MIA > Deutsch > Marxisten > Parvus > Eroberung der pol. Macht
Die Frage der sozialen Revolution ist in den Industriestaaten Europas zu einer rein politischen Frage geworden. Nicht als ob die Politik die Macht wäre, die alles schafft, vielmehr ist sie selbst nur das Ergebnis der wirtschaftlichen Verhältnisse; aber die Produktionsentwicklung hat bereits im industriellen Europa einen derartigen Stand erreicht und eine solche soziale Zersetzung geschaffen, dass es reif ist für die sozialistische Umwälzung – das kommt in den politischen Kämpfen zum Ausdruck, und das Endresultat dieser Kämpfe bildet den Anfang der neuen Entwicklung. Es ist bereits gezeigt worden [1], wie gewaltig in Deutschland die rein proletarische Armee angewachsen ist und wie sehr bereits die anderen Volksschichten sozialrevolutionär umgeformt worden sind, d. h. so, dass die soziale Revolution ihnen mehr Vorteile bietet, als das Festhalten am gegenwärtigen Zustand bzw. sie allein ihnen die Erlösung aus der fortgesetzten Verelendung gibt. Es wird auch von niemand bezweifelt, dass eine allgemeine Unzufriedenheit mit den gegenwärtigen Zuständen in allen Bevölkerungsschichten, ausgenommen die reichen Kapitalisten, herrscht und dass alle Versuche der bürgerlichen Parteien und Regierungen, die verschiedenen „Notstände“ zu beseitigen oder zu lindern, fehlgeschlagen sind und die Unzufriedenheit höchstens zeitweilig mildert, um dann mit noch gesteigerter Wucht ihre verzehrenden Flammen zu erheben. Es ist auch an anderer Stelle nachgewiesen worden, dass wir, will sagen: die sozialrevolutionäre Partei, wenn wir in den Besitz der Regierungsgewalt bzw. der Machtmittel des Staates gelangen, wohl im Stande sind, durch eine Anzahl tiefgreifender wirtschaftlicher Maßnahmen – unser sozialrevolutionäres Programm – die Not in allen Schichten der arbeitenden Bevölkerung zu beseitigen, wodurch aber zugleich die Kapitalistenklasse und mit ihr die Klassenherrschaft überhaupt beseitigt wird. Die Frage dreht sich also für uns um die Eroberung der politischen Macht durch die Sozialdemokratie. Wie erreichen wir dieses Ziel?
Das Mittel, welches sich von selbst ergibt, ist die Propaganda. Wir müssen die Überzeugung von der Notwendigkeit der sozialen Revolution verbreiten, und da die Tatsachen für uns sprechen, so scheint dies gar nicht schwierig zu sein. Allein in Wirklichkeit gestalten sich doch die Dinge erheblich anders.
Werfen wir einen kurzen Rückblick auf die sozialistische Propaganda, wie sie ja schon seit einem vollen Jahrhundert innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft getrieben wird.
Die großen Utopisten haben bekanntlich die Sache ganz naiv aufgefasst. Sie glaubten, es genüge, die Vorteile der sozialistischen Gesellschaftsordnung auseinanderzusetzen, um alle Welt von der Notwendigkeit der sozialen Revolution zu überzeugen. Von diesem Gesichtspunkte aus war es durchaus logisch, dass sie sich mit Vorliebe an diejenigen wandten, welche den meisten Einfluss in der heutigen Gesellschaft haben, weil sie, wenn sie überzeugt werden, allerdings das meiste zur Förderung jenes Planes der gesellschaftlichen Umgestaltung beitragen könnten. Sie wandten sich also vorzüglich an die Reichen, an die Kapitalisten. Allein, bald hat man die Erfahrung machen müssen, dass die wirtschaftliche Stellung einer Klasse vollständig ihre politischen und moralischen Ansichten beherrscht. Die Ausbeuterklasse, deren ganze soziale Macht auf der Klassenteilung beruht, war durch keine Gründe in der Welt für den Sozialismus zu gewinnen – sie verlachte und verspottete dessen Prediger und verschrie sie als Narren und Tollhäusler.
