MIA > Deutsch > Marxisten > Parvus > Berbsteins Umwälzung d. Soz,
Die sozialrevolutionäre Regierung wird nicht zur Aufgabe haben, eine neue Gesellschaftsordnung zu dekretieren, sie wird vielmehr die kapitalistische Gesellschaftsordnung übernehmen, so wie sie ist, nur dass sie eben selbst an Stelle der kapitalistischen Regierung treten wird, und dass sie die 416.000 deutsche Kapitalisten, welche bereits längst nur lästige Anhängsel der Produktion geworden sind, je nach den Umständen, sei es durch Ankauf oder durch Expropriation, beiseite schieben wird. Das bedeutet nicht die Beseitigung des Privateigentums schlechtweg – es bedeutet nur, dass sämtliche Bergwerke, Fabriken, sämtlicher Grund und Boden und die Mietshäuser der Städte in gesellschaftliches Eigentum überführt werden. Auch in der Industrie ist zweierlei zu unterscheiden: die Leitung der einzelnen Betriebe und die Zusammenfassung der industriellen Produktion des Landes. Für die Leitung der Einzelbetriebe bei kollektivem Besitz hat nun bereits die kapitalistische Gesellschaft in den Direktoren, Aufsichtsräten, Arbeiterausschüssen etc. weit entwickelte Formen geschaffen. Ed. Bernstein und Dr. K. Schmidt sind davon sogar so sehr eingenommen, dass sie glauben wir wären bereits mit der Nasenspitze in die sozialistische Welt eingedrungen. Jedenfalls kann es dennoch zwischen uns in dieser Frage keine großen Meinungsverschiedenheiten geben. Wir begnügen uns nur nicht damit, wir gehen viel weiter. Erstens erscheint uns die „allgemeine Durchführung des Genossenschaftsprinzips“, sei es durch spezielle Gründung von Genossenschaften, durch Erweiterung des Gemeindeeigentums oder durch Aufsaugung der kapitalistische Eigentumsverhältnisse durch die Gewerkschaften und Arbeiterausschüsse eine Utopie, solange der Privatbesitz an den Produktionsmitteln und die politische Herrschaft des Kapitals besteht; zweitens ist uns eine Summe von Genossenschaften noch nicht die sozialistische Gesellschaft. Diese Bernsteinsche Vorstellungsweise ist die des theoretischen Anarchismus – dagegen vermisst hier der Sozialismus vor allem die Zentralleitung, die Zusammenfassung der Einzelbetriebe zur gesellschaftlichen Organisation der Produktion.
Für die Organisation dieser Zentralleitung finden wir auch bereits Vorbedingungen in der kapitalistischen Gesellschaft. Wir denken vor allem an die Staatseisenbahnen. Das Eisenbahnministerium ist nicht nur die oberste Betriebsleitung, es ist zugleich eine politische Institution, und zwar dieses sogar mehr als jenes, es ist ein Zwischenglied, der Vermittler zwischen der politischen Vertretung des Landes und der eigentlichen Betriebsverwaltung. Im Parlament kommt der Wille der Nation zum Ausdruck, hier werden die allgemeinen Interessen des Landes der Eisenbahnverwaltung gegenüber vertreten. Nicht nur die Wünsche des reisenden Publikums verschaffen sich hier Geltung, sondern man sucht einen gewissen Zusammenhang herzustellen zwischen dem Eisenbahnbetrieb und den anderen Produktionszweigen des Landes: wir meinen die Fragen der Gütertarife, der Wagenversorgung, der Errichtung von Stationen u.&nbso;a. m. Auch ist hier die Stelle, an der die Forderungen der Eisenbahnarbeiter ihre Vertretung finden, besonders da diese Arbeiterinteressen bei der jetzigen Organisation der deutschen Eisenbahnen sonst gar nicht zum gemeinschaftlichen Ausdruck kommen können. Wir haben also: die Betriebsleitungen der einzelnen Stationen, Werkstätten usw., ihre Zusammenfassung für die besonderen Eisenbahnlinien, die Zusammenfassung dieser für größere Gebietsteile und endlich die allgemeine Zentralisation im Eisenbahnministerium, das zugleich im innigen Konnex steht mit der politischen Vertretung des Landes. Das ist nun freilich ein blasses Schema. Die Staatseisenbahnen, wie