MIA > Deutsch > Marxisten > Parvus > Opportunismus i. Praxis
Dass die wissenschaftliche Erkenntnis keinen Stillstand kennt, dass mit der Entwicklung der ökonomischen Verhältnisse auch eine Revision der ökonomischen Theorien notwendig wird, das sind Banalitäten. Darüber streitet Niemand. Es gehört die Geistesleere des Opportunismus dazu, um ein breites Gerede darum zu machen, dass er sich dem Dogma nicht fügen wolle, dass er das Recht habe, seine eigene Meinung zu haben, dass er sich von Niemand das Recht bestreiten lassen wolle, zu kritisieren, zu revidieren etc. Wer wirklich etwas Neues zu sagen hat, der sagt es, ohne viel zu fragen, und sorgt vor Allem dafür, dass das Ding Hand und Fuß bekomme, dass zwischen ihm und dem Alten eine klare und präzise Scheidung stattfinde. Aber diese Scheidung, die unerlässlich ist zur Klarheit, wagt der opportunistische Revisionismus nicht, er versteckt sich, wenn angegriffen, hinter derselben Doktrin, die er bekämpft. Er wagt es nicht, mit eigener Stimme zu sprechen, er spitzt die Lippen nach alter Art und behauptet, sein elendes Piepsen sei das alte muntere Pfeifen. Nicht das Recht der eigenen Meinung wird ihm bestritten, sondern das Recht, seine Meinung den durch das ganze Denken und Wirken von Marx und Engels festgelegten Ideen des wissenschaftlichen Sozialismus zu unterschieben. Der revolutionäre Sozialismus mag in seinen Grundlagen falsch sein, man beweise uns das, aber wenn man uns sagt, die Welt habe ein halbes Jahrhundert lang Marx und Engels missverstanden, diese haben selbst nicht gewusst, was sie gewollt haben, und würden es erst aus dem Munde Bernsteins erfahren haben, wenn sie nicht zu früh verstorben wären, so weisen wir das auf Grund wissenschaftlicher und politischer Dokumente mit Hohngelächter zurück. Was wir brauchen, das ist vor Allem Klarheit. Wir müssen entschieden gegen jeden Versuch einer literarischen Konfusion protestieren, welche die Konsequenzen ihres eigenen Denkens verbirgt, gegen alles, was darauf hinausgeht, die Wahrheit zu verdunkeln statt sie klarzulegen.
Die ganze vierjährige Kampagne gegen den Bernsteinschen Revisionismus erstrebt nichts anderes als Klarheit. Nach rechts oder nach links: sollen wir auf dem Boden des revolutionären Sozialismus verbleiben oder sollen wir eine sozialreformerische Partei werden – nur keine Konfusion, kein politisches Maskenspiel, kein Selbstbetrug! Aber eine klare, sichere Stellungnahme ist eben für Bernstein nicht mehr möglich, er hat die Fähigkeit verloren, auch nur einen Augenblick die Dinge anzusehen, ohne den Gesichtspunkt zu verschieben: in einem tollen Wirbeltanz dreht er sich um seine eigene Achse, dass alles um ihn schwirrt und schillert! Fordert man ihn auf, die Konsequenzen seines eigenen Standpunktes zu ziehen, so erscheint ihm das höchst ärgerlich, ja beleidigend. Kann man sich eine lächerlichere Situation denken, als die dieses Parteireformators, dieses Bahnbrechers des Sozialismus, der dem internationalen Proletariat neue Wege zeigen will und der sich bitterjämmerlich darüber beklagt, dass er durch eine Hinterlist dazu gebracht worden sei, seine Ansichten publik zu machen! [B] Ganz heimtückisch habe an ihm sein Freund Kautsky gehandelt, als er ihm den Rat gegeben habe, seine Ansichten in einem Buche zusammenzufassen. Welche Perfidie! Musste doch Kautsky wissen, dass Bernstein durch eine zusammenhängende Darstellung seines Revisionismus sich unsterblich blamieren werde! Es ist ein sehr interessanter Charakterzug des opportunistischen Revisionismus: einerseits wird Bernstein, je mehr er „revidiert“, immer geschwätziger, andererseits trägt er das Gefühl mit sich herum, besser wäre es, er hätte überhaupt geschwiegen. Er fühlt sich in der Haut des Ovidschen Raben, dem Zeus wegen seiner Geschwätzigkeit das Gefieder geändert hatte, sehnt sich nach seiner makellosen Vergangenheit zurück und kann doch nicht lassen, weiter zu schwatzen.