Eine logische Konsequenz davon musste sein, dass der Sozialismus sich jener Klasse zuwandte, welche das geringste Interesse an der Aufrechterhaltung der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung, und das meiste an ihrer Änderung hat – dem Proletariat. Das geschah um so rascher, als die aufkeimende Arbeiterbewegung gierig die Ideen der sozialistischen Kritik, soweit sie ihr zugänglich waren, in sich zog und durch ihre Kämpfe die Aufmerksamkeit der sozialistischen Politiker auf sich lenken musste. Bekanntlich fand die Verschmelzung des Sozialismus mit dem proletarischen Befreiungskampf ihre mustergültige Form 1847 im Kommunistischen Manifest.
Allein dadurch erfuhr der Charakter der sozialistischen Propaganda wesentliche Änderungen. Wenn man sich in Bezug auf die Bourgeoisie, welche im Besitz des Reichtums und der Staatsmacht ist, wohl der Illusion hingeben konnte, es genüge, sie von der Zweckmäßigkeit und Gerechtigkeit der sozialen Revolution zu überzeugen, um diese zu vollbringen, so war es bei dem Proletariat, das besitzlos ist und die Staatsmacht gegen sich hat, von vorn herein klar, dass selbst, wenn es zur sozialistischen Erkenntnis gelangt ist, es sich erst in den Besitz der Staatsmacht setzen muss, um die Gesellschaft nach seinen Wünschen zu ändern. So wurde der Sozialismus aus einer Lehre von der allgemeinen gesellschaftlichen Harmonie zu einer Lehre des Klassenkampfes. Während die Arbeiterbewegung sozialistisch wurde, wurde der Sozialismus revolutionär. Und indem er revolutionär wurde, wurde er materialistisch; da er im Klassenkampf die Triebfeder der sozialen Umwälzung fand, machte er zugleich die Entdeckung, dass die Produktionsverhältnisse, welche die gegenseitige wirtschaftliche Stellung der Klassen bedingen, dadurch zugleich die geschichtliche Entwicklung bedingen. An Stelle der Entwicklung von sozialistischen Zukunftsplänen trat nun als Hauptpunkt der sozialistischen Propaganda die Erweckung des Klassenbewusstseins des Proletariats und die Sozialisten wurden aus utopistischen Allerweltsbeglückern politische Führer der Arbeiterklasse in ihrem Kampf gegen das Kapital.
Der utopistische Sozialist verfügte über keine anderen Propagandamittel als die Belehrung. Es war ein „Unterricht im Sozialismus“, der geistig und moralisch besonders empfängliche Schüler erforderte und deshalb nur einzelne Proselyten warb, die dann zusammen eine besondere geistige Gemeinde bildeten, eine Sekte, innerlich so zusammengedrängt, dass der Gegensatz der Einzelcharaktere sie sprengen musste, und umso mehr abgeschlossen nach außen. Je mehr die sozialistische Propaganda sich den Arbeitermassen zuwandte, wurde nicht nur ihr Inhalt wie oben angedeutet geändert, sondern es musste auch nach anderen Propagandamitteln gegriffen werden außer der Belehrung. Schon weil die Arbeiter zahlreich sind, versagt die reine Belehrung, aber es kommt noch anderes hinzu.
