitze gegen die kapitalistische Ausbeutung kehren. Aber obwohl sie Kampforganisationen sind, sind sie doch, für sich genommen, durchaus nicht im Stande, die ökonomische Struktur der kapitalistischen Gesellschaft umzuwälzen, sondern sie führen nur durch ihre Tätigkeit ebenfalls den Beweis der Notwendigkeit jener politischen und ökonomischen Änderungen, welche durch die Diktatur des Proletariats eingeleitet werden. Der Zusammenhang zwischen der gewerkschaftliche Tätigkeit und der Arbeiterschutzgesetzgebung wird jetzt von Niemand bestritten, – wie aber die opportunistischen Gesichtspunkte die Entwicklung der Arbeiterschutzgesetzgebung hemmen, ist soeben nachgewiesen worden. Aber der opportunistische Standpunkt erweist sich überhaupt der gewerkschaftlichen Praxis hinderlich. Die Gewerkschaften müssen in ihren Kämpfen auf die industrielle Lage, auf die Konkurrenz und sonstige kapitalistische Verhältnisse Rücksicht nehmen, weil diese Momente sehr von Einfluss sind auf den Ausgang des Kampfes; aber wenn die Situation günstig ist, wagen die Gewerkschaften den Angriff auf das Kapital, sollte selbst darunter die industrielle Entwicklung beziehungsweise die Konkurrenz leiden. Je größer und länger andauernd ein Streik ist, desto größer, mit Ausnahme der von den Unternehmern selbst provozierten Streiks, der Schaden, den er der Industrie zufügt, desto schwieriger ist er wieder gut zu machen. Aber allen derartigen Vorhaltungen der Unternehmer antworten die Gewerkschaften: „Wir wollen Zustände, unter denen wir ein menschenwürdiges Dasein führen können (das ist z. B. der Grundsatz des Living Wage)! Das heißt mit anderen Worten: wollten wir uns grundsätzlich nach dem kapitalistischen Interesse richten, so kämen wir nie aus dem Elend heraus; wir setzen also unser menschliches Interesse dem Interesse der Kapitalakkumulation, der Konkurrenz etc. entgegen; kann die kapitalistische Gesellschaft unsere Forderungen nicht befriedigen, dann weg mit dieser Gesellschaftsform.“ Aus der Ware Arbeitskraft erhebt sich eine menschliche Stimme, die gegen diese ökonomische Verpuppung der Menschen protestiert und dadurch gegen die gesamte ökonomische Struktur, deren unentbehrlicher Bestandteil der Mensch – Ware ist. Der Opportunismus aber trägt auch hier am meisten Rechnung den kapitalistischen Unzulänglichkeiten. Er ist ängstlich besorgt um die Interessen der Industrie und deshalb am ehesten bei der Hand, um im Interesse der industriellen Entwicklung einen Streik zu hindern, eine gewerkschaftliche Aktion zu verurteilen. Ich erinnere nur an die Haltung Bernsteins im großen englischen Maschinenbaustreik. Darum sucht der Opportunist auch hier, zu versöhnen, zu vereinigen, und legt ein so großes Gewicht auf die Tarifgemeinschaften, die Einigungsämter etc. Indem er also den gewerkschaftlichen Kampf mehr als nötig zurückhält und abstumpft, bildet er sich ein, dadurch dem Kapitalismus den Garaus zu machen.
In Allem, was der Opportunismus beginnt, immer dasselbe Spiel: Da er mit der Möglichkeit der Diktatur des Proletariats bzw. der sozialen Revolution praktisch nicht mehr rechnet, unterstellt er eine unabsehbare Dauer der kapitalistischen Produktionsweise. In Folge dessen bleibt er ratlos, sucht keinen Ausweg, wenn er bei der Wahrnehmung der Arbeiterinteressen Hindernissen begegnet, die sich aus dem Ausbeutungscharakter der kapitalistischen Produktion, also ihrem ureigensten Wesen, ergeben, Darum ist seine „Realpolitik“ nichts anderes als ein fortwährendes Bremsen, Zurückhalten des proletarischen Klassenkampfs in allen seinen Erscheinungsformen.
Wer aber sich auf den Boden der kapitalistischen Produktionsweise stellt, der muss auch den kapitalistischen Staat mit in den Kauf nehmen. Wie nun der Opportunismus seine Kapitulation vor der kapitalistischen Produktionsweise durch eine theoretische Verwischung der Grenzen zwischen Kapitalismus und Sozialismus markiert, so sucht er seine Unterwerfung unter den kapitalistischen Staat durch den Hinweis auf die fortschreitende Demokratisierung des Staats zu decken. Allein die demokratische Form beseitigt noch nicht den Klassencharakter des Staats. Diese Erfahrung muss der Opportunist auf Schritt und Tritt machen. In gleicher Zeit, wie er seine Arbeiterpolitik immer mehr einschränkt, sieht er sich genötigt, kapitalistische Staatspolitik zu treiben.