Vormals weißer wie Schnee mit silberhellem Gefieder |
Auch Marx und Engels sind ja als Kritiker, als Revisionisten aufgetreten. Nun sehe man doch, mit welcher Schärfe sie ihren Standpunkt aus dem Wuste hergebrachter Ideen herauszuschälen bemüht waren, wie kühn und sicher sie die Grenzen zwischen dem Neuen und dem Alten zogen, bis auf Äußerlichkeiten, bis auf den Namen – sie nannten sich Kommunisten im Unterschied zu dem sozialistischen Mischmasch jener Zeit. Denn sie hatten ein politisches Programm, eine soziale Doktrin zur Geltung zu bringen. Und so hat bis jetzt noch jeder gehandelt, der in der Wissenschaft oder in der Politik einen originellen Gedanken zu verfechten hatte. Aber dieser opportunistische Revisionismus ist gerade dadurch charakterisiert, dass er keinen einzigen eigenen Gedanken aufweist, keine einzige neue Tatsache aufzubringen vermag. Er ist den alten Überzeugungen untreu geworden und hat keine neuen gewonnen. Er bekämpft die sozialrevolutionären Grundsätze mit sozialreformerischen Argumenten aber was er an Stelle des Sozialismus setzen soll, weiß er nicht.
In dem ganzen Sammelsurium der Bernsteinschein Aufstellungen: dass die Klassenscheidung nicht so rasch vor sich gehe, wie der Sozialismus annimmt, von der Mittelklasse, welche die Zuspitzung der Klassengegensätze verhindert, vom Bauerntum, das an seinem Kleinbesitz hängt, von den gewerblichen Kleinbetrieben, die noch immer sehr zahlreich sind, von der verlangsamten Betriebskonzentration, von der gewichtigen Rolle des Kapitalisten als Unternehmer, dass die Handelskrisen nicht im Wesen der kapitalistischen Produktion gründen, sondern dem Schwindel zuzuschreiben seien und jedenfalls der kapitalistischen Organisation des Handels, den Kartellen etc. weichen müssen, von dem kapitalistischen Kulturfortschritt und der Besserung der Lage der Arbeiter, vom Einfluss philanthropischer Anschauungen, der öffentlichen Meinung, der Demokratie, vom langsamen Fortschritt oder dass die Geschichte keine Sprünge mache, von der Unreife der Arbeiterklasse, von der Verwandlung des Proletariats in einen Kapitalisten durch den Besitz einer kleinen Aktie oder eines Sparkassenbüchleins, von den wirtschaftlichen Umformungen die von selbst, ohne zielbewusste Einmischung der politischen Gewalt, den Kapitalismus langsam, aber sicher in eine andere Gesellschaftsordnung umwandeln – ja, ist denn in alledem auch nur ein Wort, das nicht schon vor Bernstein tausendfach mündlich und schriftlich wiederholt worden wäre, ein Gedanke, der nicht bereits mindestens ein Menschenalter hinter sich hätte?! Das alles war uns längst bekannt und längst durch gute Gründe als krasse Übertreibung, direkte Unrichtigkeit oder Verschiebung des Sachverhalts zurückgewiesen worden.
Das Tatsachenmaterial, mit dem Bernstein seinen Revisionismus belegt, ist so dürftig, so kritiklos zusammengestellt, dass sicher jeder deutsche bürgerliche Sozialreformer sich schämen würde, damit gegen den revolutionären Sozialismus ins Feld zu ziehen. Da es sich diesmal nicht um eine Widerlegung – das ist ja längst geschehen –, sondern um eine Charakteristik des Bernsteinschen Revisionismus handelt, will ich hier nur anführen, dass Bernsteins Bezugnahme auf die deutsche Berufs- und Gewerbestatistik selbst von ihrem amtlichen Bearbeiter Lügen gestraft wird.
