Parvus

Der Opportunismus in der Praxis


2. Der Opportunismus und die Doktrin


Seitdem innerhalb der deutschen Sozialdemokratie sich ein Opportunismus regt, hat er nicht aufgehört, sich darüber zu beklagen, dass er missverstanden werde. Vollmars Eldoradoreden 1891 wurden missverstanden, seine Äußerungen zum Staatssozialismus 1892 wurden missverstanden, die Zustimmung der bayerischen Landtagsfraktion zum Budget wurde missverstanden, die Idee der bäuerlichen „Selbstwirtschafter“ des süddeutschen Agrarprogrammentwurfs wurde missverstanden, Schippels Stellung zum Militarismus auf dem Hamburger Parteitag wurde missverstanden, Heines Kompromisspolitik wurde missverstanden, schließlich Bernsteins Revisionismus wurde erst von meiner Wenigkeit missverstanden, dann folgerichtig von Jedem, der sich gegen ihn wandte, bis auf K. Kautsky, den nächsten Freund Bernsteins, der durch einen zwanzigjährigen Ideenverkehr mit ihm verbunden war! Die Fähigkeit, missverstanden werden zu können, ist die stärkste geistige Waffe des Opportunismus. Es gibt Politiker, die beim besten Willen es niemals zu einem Missverständnis bringen können, eher werden sie viel zu deutlich, ziehen im Einzelfall zu schroff die Konsequenzen und büßen durch einen eklatanten Widerspruch, in den sie unbesehen geraten. Ein Widerspruch, der einem kühnen und geraden Streben nach Wahrheit und Klarheit entspringt, ist doch wohl ehrender, als jene geistige Anpassungsfähigkeit, die stets zwei halbe Wahrheiten im Munde führt, die nicht zusammenpassen, weil sie verschiedenen Ganzen angehören; aber der Widerspruch sticht in die Augen, die Halbheit ist allgemeingefällig.

Das Missverstandenwerden liegt im Wesen des Opportunismus. Wird er doch zunächst von sich selbst am meisten missverstanden. Er bedarf der fremden Nachhilfe, um die Konsequenzen seines eigenen Tuns zu ziehen, einer längeren Entwicklung, um sich selbst zu erkennen. Bei seinem ersten Auftreten ist er nur eine Abstufung, eine Schattierung, ein Fettfleck; und so sehr er sich auswächst, wird er nie zu einem System, einer Doktrin oder auch nur einem Grundsatz, er bleibt formlos, gallertenartig. Darum ist ihm nichts so im Innersten der Seele zuwider als eine ausgeprägte Form – eine „Doktrin“, ein „Dogma“. Zugleich aber bereitet es ihm auch gar keine Schwierigkeiten, wenn er angegriffen wird, sich zum Dogma zu bekennen.

Darum war es auch noch stets unmöglich, den Opportunismus durch eine Resolution zu fassen. Als Bebel in Erfurt [1891] seine Resolution beantragte, war der Parteitag überzeugt, dass Vollmar nach seiner ganzen Stellungnahme gewisse Änderungen und Zusätze beantragen müsste – fiel ihm aber gar nicht ein, er stellte sich vielmehr ohne Weiteres auf den Boden der Resolution. Ja, er erklärte in seiner Schlussrede, er wolle überhaupt keine Änderung der Parteitaktik, er wolle die Taktik wie sie ist. So unterschreibt jetzt auch Bernstein alle Resolutionen. Und indem er einen erbosten Kampf gegen die gesamte wissenschaftliche und politische Tätigkeit von Marx und Engels führt, erklärt er, auf dem Boden der Ideen und der Tätigkeit dieser Männer zu stehen. Und obwohl zwischen ihm und der gesamten Politik wie geschichtlichen Tradition der Partei sich längst ein Abgrund gebildet hat, wiederholt er hartnäckig, die Partei stehe auf dem gleichen Boden mit ihm, freilich meistens ohne es zu merken, ohne sich dessen bewusst zu sein.

Es muss darauf verzichtet werden, den Opportunismus in eine Formel zu fassen. Er eignet sich dazu ebenso wenig wie der Flugsand zum Meißeln. Dem Kritiker bleibt nichts übrig, als ihn in seinem Ursprung, seiner Entwicklung und seiner Zerfahrenheit dazustellen.