Man spricht viel vom sozialrevolutionären Charakter des Proletariats. Aber vom sozialrevolutionären Charakter einer Klasse zur Verbreitung der sozialrevolutionären Erkenntnis in dieser Klasse ist noch ein weiter Zwischenraum. Die Arbeiter werden ausgebeutet und leiden Not. Sie sehen als Gegensatz den sich häufenden kapitalistischen Reichtum. Sie werden zu Tausenden zusammengedrängt in den Städten und Fabrikzentren. Aber instinktiver Klassenhass und örtliches Beisammensein führen höchstens zu gelegentlichen Ausbrüchen eines vereinigten Widerstandes, sie sind noch keine zielbewusste politische Betätigung. Das Klassenbewusstsein des Proletariats wird gekennzeichnet nicht dadurch, dass die Arbeiter wissen, dass sie ausgebeutet werden – das wussten auch die Leibeigenen und Sklaven, überhaupt stets alle Ausgebeuteten, nur die Ausbeuter wollen stets nicht merken, dass sie ausbeuten – dieses Klassenbewusstsein wird vielmehr dadurch gekennzeichnet, dass sich die Arbeiter als Macht fühlen. Dieses Bewusstsein der Kraft dem Proletariat beizubringen, und in ihm den Willen zu erwecken, diese Kraft zu betätigen, das ist die große und schwere Aufgabe der sozialrevolutionären Propaganda. Die Behauptung der kapitalistischen Parteien ist närrisch, dass wir Unzufriedenheit in die Massen hineinbringen. Hätten wir erst diese Arbeit zu leisten gehabt, so würden wir niemals fertig. Wir finden bereits die Unzufriedenheit vor, sie wogt uns entgegen aus der Not und dem Elend der Massen, und dennoch haben wir noch Gewaltiges zu überwinden, denn wir wollen aus Not und Elend eine politische Macht bilden, währenddem im ganzen Verlauf der menschlichen Geschichte sich die politische Macht nur an Reichtum und Überfluss heftete!
Bei diesem gewaltigen Unternehmen stehen uns allerdings noch andere Mittel zur Verfügung als die reine Belehrung, die allgemeine ideologische Erörterung. Vor allem tritt uns da der moderne Parlamentarismus entgegen, der im allgemeinen, gleichen Wahlrecht die Arbeiterklasse als politische Macht anerkennt. Der Staat tritt selbst an die Arbeiter heran und fordert sie auf, ein Urteil abzugeben über die Staatspolitik. Die Wahlergebnisse zeigen den Massen, dass sie einen Einfluss ausüben können. Sie lernen die Macht der großen Zahl kennen. Das allein weckt mehr ihr politisches Selbstbewusstsein als es alle Propaganda tun könnte.
Aber derselbe Parlamentarismus, welcher den Staat zwingt, sich an die Arbeiter zu wenden, veranlasst den Sozialismus, sich mit der Staatspolitik der Gegenwart zu beschäftigen. Es sind vor allem die Fragen der Besteuerung und des Militarismus, die sich herandrängen. Mit der Entwicklung der Arbeiterbewegung, die dem Staat Konzessionen abnötigt, kommt die Arbeiterschutz-Gesetzgebung hinzu. Zu gleicher Zeit erwächst immer mehr die Notwendigkeit, die Unterdrückungsmaßregelungen des Staates gegen die fortschreitende Arbeiterbewegung abzuwehren. Tausend andere Gegenstände von geringerer Bedeutung treten hinzu. Kurz, es zeigt sich, dass der Staat nichts unternehmen kann, dass es kein Gesetz, keine Verordnung gibt, die nicht in gewisser Beziehung auch das Interesse der Arbeiter zu erwecken vermöchten. Sie entwickelt sich eine höchst mannigfaltige und umfassende Tätigkeit. Die sozialistische Propaganda, die mit Zukunftsplänen beginnt, endet scheinbar in ihrem Gegenteil: darin, dass sie das Interesse der Arbeitermassen an die vielgestaltigen Tagesfragen der Staatspolitik der Gegenwart zu fesseln sucht.