So hat es Bernstein stutzig gemacht, dass neben dem allgemeinen Rückgang der Kleinbetriebe in einzelnen Gewerben sich vielmehr ein Wachstum derselben feststellen lässt. Bernstein sieht darin einen Parallelismus der Entwicklung von Großbetrieb und Kleinbetrieb. Hören wir die amtliche Statistik! „Die Gründe für das Wachstum der Alleinbetriebe in den genannten Gewerben sind verschieden. Während es in einzelnen Gewerben als Zeichen der gesunden Entwicklung des Kleinbetriebs gelten darf, wie in der Gärtnerei und Tierzucht, bei den Gas- und Wasserinstallateuren, bei Barbieren etc., ist es in anderen Gewerben ein Stadium in dem Konkurrenzkampf zwischen Klein- und Großbetrieb, das im Grunde eine Niederlage des Kleinbetriebs , speziell des Handwerkes, bedeutet. Nämlich ein Zurückdrängen der Handwerker in jene primitive Betriebsform, in der sie dann zum Teil reine Hausindustrielle werden, zum Teil in Abhängigkeit von Magazinen und anderen Großbetrieben geraten.“ Als Beispiel dieses Rückganges führt die Statistik die Schuhmacher, Uhrmacher, Buchdrucker, Tabakarbeiter an. „Dagegen hat die Vermehrung der Alleinbetriebe bei den verschiedenen Arten des Warenhandels, bei der Schneiderei und bei den Ofensetzern wesentlich statistisch-formale Gründe.“ Es wird nachgewiesen, dass das geänderte Zählungsverfahren 1895 die Zahl größer erscheinen lassen musste. „Im übrigen zeigt sich der Rückgang der Alleinbetriebe nicht etwa nur in Gewerbe, wie eine vorschreitende Technik der wichtigste Bundesgenosse des Großbetriebs ist, wie in den verschiedenen Arten der Textilindustrie, der Verfertigung grober Holzwaren, der Molkerei, der Waschanstalten usw., sondern fast noch mehr da, wo der größere Betrieb lediglich organisatorische Vorteile bietet, wie bei den Gewerbearten der Handelsgewerbegruppe, ferner bei dem Frachtfuhrwerk“ etc. Bei dem Vergleich der Betriebe nach ihrer Größe verweist die amtliche Statistik mit Nachdruck darauf, dass die statistische Zahl des beschäftigten Personals allein noch keineswegs maßgebend sei. „Das wirtschaftliche Gewicht der Großbetriebe erscheint in Wirklichkeit noch viel größer, da einerseits neben den menschlichen auch die mechanischen Arbeitskräfte (Motoren, Maschinen) hier besonders in die Wagschale fallen, außerdem ein Teil der Großbetriebe durch Zerlegung von Gesamtbetrieben in der Statistik als Klein- und Mittelbetriebe behandelt ist .“ Sehr bemerkenswert sind die Ausführungen der amtlichen Statistik bezüglich der Entwicklungsfähigkeit zum Großbetrieb der einzelnen Gewerbe. „Hierüber bekommt man Anhaltspunkte, wenn man sich aus der Statistik für jedes Gewerbe die höchste Größenklasse vergegenwärtigt, in der Betriebe dieser Art vorkommen.“ Es werden nun zunächst die Betriebe mit dem niedrigsten Maximum der Betriebsgröße zusammengestellt. Ergebnis:
„Auffälliger Weise sind die angeführten Gewerbearten größtenteils recht unbedeutende und befinden sich insbesondere nur sehr weniger der alten und großen Handwerke darunter. Als solche wären eigentlich nur Barbiere, Friseure, Schornsteinfeger und auch Geigenmacher zu bezeichnen; dies sind auch so ziemlich die einzigen Gewerbe, in denen der Großbetrieb technische Fortschritte überhaupt nicht und auch organisatorische in nur sehr beschränktem Umfang bieten kann.“
Nun wird noch eine besondere Übersicht gemacht für die Gewerbearten, welche „bis heute noch wirkliche Handwerke darstellen“. Ergebnis:
„Von den Gewebearten obiger Zusammenstellung weisen vier bereits eine Entwicklung zum Kolossalbetrieb auf: Gärtnerei, Stellmacherei, Seilerei und Gerberei. ... es erscheinen bis zu ganz großen Betrieben (mit 501 bis 1000 Personen) entwickelt: Ziegelei, Hutmacherei und Maurerei. Bis zur großen Fabrik (mit 201 bis 500 Personen) entwickelt sind vor Allem die wichtigsten Handwerke der Schuhmacherei und Tischlerei. ... Außerdem gehören hierher: Töpferei. Müllerei, Konditorei, die als ‚modernes Handwerk‘ gepriesene Einrichtung von Gas- und Wasseranlagen, ferner Böttcherei, Gürtler, Steinsetzer, Sattler.“
Und dann auf Grund eines Vergleichs mit 1882:
„Man kann sonach von einer vom Großbetrieb sich entfernenden Entwicklung nur bei der Gärtnerei sprechen. ... Im übrigen haben Tierzucht und Fischerei, Beherbergung und Erquickung noch am meisten den kleingewerblichen Charakter bewahrt, alle anderen Gruppen streben mehr oder weniger rasch einer großgewerblichen Entwicklung zu.“
Wie schon erwähnt, verweist der amtliche Bearbeiter selbst darauf, dass durch die Zerlegung der zusammengesetzten Betriebe in einzelne Spezialitäten in den statistischen Nachweisen eine Verschiebung zu Gunsten der Kleinbetriebe, zu Ungunsten der Großbetriebe eintritt. Dadurch allein verlieren die Betriebe mit über 100 Beschäftigten mehr als 160.000 Arbeiter. Jene kapitalistischen Organisationen aber, die sich nicht auf einen Ort beschränken, sondern durch Filialen, Neben- und Hilfsbetriebe über das Land und selbst über dessen Grenzen hinaus sich ausbreiten, können von der amtlichen Statistik überhaupt nicht erfasst werden. So erscheint die Deutsche Bank in über einem Dutzend selbständigen Unternehmungen, in viele selbständige Unternehmungen zerfallen auch die Kruppschen Werke etc. Im vollen Bewusstsein dieses wichtigen Mangels sucht die amtliche Statistik das ungeheure Zahlenbild wenigstens dadurch zu ergänzen, dass sie Einzelbeschreibungen typischer Kolossalbetriebe gibt. Für Bernstein existiert das alles nicht.