sie jetzt sind, in Fleisch und Blut, tragen den Charakter der kapitalistischen Gesellschaft bzw. des kapitalistischen Staats in sich. Sie sind Musterbilder der kapitalistischen Ausbeutung, sie dienen fiskalischen Interessen. Andererseits ist das Parlament nicht der Ausdruck des Volkswillens, es wird selbst beherrscht von der Regierung, die ihrerseits im Dienste dieser oder jener Gruppe der herrschenden Klassen steht. Kurz, es wird auch durch die Staatseisenbahnen der Beweis erbracht, dass es mit der wirtschaftlichen Organisationsform noch nicht getan ist, dass vor allem auch bestimmte politische Vorbedingungen für die Durchführung der sozialistischen Produktionsformen notwendig sind. Allein uns kam es nur darauf an, nachzuweisen, dass auch die Formen der gesellschaftlichen Zentralisierung der Industrie nicht erst erfunden werden müssen, sondern die Ansätze dazu sich aus dem kapitalistischen Gewirr selbst herausschälen, wenn man eben die störenden und hindernden Elemente beseitigt.
Die sozialrevolutionäre Regierung, welche die politische Macht übernehmen wird, wird zunächst gar nicht anders können, als auch die allgemeine Leitung der Produktion zu übernehmen. Aber da die sozialistische Revolution zugleich zu einer demokratischen Umgestaltung der Gesellschaft führt, so wird sich erst aus der Wechselwirkung zwischen dieser Entwicklung und der Organisation der einzelnen Betriebe nach einem langen Weg der Streitigkeiten, Kompetenzkämpfe etc. mit der Zeit jene vollendete Form der gesellschaftlichen Organisation der Produktion herausbilden, welche man als Sozialismus zu bezeichnen haben wird.
Wir können nicht umhin, hier noch kurz die Frage des Geldes bzw. des Tauschsystems zu erwähnen. Welche Entwicklung der Tauschverkehr nach der sozialen Revolution durchmachen wird, ist ein wissenschaftliches Problem, über das bis jetzt nur phantastische Spekulationen existieren. Wir stehen nicht an zu erklären, dass wir die wissenschaftliche Lösung des Problems besitzen. Wir sind dazu durch das Studium des kapitalistischen Warenverkehrs und der kapitalistischen Preisbildung geführt worden. Wie dieser kapitalistische Tauschverkehr selbst nur das notwendige Ergebnis einer geschichtlichen Entwicklung ist, die sich bis in die ersten Anfänge der menschlichen Gesellschaft verfolgen lässt, so ist auch jener Tauschverkehr der sozialistischen Gesellschaft nur das notwendige Ergebnis der kapitalistischen Entwicklung, das wir ebenso genau nachweisen zu können glauben wie jedes andere Gesetz der politischen Ökonomie. Man wird es jedoch begreiflich finden, wenn wir darauf verzichten, diese komplizierten theoretische Darlegungen in unsere jetzige theoretische Auseinandersetzung hineinzuführen. Ist es doch dazu vor allem notwendig, endlich in die Gesetze der kapitalistischen Wert- und Preisbildung, wie sie von Karl Marx entwickelt worden sind, eine zusammenfassende und kritische Darstellung zu geben, währenddem die Geldtheorie bereits veraltet bzw. von der kapitalistischen Entwicklung überholt ist und einer vollständigen Umarbeitung bedarf. Das bedarf einer selbständigen wissenschaftlichen Darlegung. An dieser Stelle nur folgendes: Der Warenverkehr ist so sehr in alle Verhältnisse des wirtschaftlichen Lebens hineingedrungen, dass er durch ein künstlich erdachtes Tauschsystem nicht ersetzt werden kann. Die sozialrevolutionäre Regierung wird also auch hier zunächst scheinbar alles beim Alten lassen müssen. Es verbleiben die Warenpreise und es verbleiben die Lohnberechnungen. Aber in dem Maße, wie die gesellschaftliche Organisation der Produktion sich entwickelt, bekommen die Warenpreise und Lohnberechnungen einen ganz anderen Charakter. Der Name bleibt, aber der Inhalt wird anders. Die grundsätzliche Änderung, die sich sofort ergibt, ist