Im Ursprung aller opportunistischen Verirrungen innerhalb der sozialistischen Arbeiterbewegung finde ich einen gemeinsamen Zug: die Unfähigkeit, die Gegenwartsarbeit der Partei mit ihrem sozialrevolutionären Ziel zu einem organischen Gebilde zu verbinden. In ihren Augen spaltet sich das: hie „Endziel“ – hie „Gegenwartsarbeit“. Sie kennen höchstens einen Parallelismus: die Agitation für die soziale Revolution und die Tätigkeit innerhalb des kapitalistischen Staats. Dass unsere Gegenwartsarbeit bei all ihrer Mannigfaltigkeit, all ihrem „positiven“, praktischen Charakter durch und durch sozialrevolutionär sein kann, und zwar in dem alten, wahren Sinne des Wortes, wonach die soziale Revolution erst mit der Diktatur des Proletariats beginnt, das können sie nicht fassen. Dagegen ist ihnen der reine Revolutionismus, der auf die Gegenwartsarbeit verzichtet, durchaus klar, ihn begreifen sie. So stellte Vollmar 1891 die sogenannten „Jungen“ als Muster der Konsequenz hin. Er charakterisierte ihren Standpunkt wie folgte:

„Die heutigen gesellschaftlichen und politischen Zustände sind keinerlei Verbesserung fähig ... Wir haben uns deshalb von jeder Anteilnahme an der praktischen Politik fernzuhalten, nur um zu protestieren und im Übrigen den Zeitpunkt abzuwarten, wo die Gewalt auf der Straße liegt, und wir dann das Ganze auf einen Schlag bekommen. Und dieser Zeitpunkt ist nahe; ja, es hängt nur von uns ab, ihn zu beschleunigen.“ Und er fügte hinzu: „Dieser Standpunkt ist ohne Zweifel ein klarer, ganzer.“

Dagegen erscheint ihm der Standpunkt von Bebel, Liebknecht und den anderen als die reinste Inkonsequenz. Er schreibt in den gleichen Artikeln der Münchener Post (Über Optimismus, reproduziert in der Broschüre Über die nächsten Aufgaben der deutschen Sozialdemokratie, Verlag M. Ernst):

„Unserer ganzen Auffassung von dem allmählichen Hineinwachsen in die neue Gesellschaft widerspricht es stracks, wenn ab und zu plötzlich wieder Erklärungen gegeben werden, welche die Arbeit für die unmittelbaren Ziele als so gut wie wertlos erscheinen lassen. ... Kürzlich ist in Berlin von einem hervorragenden Parteigenossen in einer wohlüberlegten Programmrede gesagt worden: ‚Der Staat der herrschenden Klassen wird sich niemals zu mehr als zu unbedeutenden Konzessionen herbeilassen.‘ Das könnte reicht wohl einer der ‚Jungen‘ zur Begründung seiner Forderung von der praktischen Politik und rein ‚prinzipieller‘ Agitation gesagt haben. In der Tat, wozu denn neun Zehntel unserer Tätigkeit auf eine Arbeit wenden, von der ‚niemals‘ mehr als ‚unbedeutende‘ Ergebnisse zu erwarten sind?“

Man sieht, was Vollmar nicht begreift, ist der sozialrevolutionäre Agitationswert der parlamentarischen Gegenwartsarbeit, der praktischen Politik, der dann erst recht verbleibt, wenn das Klasseninteresse oder auch nur der Klassenegoismus der Machthaber die gesetzgeberische Verwirklichung der aufgestellten Forderungen verhindert. Das war es gerade, worauf später die Erfurter Resolution das Hautgewicht legte, was freilich Vollmar nicht verhinderte, ihr zuzustimmen.