Ein großes Gewicht legt Bernstein auf den gegenwärtigen Stand der Klassengliederung. Was auch die Entwicklungstendenz sein mag, so beweise doch die große Zahl der Selbständigen, wie wenig reif für die soziale Revolution die Verhältnisse noch sind. Demgegenüber ist die Kritik interessant, welche die amtliche Statistik an diesen „Selbständigen“ übt.
„Zweifellos weist die große Schicht der Selbständigen in sich kaum weniger und sicher ebenso wichtige soziale Unterschiede auf, wie die große Zahl der Abhängigen; selbständig ist zwar der Parzellenbesitzer, der knapp soviel baut, als er für sich und seine Familie braucht, wie der Großgrundbesitzer, der Alleinmeister wie der Inhaber eines Tausende von Arbeitern beschäftigenden Fabriketablissements, der Krämer wie der Grossist, der Millionen vor Werten jährlich umsetzt. Aber die sozialen (Klassen-[C])Unterschiede sind hier keine geringeren wie die zwischen Selbständigen und Abhängigen.“
Speziell bezüglich der Selbständigen in der Industrie heißt es:
„Zu der über eine Million Alleinmeister stellen also die Selbständigen im Bekleidungs- und Reinigungsgewerbe und im Baugewerbe weit über die Hälfte; sie haben für ihren Betrieb Kapital in der Regel überhaupt nicht, oft nicht einmal eine Betriebsstätte nötig. Die allein arbeitenden Baugewerbenden, namentlich die zahlreichen Maurer und Zimmerer, sind großenteils tatsächlich Stück- und Zeitlohnarbeiter, die zur Ausführung untergeordneter Arbeiten bestellt werden und vielfach die Rolle von Selbständigen nur spielen, wenn es ihnen an Gelegenheit fehlt, für einen Meister zu arbeiten. Auch unter den alleinarbeitenden Selbständigen der Bekleidungs- und Reinigungsgewerbe greift die Arbeit im Hause der Kunden noch in sehr weitem Maße Platz und andererseits ist ein großer Teil von ihnen, namentlich Schneider und Schuster, obwohl sie sich noch nicht zur Hausindustrie zählen, tatsächlich zu Heimarbeitern (Sitzgesellen) oder ‚verlegten‘ Handwerker geworden. In ziemlich der gleichen Lage befinden sich die zur untersten Selbständigenschicht gehörenden 43.000 Selbständigen der Textilindustrie. Auch der Rest der alleinarbeitenden Selbständigen – etwa 300.000 – ist nur zum kleinen Teile eines nennenswerten Anlage- und Betriebskapitals bedürftig.“
Die meisten dieser Selbständigen sind es also nur – als „formalstatistischen Gründen“!