Wie soll zum Beispiel der Opportunist die Kolonialpolitik grundsätzlich bekämpfen, da er weiß, aus seinen Marxstudien nur zu gut weiß, dass der kapitalistische Staat Kolonialpolitik treiben muss, wenn er nicht unter der Last der Überproduktion zusammenbrechen soll? So beschränkt er denn seine Kritik auf Äußerlichkeiten und lebt schließlich nur noch von der Gnade der Kolonialbanditen und persönlichen Schufte, die für die Füllung der Rubrik „Kolonialgräuel“ sorgen und ihm dadurch die oppositionelle Stellung erleichtern. Sonst aber – warum soll nicht Deutschland Kiautschou in Besitz nehmen? Warum sollen „wir“ nicht auch unseren Anteil haben? Wer einmal mit diesen Gedankengängen nicht fertig werden kann, der wird bald die ganze kolonialpolitische Litanei hersage. Und wenn er auch fortfährt gegen einzelne Kolonialgräuel Protest zu erheben, so wird er doch bald lernen, von dieser Blut- und Eisenpolitik in ihrer Gesamtheit ein Auge zuzudrücken. Denn was ist Kolonialpolitik? Der Versuch, mit Gewalt die kapitalistische Ausbeutung Völkern aufzunötigen, die in naturwüchsigen Verhältnissen leben und sich mit Leib und Seele dagegen wenden, ins Joch des Kapitals gebracht zu werden. Und das erreicht man eben weniger mit Parlamentsreden als mit Flinte und Peitsche.
Aber wenn bei der Kolonialpolitik noch eine gewisse Wahl besteht, ob man mittun soll oder nicht, so beim Militarismus schon gar keine. Man entblöße einen modernen kapitalistischen Industriestaat von seiner Armee, und er hört auf zu existieren. Die Volksmiliz? Aber die Volksmiliz wird von der Kapitalistenklasse niemals bewilligt werden. Zwar der einzige Grund dafür ist, dass das Kapital die Armee gegen den inneren Feind braucht, und dieser wirft alle demokratischen Redensarten und die ganze opportunistische Harmonieduselei über den Haufen –, aber immerhin, Tatsache ist, dass die Verwandlung der stehenden Heere in Volksmiliz in den kapitalistischen Industriestaaten die Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat zur Vorbedingung haben müsste; da nun der Opportunist mit der Diktatur des Proletariats in der Praxis nicht mehr rechnet, so bleibt ihm als Realpolitiker nichts mehr übrig, als sich mit dem stehenden Heere zu versöhnen. Und so sehen wir, wie er sich auf den Weg zur Bewilligung des Armeebudgets begibt. Freilich wagt er es hier am allerwenigsten, die Konsequenzen seines Standpunktes zu ziehen. Er wäre nicht abgeneigt, neue bessere Ausrüstungen zu bewilligen, aber er macht einen Unterschied zwischen Bewaffnungsvorlagen und reinen Militärvorlagen, die einer Erhöhung der Präsenzstärke verlangen. Der Unterschied ist nicht stichhaltig. Entscheidend in einem modernen Krieg ist nicht nur die Waffe, sondern auch die Zahl. Begibt man sich einmal auf den Standpunkt der militärischen Zweckmäßigkeit, so wird man sich bald überzeugen müssen, dass eine kleine, wenn auch gut ausgerüstete Armee ebenso ihrem Verderben entgegen geht, wie eine große Armee, die schlecht ausgerüstet ist. Also erst die Waffen für die Soldaten, dann die Soldaten für die Waffen – wenn man konsequent sein will.
Wer aber dem Militarismus zustimmt, der muss auch den Steuern zustimmen.
Der Opportunismus hört also nicht etwa mit der Arbeiterpolitik auf, er setzt sich in der Demokratie fort, er führt zu einer vollständigen Assimilierung an die kapitalistische Staatspolitik. Das ist auch sehr begreiflich. Der Bauer und der Handwerker machen dem Kapitalismus Opposition vom Standpunkt bestimmter Produktionsformen, die von ihm ruiniert werden. Was aus dem Kapitalismus selbst wird, geht sie nichts an. Anders das Proletariat. Es kämpft nicht für die Vergangenheit, sondern für die Zukunft. Es kann den Kapitalismus nur vom Standpunkt der sozialen Revolution bekämpfen. Gibt es diesen Standpunkt auf, so bleibt nichts übrig, als sich dem Gefüge der kapitalistischen Gesellschaftsordnung anzubequemen – es hat nicht, wie der Handwerker, eine untergehende Gesellschaftsordnung zum Leben zurückzurufen. Das Proletariat kann nur entweder der Totengräber oder der Untertan des Kapitals sein. Aber nach einem Jahrhundert sozialrevolutionären Kampfes ist es nicht mehr denkbar, dass das Proletariat sich willig in die kapitalistische Hörigkeit fügen sollte. Die Schlussfolgerung für den Opportunismus ergibt sich daraus von selbst.
Der Opportunismus bedeutet ein Nachlassen der politischen Energie auf allen Gebieten, eine allgemeine Deroute, eine Konfusion und Ratlosigkeit. Er greift selbst darüber hinaus, wozu er durch das Aufgeben des sozialrevolutionären Standpunktes genötigt wird. Das zeigte sich besonders in der Zollfrage. Hier konnten wir in den letzten Jahren beobachten, wie nicht nur der kapitalistische Einfluss den sozialrevolutionären Gesichtspunkt verdunkelte, sondern selbst das der kapitalistischen Entwicklung Deutschlands zuwiderlaufende Schutzzollgeschrei in der sozialdemokratischen Literatur Anklang fand.
Der Opportunismus innerhalb der Sozialdemokratie ist nichts anderes als ein Nationalliberalismus, der sich den besonderen Verhältnissen einer parlamentarischen Arbeiterpartei anpasst.
Zuletzt aktualisiert am 29. May 2024