Wer den Kampf um die soziale Revolution mit der politischen respektive parlamentarischen Tagesarbeit nicht zu verbinden versteht, dem wird in der Praxis bald die Gegenwartsarbeit der sozialrevolutionären Agitation im Wege stehen, bald diese der Gegenwartsarbeit. Er wird als vor ein Entweder-Oder geführt. Reiner Revolutionarismus oder reiner Reformismus! Nun begreift man, warum in den opportunistischen Betrachtungen der Zeitpunkt der sozialen Revolution eine so gewichtige Rolle spielt. Ist die soziale Revolution nahe bevorstehend, dann sind sie ja vom heiklen Dilemma befreit, dann glauben sie, über sozialreformerische Möglichkeiten sich nicht erst den Kopf zerbrechen zu müssen, und ergeben sich einem Ultra-Revolutionarismus. So meinte Vollmar gegenüber Bebel, der in der nächsten Zeit große soziale Umwälzungen erwartete: „Vermöchte ich jenen Glauben zu teilen, so würde mich keine agitatorische Rücksicht dazu bewegen können, die politische Tagwerksarbeit weiter zu verrichten.“ Das wäre nun freilich gerade der rechte Weg, die nahe Revolution um einiges hinauszuschieben, doch das nebenbei. Ob das Proletariat in zehn oder zwanzig oder fünfzig Jahren die Macht erlangt, der kapitalistischen Ausbeutung ein Ende zu setzen, ist eine Frage von großer kultureller Bedeutung, aber die sozialrevolutionäre Politik ist nicht vom Datum der sozialen Revolution abhängig, sie ergibt sich aus der kapitalistischen Entwicklung, die, ob sie nun rascher oder langsamer fortschreitet, die Arbeiterklasse in einen unversöhnlichen sozialen Gegensatz zum Kapital bringt. Man hat sich gewundert, dass Vollmar, der erst viel eher bereit war, in seinem extremen Revolutionarismus über die Schnur zu hauen, so gemäßigt wurde. Wir wissen jetzt, dass gerade darin eine eigene Konsequenz liegt, die sich auch später an den „Jungen“ von 1891 bewährte, die sämtlich, sofern sie überhaupt der Politik verblieben sind, sich vollmarisch gehäutet haben. Es ist klar, wer nur deshalb revolutionär ist, weil er die Revolution für morgen erwartet, wird übermorgen Reformist, wenn die Revolution durch den Gang der Ereignisse bis Ende der Woche hinausgeschoben wird. Der Revolutionismus der „Jungen“ war eben mehr Wunsch als Überzeugung, es fehlte ihm die sichere Einsicht in die sozialrevolutionäre Entwicklung, er war innerlich ebenso hohl wie ihr jetziger Opportunismus. Marx und Engels aber haben ein halbes Jahrhundert für die soziale Revolution gekämpft, ohne auch nur einen Augenblick wankelmütig zu werden, im Gegenteil, mit steigender Zuversicht, denn sie hatten die geschichtliche Einsicht, die den Anderen fehlte; und auch August Bebel ist deshalb um nichts anders geworden, weil bis zum Jahre 1898 noch keine großen politischen Veränderungen stattfanden. Nicht um einen großen geschichtlichen Tag, sondern um große geschichtliche Ereignisse handelt es sich, deren Zeitpunkt in erster Linie nicht von unserer Voraussicht, sondern von der kapitalistischen Entwicklung abhängig ist.

Vollmar, der Bebel der Inkonsequenz zieh, weil dieser seinen Revolutionismus nicht bis zur totalen Aufgabe jeder „Tagwerksarbeit“ trieb, versäumte es jedoch, selbst die Konsequenz seines Standpunktes zu ziehen. Denn, wenn zwischen der sozialen Revolution und der „Tagwerksarbeit“ ein derartiger Gegensatz klafft, dann müsste man, um sich der Tagwerksarbeit ungestört widmen zu können, die Idee der sozialen Revolution aufgeben. Das tat aber Vollmar nicht, sondern er erklärte, er wolle bei der Tagwerksarbeit das Endziel „im Auge behalten“. Schon einen Schritt weiter ging Ed. Bernstein in seinem bekannten Ausspruch: „Das Endziel ist mir nichts, die Bewegung alles“. Aber das kennzeichnet gerade den Opportunismus, dass er den Widerspruch, in den er gerät, nicht zu lösen wagt. Wenn der Opportunist seine sozialreformerischen Konsequenzen zieht, hört er auf, zu existieren, dann wird er eben zum Sozialreformer, dann ist die Situation klar: mit dem reinen Reformismus würden wir ebenso schnell fertig, wie wir mit dem reinen Revolutionismus fertig geworden sind. Wie wir später sehen werden, läuft denn auch die Entwicklung des Opportunismus darauf hinaus, dass er vom Reformismus aufgesogen wird. Aber solange das Schlussergebnis nicht eingetreten, maskiert der Opportunismus seine eigene Entwicklung. So entstehen die Theorien vom allmählichen Hineinwachsen in den Sozialismus, vom unmerklichen Abwürgen des Kapitalismus etc., die alle darauf hinauslaufen, dass der sozialen Revolution die soziale Reform unterschoben wird. Sie glauben die Dinge zu ändern, wenn sie die Namen ändern. Da dies aber unmöglich, so geraten sie im Verlauf ihrer Entwicklung in einen immer schrofferen Gegensatz zu ihrem Ausgangspunkt, bespötteln den Revolutionismus, erklären erst den Sozialismus zu einer freien Wissenschaft, appellieren dann von der Wissenschaft zu der Relativität der menschlichen Erkenntnis, machen schließlich den Sozialismus zur Glaubenssache, zur Temperamentsfrage – und so, noch lange bevor der Kapitalismus sich in Sozialismus verwandelt hat, verwandeln sich unsere Sozialisten, denen einst nicht revolutionär genug sein konnte, in bürgerliche Sozialreformer. Nicht den Kapitalismus, sondern ihre eigene politische Vergangenheit würgen sie unmerklich ab.