Schließlich versucht es die amtliche Statistik, ein zahlenmäßiges Bild der „sozialen Schichtung“ der Bevölkerung aufzustellen. Nachdem sie die Verhältnisse in der Landwirtschaft, in der Industrie und im Handel einer gesonderten Prüfung unterworfen und dabei schon am allerwenigsten durch sozialrevolutionäre Grundsätze, durch Voreingenommenheit eines orthodoxen Marxisten sich hat leiten lassen, gelangt sie zu folgendem Resultat:
Soziale Schichtung der Reichsbevölkerung: [D]
|
Überhaupt |
In der Industrie |
Vermögende Klasse der Selbständigen |
0,74 % |
0,83 % |
Mittelklasse der Selbständigen |
31,32 % |
14,58 % |
Unbemittelte Klasse der Selbständigen |
14,63 % |
16,04 % |
Schicht der Abhängigen (Lohnarbeiter) |
53,31 % |
68,55 % |
Hier haben wir also den amtlichen statistischen Nachweis, dass die den Staat beherrschenden Kapitalistenklasse noch nicht einmal 1 Prozent der Bevölkerung ausmacht, dass die Lohnarbeiterklasse allein die Majorität des Volkes umfasst, zusammen mit der unbemittelten Klasse der Selbständigen aber, die nicht nur durch ihre Armut, sondern vielfach durch ihre ganze wirtschaftliche Stellung mit der Lohnarbeiterklasse zusammenhängt und nur aus formalstatistischen Gründen von ihr getrennt erscheint, mehr als Zweidrittel, dass besonders in der Industrie das Proletariat mehr als Zweidrittel der Bevölkerung bildet und mit der unbemittelten Klasse der Selbständigen über Vierfünftel, fast 85 Prozent!
Als Bernstein zuerst seine statistischen Aufstellungen in der Neuen Zeit machte, lag eine amtliche zusammenfassende Bearbeitung der Berufs- und Gewerbestatistik von 1895 noch nicht vor. Ich habe ihm aber schon damals in der Sächsischen Arbeiter-Zeitung alle die soeben erwähnten, später von der amtlichen Statistik hervorgehobenen Momente vorgehalten. Er wagte nicht einmal den Versuch einer Widerlegung der von mir an seinen Tatsachen geübten Kritik. Er fühle sich von mir persönlich gekränkt, erklärte er, und werde mir deshalb nicht antworten. Offenbar fühlt er sich auch durch die amtliche Statistik persönlich gekränkt, denn er ignoriert sie konsequent in seinen „Voraussetzungen“ wie überhaupt in Allem, was er seitdem veröffentlicht hat.
Es sind nicht die Tatsachen, welche Bernstein zur Änderung seiner Ansichten veranlasst haben, sondern die Änderung seines Gesichtspunktes lässt ihm die Tatsachen anders erscheinen. Darum kann man sich mit ihm gar nicht mehr verständigen. Da mögen die Tatsachen noch so drastisch sein, mag die Statistik eine noch so klare Sprache sprechen, er liest es immer anders oder er merkt es überhaupt nicht. Er ließ die amtlichen deutschen Publikationen ebenso verständnislos an seinem Auge vorbeigehen, wie er verständnislos den gewaltigen sozialen Umänderungen, der raschen Zuspitzung der Klassengegensätze, dem Wachstum der Städte, der Konzentration des Kapitals zusah, die selbst während dieser wenigen Jahre der Bernsteindiskussion vor sich gingen, wie er verständnislos der gegenwärtigen Handelskrisis gegenübersteht. Er weiß nicht, dass die Zahlen von 1895, auf die er sich stützte, abgesehen von seiner unzulänglichen Art der Ausnutzung, bereits 1899, als seine Voraussetzungen erschienen, durch und durch veraltet waren und jetzt hinter der Wirklichkeit nicht viel weniger zurückstehen als die Gewerbezählung von 1882 hinter der von 1895. Die statistischen Zahlen und noch mehr der große industrielle Aufschwung der letzten Jahre haben selbst die bürgerliche politische Ökonomie und die bürgerlichen Sozialreformer zum Verstummen oder auf andere Gedankengänge gebracht. Vergessen ist der Mittelstand, vergessen selbst der Bauer, Alles liebäugelt mit dem Fabrikproletariat, dieser zahlenreichsten und sich rasch mehrenden Gesellschaftsklasse. Nur für Bernstein ging das alles spurlos vorbei. Er wiederholt sein Sprüchlein von der langsamen Änderung der sozialen Gliederung, von der Unreife des Proletariats etc. etc.