diese: die Kapitalisten berechnen die Warenpreise so, dass sie zu den Produktionskosten (wobei selbstverständlich auch die Abnutzung der Maschinerie, Fabriken usw. in Rechnung gesetzt wird) den Profit auf das Kapital hinzurechnen. Dieser ist bei gleichem Profitsatz desto größer, je größer das im Geschäfte angelegte Kapital. Nachdem aber die kapitalistischen Mehrwertbezieher entfernt sind, muss auch diese Berechnung fortfallen. Auch die sozialistischen Betriebsleitungen werden Abschreibungen machen, um den Verbrauch der Produktionsmittel ersetzen zu können, aber wir werden nicht mehr außerdem noch ein kapitalistischen Privateigentum zu verzinsen haben. So wird sich ein Unterschied herausbilden zwischen den Produktionsbranchen, je nachdem sie im Verhältnis zur Arbeiterzahl mehr oder weniger Anlagekapital in Maschinen, Gebäuden usw. enthalten. Diejenigen, welche mehr Anlagekapital enthalten, werden vorteilhafter daran sein, weil die Summe des Profits, der ihnen nach Beseitigung der Kapitalistenklasse zufällt, größer sein wird. Würde man diesen expropriierten Profit einfach den Arbeitslöhnen zulegen, so würden die Löhne in diesen Produktionszweigen die höchsten sein. Es wird aber das Bestreben herrschen, die Löhne allgemein im Lande auszugleichen – wie etwa jetzt die Profitsätze – und das kann dann in keiner anderen Weise geschehen, indem man die Warenpreise in einem Fall erniedrigt, im anderen erhöht. Wir haben das nur angeführt, um den Lesern eine konkrete Vorstellung von der kommenden Entwicklung zu verschaffen. Wie nun auch das kapitalistische Wert- resp. Geldsystem verschiedene Entwicklungen durchgemacht und gesetzliche Regelungen erfahren hat, so wird es wohl auch bei der Entwicklung der sozialistischen Gesellschaftsform so sein. Wir leugnen also die Schwierigkeiten hier ebenso wenig wie in den anderen Fällen, aber auch hier finden wir den Beweis, dass die sozialistische Entwicklung erst dort beginnt, wo die kapitalistische Ausbeutung und die politische Herrschaft des Kapitals aufhören.
Fassen wir zusammen, was die soziale Revolution bietet:
Dies ist die soziale Revolution, wenn auch nur in flüchtigen Strichen gezeichnet. Wer zweifelt noch, dass sie ein mächtiger Hebel der sozialistischen Entwicklung sein muss? Wer spricht da von einer „kolossalen Niederlage“, welche das Proletariat erleiden wenn es die Regierungsgewalt erobert? wenn es derartige Machtmittel in Besitz bekommt, derartige materielle Interessen in Bewegung zu setzen vermag, um seine Pläne durchzuführen? Und da tritt man scheu davor zurück und will den Sozialismus in den Kapitalismus einschmuggeln! Wie närrisch, anzunehmen, die kapitalistische Regierung und das Privateigentum an den Produktionsmitteln, das seien die Vorbedingungen, um den Sozialismus einzuführen! Vielmehr stehen die Dinge so, dass, wenn wir einmal in den Besitz der politischen Macht gelangt sind und sie in sozialrevolutionärem Sinne ausgenutzt haben, eine Rückkehr zum kapitalistischen Regime nicht mehr möglich ist. Oder glaubt man, die Arbeiter werden sich die Ausbeutung, die lange Arbeitszeit, die hohen Mietzinse, die Bauern die Zinsenlast, [glaubt man,] dass das gesamte arbeitende Volk, das durch die soziale Revolution zur politischen Geltung kommt, zum Herrn wird in Staat und Gemeinde, die Vorteile der Produktion für sich ausbeutet, seinen Wohlstand steigen sieht, sich die alte Ausbeutung und Knecht wird aufhalsen lassen? O nein, eine Umkehr gibt es nicht nach der sozialen Revolution, wie es keine Umkehr gab, als die Leibeigenschaft abgeschafft wurde! Demagogen mögen das Volk zu ihren persönlichen Zwecken irreführen können, aber das bleibt sicher: nach der sozialen Revolution haben die Parteien keinen anderen Stützpunkt als die materiellen Interessen des Volkes.