Das ist aber nur ein scheinbarer Widerspruch. Denn die zahllosen Beziehungen, in welche das Proletariat durch den Parlamentarismus zur Staatspolitik tritt, sind ebenso viele Gelegenheiten, es in einen Gegensatz zu der kapitalistischen Staatspolitik und dadurch zu der kapitalistischen Gesellschaftsordnung zu bringen. Nicht auf agitatorische Verschmitztheit kommt es hier an, sondern einfach darauf, die Klassenstellung des Proletariats, welche diesen sozialrevolutionären Gegensatz bedingt, wahrzunehmen. So bekommt die sozialistische Propaganda – freilich längst nicht mehr in dem Sinne der Ausmalung einer sozialistischen Zukunftsgesellschaft, sondern im Sinne der Herbeiführung der sozialistischen Gesellschaft durch Beseitigung der kapitalistischen Gesellschaft – tausenderlei Anknüpfungspunkte in der kapitalistischen Politik selbst. Sie begleitet sie wie ihr Schattenwurf. Sie verfolgt sie auf die Fersen und wirft sich ihr Schritt für Schritt, an allen Orten und jeden Augenblick, aufs neue entgegen. Sie ist aber nicht mehr bloß das Wort, sie ist zugleich die Tat.
Aus der Propaganda wird die Agitation. Es handelt sich nicht nur darum, in den Massen bestimmte Gedanken zu bringen, sondern sie zu einer bestimmten Betätigung zu veranlassen. Sie sollen gegen dieses oder jenes Gesetz stimmen, Protest erheben, für bestimmte Maßregelungen eintreten, sie sollen Abgeordnete wählen etc. Das sind politische Handlungen. Wenn auch darunter der Himmel noch nicht zusammenstürzt, so wird doch durch diese Betätigung das politische Selbstbewusstsein, durch die erzielten Erfolge das Selbstvertrauen und durch alles zusammen das Machtbewusstsein der Arbeiterklasse gehoben.
Um aber parlamentarische Erfolge zu erzielen, genügt die Agitation allein nicht, es gehört dazu noch die Organisation. Das ist das letzte Wort der sozialrevolutionären Propaganda: schließlich gipfelt alles darin, die Massen zusammenzubringen. Hat man sie beisammen, so bilden sie eine Armee, mit der man politische Effekte erzielen kann.
Wir haben bisher bloß die politische Betätigung der Arbeiterklasse ins Auge gefasst. Die Frage der Organisation führt von selbst auf den Zusammenhang mit dem gewerkschaftlichen Kampf. Wir können uns darüber hier nicht verbreiten. Es genügt, darauf zu verweisen, dass der Lohnkampf und der Kampf für bessere Arbeitsbedingungen überhaupt die Arbeiter noch mehr in Gegensatz zum Kapital bringt als der Kampf um die Gesetzgebung, und dass beide innig zusammenhängen.
Der Sozialismus beginnt mit der moralischen Erziehung Einzelner in Sekten von Fanatikern, – er gelangt dazu, dass er die Massen, bei denen die moralischen Qualifikationen der Einzelnen außer Betracht kommen, zur politischen Partei organisiert. Es ist klar, dass, da sein Vorgehen ein so verschiedenes ist, man zur Bemessung seiner Erfolge beide Male einen verschiedenen Maßstab gebrauchen muss. Es wird aber noch immer an den Fortschritt der sozialrevolutionären Arbeiterbewegung der alte ideologische Maßstab der Verbreitung der theoretischen Erkenntnis des Sozialismus angelegt, der freilich nicht mehr ausreicht.
Fragt man uns nach den Fortschritten der sozialistischen Erkenntnis, so antworten wir: Seht euch in der Wissenschaft um, und ihr werdet einen völligen Bankrott der kapitalistischen und der kleinbürgerlichen Auffassung finden, ihr werdet sehen, dass die sozialistische Kritik wie Ätzwasser die politische Ökonomie zersetzt hat, und der geschichtliche Materialismus bereits alle Gebiete der sozialen Forschung erobert hat, indem er allein nur sich fähig zeigt, die Wissenschaft durch neue Forschungsergebnisse zu bereichern, währenddem die alten Geschichtsmethoden an ihrer eigenen Unfruchtbarkeit verdorren. Seht euch in der Literatur um, und ihr werdet finden, dass an Stelle der Verherrlichung des Bürgertums, eine alles zernagende Kritik längst ihre Zerstörungsarbeit vollendet hat, und alles, was dem Bürgertum heilig war, von seinem gesellschaftlichen Emporstreben an und bis auf seine Ideale der Ehe und der Familie, seine Ideen des Fortschritts, seine Gerechtigkeit, seine Lebensphilosophie zu Pulver zerrieben, mit beißendem Spott übergossen und in den Boden getreten sind, und diese Literatur sich aufzehrt und in der Sucht nach neuen Idealen, die die bürgerliche Gesellschaft nicht mehr geben kann: Pessimismus in der Philosophie und Dekadenz in der Dichtung und Kunst!