Die Gesinnungsänderung Bernsteins ist ein interessantes Problem der persönlichen Psychologie. Zu seiner Lösung fehlen jedoch sehr wichtige Unterlagen. Es fehlt die Korrespondenz welche Bernstein während der Jahre seiner Redaktionstätigkeit am Sozialdemokrat mit Friedrich Engels geführt hat. Auch aus den paar Briefen, die Bernstein selbst – bruchstückweise und unter vielen Streichungen – veröffentlicht hat, ist klar zu ersehen, dass Bernstein in allen wichtigeren Angelegenheiten sich gern in London Rat holte und dass Engels ihm, wie anders bei dessen peinlicher wissenschaftlicher Gewissenhaftigkeit gar nicht zu erwarten war, zur Antwort ganze geschichtliche, philosophische, parteipolitische Abhandlungen schrieb. Es war eine äußerst rege Korrespondenz, die Zahl der Briefe muss sehr groß sein. Wir alle wissen, wie meisterhaft es Engels verstanden hat, mit eine paar Strichen eine Situation, eine ganze Entwicklung zu kennzeichnen. Wir alle wissen, welchen fast unerschöpflichen Reichtum an Anregungen seine kleinen Schriften enthalten, – da kann man sich schon denken, welches Wissen und welche Gedankenfülle in jenen Briefen enthalten sein müssen, durch die der Altmeister des Sozialismus den jungen Redakteur des Sozialdemokrat instruierte. Erst wenn jene Briefe in chronologischer Ordnung, ohne Auslassungen, ohne Streichungen, veröffentlicht sein werden, wird man beurteilen können, was im Sozialdemokrat von Bernstein war und was bloß durch Bernstein in den Sozialdemokrat kam, überhaupt inwiefern er einer originell durchdachten Überzeugung, einer selbstgewonnenen Erkenntnis der Verhältnisse oder der fertigen Direktive eines geistig und wissenschaftlich überlegenen Mannes folgte.
Soweit er sich im Rahmen der übernommenen Doktrin hielt, lieferte Bernstein Arbeiten, die sich durch eine bedeutende analytische Schärfe, aber auch durch eine gewisse Zerfahrenheit der Beweisführung, eine Vielheit der Gedankengänge, die statt sich zu ordnen, parallel verliefen, auszeichneten. Seine Zweifel und Schwankungen lassen sich von dem Anfang der neunziger Jahre an verfolgen. Seine Artikel ließen immer mehr unbefriedigt. Man las sie mit Interesse, aber wenn man zu Ende war, wusste man nicht, woran man eigentlich sei. Einige interessante Einfälle, einige Übertreibungen, einige Einschränkungen – doch wo da alles hinaus sollte, blieb unklar. Es gab keine Lösung. Es konnte so sein und so, und auch anders – das war alles. Dann schränkte er die Möglichkeiten ein, und es begannen sich vor ihm überall, in jeder Frage, jedem Problem, Hindernisse aufzutürmen. Seine parallelen Gedankengänge hatten erst, solange sein Gesichtspunkt feststand, einen vereinigenden Brennpunkt; je mehr sein Gesichtspunkt unsicher wurde, desto unabhängiger von einander wurden seine Schlussfolgerungen. Er bekam die Fähigkeit, die heterogensten Dinge zu vereinigen und die einfachsten zu spalten und aufzulösen. Er begann damit, dass er in jeder Sache tausend Möglichkeiten und keine Lösung sah, und er endigte damit, dass er in jeder Sache tausend Unmöglichkeiten und keinen Ausweg sieht.
Bernstein glaubt, durch seine sozialreformerischen Argumente über den wissenschaftlichen Sozialismus hinauszugehen, während er tatsächlich hinter ihm zurückbleibt. Das ist der springende Punkt. Er tischt uns als neue Argumentation Sachen auf, die von uns längst überwunden sind. Aber so sehr wir bereit sind, unsere Gedankengänge zu revidieren, nachzuprüfen, ob sie den Anforderungen der vorgeschrittenen Entwicklung entsprechen, die im Laufe der Zeit verwitterten Quadersteine, auf denen sich unsre Partei wissenschaftlich aufbaut, durch neue zu ersetzen, so können wir doch nicht immer und immer wieder uns bei Dingen aufhalten, die läst abgetan sind. Eine Revision unserer Parteigrundsätze ist nur noch möglich nach links, nicht nach rechts, auf dem vom wissenschaftlichen Sozialismus gewonnen Boden des sozialrevolutionären proletarischen Klassenkampfes, nicht auf dem von ihm verlassenen Boden der sozialreformerischen Utopisterei, im Sinne der Erweiterung der politischen Betätigung des Proletariats, nicht ihrer Einengung, der Verschärfung der sozialrevolutionären Energie, nicht ihrer Lähmung, eines kühneren Strebens und Wollens, nicht eines ängstlichen Zurückweichens.