Die wirtschaftlichen Vorbedingungen der sozialen Revolution sind vorhanden – um die politische Macht handelt es sich. Und wenn das Proletariat mittels der politischen Macht die Wege ebnen will für die Entwicklung der sozialistischen Gesellschaftsordnung, so befolgt es damit nur das Beispiel, welches die Kapitalistenkasse wiederholt gegeben hat. Man sehe sich nur um, was jetzt geschieht. Was anderes unternimmt jetzt das Kapital in China, als eine soziale Revolution? China ist ein Land, das durch seine wirtschaftliche und soziale Organisation vom Kapitalismus viel weiter entfernt ist als dieser vom Sozialismus. Wie stellt man es nun an, um es kapitalistisch zu revolutionieren? Man rückt mit Panzerschiffen und Militär heran, man bricht den politischen Widerstand mit den Waffen in der Hand, man unterjocht die Regierung, man setzt sich in den Häfen, den Eingangspforten des Landes, fest, man stellt die Finanzen unter kapitalistische Kontrolle, man bürdet dem Staat mit Gewalt eine Schuld auf, man zwingt ihn zu einer gewünschten Handelspolitik, man lässt ihn administrative Maßregel bestimmter Art ergreifen, man verpflanzt nach China das eigene Maß-, Gewichts- und Geldsystem, man dringt ins Land, trotz des Widerstandes der Bevölkerung, man erzieht die Bevölkerung zu einem europäischen Tauschverkehr, schließlich baut man Eisenbahnen, erschließt Bergwerke, errichtet Fabriken und nach einer Anzahl von Jahren ist die kapitalistische Produktionsform so tief eingewurzelt, dass eine Rückkehr zu der alten Ordnung nicht möglich ist. Ohne politische Machtmittel, ohne direkte politische Eroberung wäre diese ganze Entwicklung undenkbar. Die kapitalistischen Regierungen tun das alles und lassen sich ebenso wenig von Ed. Bernstein auf Grund der materialistischen Geschichtsauffassung wie von einem Hohepriester auf Grund der Tiereingeweide vorhersagen, ob es gelingen wird. Und siehe: Ed. Bernstein meldet sich selbst und erklärt, diese Kolonialpolitik, die in einer gewaltsamen Revolutionierung Chinas besteht, sei grundsätzlich der materialistischen Geschichtsauffassung entsprechend – wenn aber das Proletariat in einem parlamentarischen Staat sich anschickt, die politische Macht zu erobern, um mit ihrer Hilfe die sozialistische Umwälzung zu fördern, so sei das grundsätzlich der materialistischen Geschichtsauffassung widersprechend und führe nur zu einer „kolossalen Niederlage“!
Wir aber erklären: Gebt uns auf ein halbes Jahr die Regierungsgewalt, und die kapitalistische Gesellschaft gehört der Geschichte an.
Nun hat sich der kritische Leser wohl schon längst gesagt: „Ja, die politische Macht, wie erreichen wir diese? Das ist der Haken!“ Das soll uns im nächsten Artikel beschäftigen. [3]
3. vgl. die Artikelserie „Die Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat und die soziale Revolution“, die im Sommer 1898 in der Sozialistischen Rundschau, der neu geschaffenen Theorie-Beilage der SAZ erschien
Zuletzt aktualisiert am 29. May 2024