Statt den Widerspruch zu lösen, in den er selbst steckt, überträgt ihn der Opportunist auf die gesamte Partei. Er glaubt, wenn wir ihn bekämpfen, so setzen wir das Zukunftsideal der sozialen Revolution der Gegenwartsarbeit entgegen. In solcher Fassung aber existiert für uns das Problem gar nicht einmal, denn uns stört die sozialrevolutionäre Agitation in der Gegenwartsarbeit nicht, sie fördert sie vielmehr. Um die Gegenwartsarbeit selbst, aus der die Reformisten die sozialrevolutionäre Agitation eliminieren, handelt es sich. Es handelt sich darum, ob unsere „Tagwerksarbeit“ ausschließlich auf unmittelbare parlamentarische und gewerkschaftliche Erfolge gerichtet werden soll, oder diese selbst uns als Mittel zu einer höheren Einheit, der sozialrevolutionären Organisation des Proletariats, dienen sollen. Nicht darum handelt es sich, ob wir wählen sollen, ob wir parlamentarische Erfolge erstreben sollen, ob wir bei alledem die Staatsmacht der Bourgeoisie überlassen, oder durch all das, geistig zusammengefasst in der sozialrevolutionären Agitation, das Proletariat zur Eroberung der politischen Macht führen sollen, um den Staat, die Eigentumsform und die Produktionsweise in ihren Grundlagen zu ändern. Indem die Opportunisten uns den Verzicht auf die Gegenwartsarbeit oder ihre Missachtung vorwerfen, kämpfen sie nicht gegen uns, sondern gegen einen konstruierten Gegner. So hat Vollmar dem sozialrevolutionären Standpunkt von Bebel, Liebknecht, Singer etc. die Revolutionsmacherei der „Jungen“ unterschoben. So richtet Ed. Bernstein seine Angriffe gegen einen Blanquismus, der der reinste Putschismus ist, wie er weder in Deutschland noch sonst wo existiert, und den er sich speziell zu polemischen Zwecken konstruiert hat. So bekämpft Jean Jaurès einen Intransigeantismus, wie er auch in Frankreich längst aus der Mode gekommen ist, und statt der praktischen Tätigkeit der Parteien Rechnung zu tragen, welche dem französischen Proletariat die sozialrevolutionäre Tagwerksarbeit gelehrt haben, zeiht er sie des Widerspruchs, weil sie Gegenwartsarbeit leisten, ohne ihre sozialrevolutionären Grundsätze aufzugeben, desselben Widerspruchs, den Vollmar 1891 bei Bebel und Liebknecht aufgedeckt zu haben glaubte.

Wer sich die Welt durch ein Prisma anschaut, braucht sich nicht zu wundern, wen sie ihm in Regenbogenfarben schimmert und schillert. Das ist das Schicksal des Opportunismus. Er trägt den Widersprich in sich und kämpft nur gegen sein eigenes, umgekehrtes Spiegelbild. Er bespiegelt sich im intransigenten Revolutionismus, wie dieser in ihm.


Zuletzt aktualisiert am 29. May 2024