Nur gedeckt durch die Autorität, die er als früherer Redakteur des Sozialdemokrat genoss und durch seine persönlichen Verbindungen mit der Partei, konnte Bernstein es wagen, seinen Revisionismus in der Partei zu propagieren, nur so konnte er sich jahrelang innerhalb der Partei halten. Jeder andere wäre ausgelacht worden, man würde ihn mit Auer darauf verwiesen haben, dass er „vom Wesen und den Aufgaben des Sozialismus keine Ahnung habe“. Wären die Voraussetzungen anonym erschienen und an Bernstein zur Rezension gekommen, so würde er sie möglicherweise aus Versehen selbst zu Grunde kritisiert haben. Tatsächlich hat er sie kritisiert, noch bevor er sie geschrieben hat. Er hat diese Gedanken einzeln mit der Waffe des wissenschaftlichen Sozialismus bekämpft und sie in ihrer Gesamtheit als seine ureigene Weiterführung des Sozialismus in die Welt gesetzt. Ihm selbst erschienen auch wirklich, nachdem er den leitenden Gesichtspunkt verloren hatte, die Dinge und die Argumente anders: wie ja auch die äußere Welt anders erscheint bei Kerzenlicht als bei Sonnenschein. Aber wie konnten sich die Anderen täuschen? Man sagte sich, es sei ganz unmöglich, dass „Ede“ nur das wiederhole, was er selbst wiederlegt habe, dass er nun selbst auf den sozialreformerischen Leim gehe, nachdem er jahrelang die Parteigrundsätze gewahrt habe, da müsse denn doch etwas anderes dahinter stecken, man müsse ihn nur richtig zu lesen verstehen, – und man war sehr ärgerlich wegen der „maßlosen Übertreibungen“ jener Respektlosen, denen der Name Bernstein nicht die kritische Wagschale beschwerte. Wenn die Freunde Bernsteins ihm einen schlechten Dienst erweisen haben, so geschah es durch die viel zu große Nachsicht, die sie an ihm geübt hatten, durch die rabulistische Auslegungskunst, durch die sie sich selbst und alle Welt zu überzeugen gesucht hatten, dass Bernstein es ganz anders meinte als er sagte.
Blickt man auf die vierjährige Bernsteindiskussion zurück, so findet man, dass viel weniger die Ansichten Bernsteins als seine Person in Schutz genommen wurden. Kein Einziger, der nicht in Bezug auf seine eigene Stellungnahme Bernstein gegenüber große Reserven gemacht hätte. Die Verteidigung Bernsteins bestand eigentlich in der Opposition gegen seine Opponenten. Diese suchte man vor der Öffentlichkeit zu diskreditieren, indem man ihnen Übertreibungen, Gehässigkeit etc. vorwarf. Man gab also de facto zu, dass, wenn die Kritiker in ihrer Auffassung Bernsteins Recht hätten, auch ihre Kritik richtig sei. Man appellierte schließlich an das Recht der freien Meinungsäußerung. Das wirkte bei den Massen um so mehr, als ihnen der ganze Streit, solange er sich im Geist der theoretischen Abstraktionen bewegte, fremd bleiben musste. Die Inkonsequenz Bernsteins, der es noch immer nicht wagte, die letzten praktischen Schlussfolgerungen aus seinen neuen theoretischen Voraussetzungen zu ziehen, und jedenfalls seine praktischen Vorschläge fast bis zur Unkenntlichkeit verklausulierte, tat ein Übriges. Die Partei duldete Bernstein, aber sie hat sich niemals auf seinen neuen Standpunkt zu stellen vermocht.