Fragt man uns aber nach die politischen Fortschritten der sozialrevolutionären Bewegung, so antworten wir: Seht die Arbeitermassen, welche die Sozialdemokratie organisiert hat. Wenn man uns nun fragt: Ist denn jeder einzelne dieser Millionen überzeugter Sozialist? so ist unsere Antwort: Damit die Sozialdemokratie in den Besitz der politischen Gewalt gelangt, ist es auch gar nicht notwendig, dass die Millionen organisierter Arbeiter überzeugte Sozialisten seien: das beweist doch gerade der Umstand, dass diese Millionen sozialdemokratisch wählen, trotzdem sie noch keine überzeugten Sozialisten sind. Hat aber erst die Sozialdemokratie die Machtmittel des Staates zu ihrer Verfügung, dann wird sie alle Arbeiter zu überzeugten Sozialisten machen, und zwar nicht durch abstrakte Vernunftgründe, sondern durch gesetzgeberische Maßnahmen, durch tief einschneidende wirtschaftliche Änderungen, welche sie in eine neue gesellschaftliche Stellung bringen, ihren Wohlstand haben und sie zu Herren des Landes machen werden – kurz, durch die soziale Revolution. Daran aber denken wir nicht, durch bloße Verbreitung theoretischer Erkenntnis die Arbeiter schon innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft sozialdemokratisch so weit ausbilden zu können, dass man jeden von ihnen sofort zum sozialistischen Minister machen könnte. Diejenigen, welche auf die Unmöglichkeit des Sozialismus daraus schließen, dass die Massen, die ihm jetzt folgen, noch keineswegs durchweg wissenschaftlich überzeugte Anhänger von ihm sind, mögen sich doch fragen, wie viele wissenschaftliche überzeugte Anhänger besitzt sie selbst jetzt? Wenn dem Sozialismus noch keine Million theoretisch überzeugter Anhänger zu Gebote stehen, so treten dem Kapitalismus Millionen entgegen, die nicht durch theoretische Erwägungen, sondern durch ihre materielle Lage, durch das praktische Leben zu seinen erbitterten Feinden geworden sind!
Dass auch die rein theoretische sozialistische Erkenntnis unter den Arbeitern Verbreitung findet, wollen wir durchaus nicht bestreiten. Aber sie umfasst, der Natur der Sache gemäß, nur eine relativ geringe Zahl, in Deutschland höchstens einige tausend Personen. Das sind die Befähigtsten, die für allgemeine Gedanken empfänglicher sind, die eine allgemeine politische Schulung durchgemacht haben und durch eigene Kraft sich sozialpolitische Kenntnisse erworben und sich zu einer wissenschaftlichen Erkenntnis durchgerungen haben, wie sie die Jünger der Bourgeoisie, trotz allem gelehrten Einpauken auf den Universitäten, ihr Lebtag nicht erwerben können. Welche gewaltige intellektuelle Macht in dieser „Arbeiter-Intelligenz“ steckt, wird man erst erfahren, wenn die soziale Revolution alle Ämter und Stellungen dem freien Wettbewerb eröffnen wird und nicht mehr Geburt und Titel und Gunst der Reichen, sondern die geistige Qualifikation und der Wille des Volkes über die Entsetzung der Amtsstellen zu entscheiden haben werden.