Allmählich trat doch eine theoretische Klärung ein. Und zu gleicher Zeit begann die Angelegenheit auf eine Art, die zwar sich logisch aus dem Bernsteinschen Revisionismus ergibt, aber gerade deshalb von Bernstein und seinen Freunden am wenigsten vorausgesehen wurde, eine eminent praktische Gestalt zu gewinnen. Man konnte wohl sich selbst eine Zeit lang dadurch täuschen, dass man den Bernsteinschen Revisionismus für eine neue Abart des Sozialismus erklärte, nicht aber die bürgerlichen Sozialreformer, die in ihm Bein von ihrem Bein und Fleisch von ihrem Fleisch erkennen mussten. Man muss anerkennen, dass die Sozialreformer in ihrem Verhältnis zu Bernstein sehr viel Takt bewiesen haben. Sie wurden diesmal von einem richtigen Klasseninstinkt geleitet. Zunächst drängten sie sich nicht auf. Sie hielten mit ihrem Jubel zurück, dass ihnen nachträglich von ihrem Kritiker auf so eklatante Weise Genugtuung geworden war. Sie begriffen wohl, dass sie dadurch Bernstein in den Augen der Partei kompromittieren und dem ganzen Rummel ein sehr rasches Ende bereiten würden. Also sie ließen Bernstein machen und sammelten sich im Hintergrund. Aber sie bildeten den Chorus seiner Heldentaten. Sie schmeichelten ihm in die Augen, priesen ihn als den Mann der Wissenschaft, den kühnen Überwinder des Revolutionismus, den Verkünder neuer Wege. Erst musste der Bernsteinianismus mit allen Mitteln innerhalb der Sozialdemokratie populär gemacht werden. Als die Sozialreformer nun dieses Ziel erreicht zu haben glaubten, da begannen sie, ihre Schuldscheine einzufordern. Sie erheben Anspruch auf diesen Mann, der ihr geistiges Eigentum politisch verwertet. Erst halfen sie Bernstein, die Bahn frei zu machen, jetzt ziehen sie hinter ihm her. Was Bernstein recht ist, muss es auch ihnen sein, sie sagen dasselbe, nur sagen sie es mit viel mehr Klarheit und Sicherheit, sie wagen es, da sie niemals auf einem anderen als dem sozialreformerischen Standpunkt standen, ihre Gedanken voll auszudenken. Die Konsequenzen, vor denen Bernstein scheu zurückhält, zieht Herr Nossig mit spielender Leichtigkeit. Und so sah plötzlich die Partei, wie hinter Bernstein ein Schwarm bürgerlicher Projektemacher, selbstherrlicher Weltverbesserer und sonstiger Schwadroneure zu ihr heranzog und die Sozialdemokratie in neue Bahnen zu lenken sich anschickte. Zugleich ist in der bürgerlichen Presse der Bernsteinsche Revisionismus zum stehenden Kapitel geworden. Die stark verbreitete Annoncenpresse bringt die Kundschaft von der Pazifizierung der Sozialdemokratie, davon, dass sie mit sich ebenso verhandeln lasse, wie alle anderen Parteien, dass es ihr um die soziale Revolution nicht mehr ernst sei etc., unter die Arbeitermassen. In der Agitation stößt man jeden Augenblick darauf. Und so drängt sich unerbittlich die Notwendigkeit auf, der Konfusion ein Ende zu machen, eine klare Sachlage zu schaffen.
Aber vergebens wird bald „gefordert“, bald „erwartet“, dass Bernstein zu der bürgerlichen Ausnützung seines Revisionismus entschiedene Stellung nehme, dass er wenigstens das Gefolge literarischer und politischer Abenteurer, das ihn auf Schritt und Tritt begleitet, ihn öffentlich verherrlicht und in seinem Namen spricht, von sich zurückweist, dass er zwischen sich und den Sozialreformern eine klare Grenze ziehe. Er kann es nicht: einem Sombart gegenüber fühlt er sich geistig verpflichtet, mit einem Nossig verbinden ihn bereits mehr geistige Bande als mit dem „orthodoxen Marxismus“. Andererseits hält Bernstein schon deshalb an der Sozialdemokratie fest, weil er außerhalb dieser jede politische Bedeutung verlieren würde. Seine Aufgabe ist die sozialreformerische Zersetzung der Sozialdemokratie. Tritt er aus dieser Rolle heraus, so wird er vom Bürgertum in die Rumpelkammer geworfen, denn dieses braucht ihnen nur, solange er sein Ansehen bei den Arbeitern ausnützen kann.
B. Übrigens verschiebt hier Bernstein die Tatsachen. Die Diskussion über seine Ansichten war bereits vor dem Erscheinen seiner Voraussetzungen in vollem Zuge und durch nichts mehr aufzuhalten. Von verschiedenen Seiten in der Partei wurde sehr energisch nach einer klaren Scheidung verlangt. Kautsky selbst, der an der Diskussion nicht teilnahm, wurde von mir öffentlich zur Stellungnahme aufgefordert. Es blieb ihm nichts übrig, als entweder gegen Bernstein aufzutreten oder sich mit Bernstein solidarisch zu erklären. Durch den Vorschlag einer zusammenfassenden Veröffentlichung wurde unter diesen Umständen Bernstein in Wirklichkeit die letzte Möglichkeit geboten, das Geschehene gut zu machen.
C. So auch im ursprünglichen Text.
D. Mit Ausnahme einerseits der bei den Staatseisenbahnen und den sonstigen staatlichen Verkehrsanstalten, sowie in der Forstwirtschaft Beschäftigten, andererseits der Beamten, liberalen Berufsarten und Rentner.
Zuletzt aktualisiert am 29. May 2024