Der wissenschaftliche Sozialismus fasst die Gegenwart geschichtlich und materialistisch auf, – so muss man denn auch ihn selbst geschichtlich und materialistisch auffassen. Der Sozialismus ist nicht die Wirkung einer bestimmten Propaganda, sondern das Ergebnis von politischen Kämpfen, die in der sozialistischen Propaganda nur zum Ausdruck kommen. Was die ideologische Seite anbetrifft, so wollen wir sogar weiter gehen, als unsere Gegner, und erklären, dass es nicht nur nicht immer ein sozialistisches, sondern vielfach nicht einmal ein ausgesprochen politisches Interesse ist, welches uns die Wähler zuführt. Erstens wirken bereits Trägheitsmomente mit: die sozialdemokratischen Massen sind bereits so gewaltig, dass die einzelnen Arbeiter einfach gar nicht mehr bei Seite bleiben können, sondern von dem mächtigen Strom instinktiv mit hingerissen werden. Auch gibt es solche, für welche die Wahlen eine Art Sport sind. Man sehe doch z. B., wie in England die Wettrennen der gesamten Bevölkerung zur Leidenschaft geworden sind, bei der das Äußerste gewagt wird. Auch die Wahlen sind ein Wettrennen, mit dem Unterschied, dass hier jeder Zuschauer zugleich ein Teilnehmer ist, da er mit seinem Stimmzettel das Endergebnis beeinflusst. Sind das Zeichen der Schwäche? Wir glauben umgekehrt, das ist ein Zeichen der Stärke einer politischen Partei, wenn sie alle Leidenschaften und alle Impulse, welche die Massen beherrschen, für sich in Bewegung zu setzen vermag.
Es gibt wieder solche, die sagen: „Ihr habt die sozialrevolutionäre Armee, warum bleibt dann die soziale Revolution aus“, und sie dünken sich Wunder wie schlau. Als ob die soziale Revolution, wie eine Abgeordnetenwahl, nur ein Rechnungsergebnis wäre: eine kleine Majorität und die kapitalistische Gesellschaft hört auf und die sozialistische beginnt! Auch hier liegt die Wahrheit im Gegensatz: Noch ist die soziale Revolution noch nicht eingetreten und doch verfügen wir schon über eine sozialrevolutionäre Armee. Man sehe sich doch in der Geschichte um: Die wirtschaftlichen und politischen Umwälzungen sind stets plötzlich, von den meisten unerwartet, eingetreten, gar nicht oder nur in äußerst geringem Maße wurden sie im voraus organisiert. Für solche entscheidenden Wendungen der Geschichte ist es eben notwendig, dass sämtliche sozialen Verhältnisse, die wirtschaftlichen wie die politischen, sich zum Zusammenbruch zusammenfügen. Wir überlassen es der Polizei, die Revolution zu bekämpfen, welche „gemacht“ wird, wir selbst machen keine, – wenn aber die große Krisis der kapitalistischen Gesellschaftspolitik eintritt, der Handelskrisis gleich, welche die kapitalistische Industrie in Trümmern schlägt, dann wird das Proletariat Europas mit einer organisierten Armee von vielen Millionen n die Ereignisse eintreten. Diese Tatsache ist so evident, dass sie wie ein Alp auf den bürgerlichen Parteien und Regierungen lastet und sie nicht nur zu einem verzweifelten Widerstand gegen die Sozialdemokratie reizt, sondern in ihren gegenseitigen Kämpfen um ihre eigenen materiellen Interessen hemmt, weil sie das bestimmte Gefühl haben, dass, wenn einmal die Staatsgewalt ins Wanken kommt, sie in die Macht des organisierten Proletariats fällt und nicht mehr in ihrer kapitalistischen Form wiederhergestellt werden kann. Das aber ist, unter den Einschränkungen, die sich aus unserer materialistischen Auffassung ergeben, das Werk der sozialistischen Propaganda.
Nun wird zu untersuchen sein, unter welchen Bedingungen die soziale Revolution eintreten und wie sich der Kampf zwischen dem kapitalistischen Staat und dem organisierten Proletariat unter sozialistischer Führung, d. h. der Sozialdemokratie weiter gestalten wird.
1. Vergl. E. Bernsteins Umwälzung des Sozialismus.
Zuletzt aktualisiert am 29. May 2024