Parvus

E. Bernsteins Umwälzung des Sozialismus


IX. Soziale Revolution und Sozialismus
(Fortsetzung)


Nach einem jahrhundertelangen Kampfe hat sich das Proletariat in dem fortgeschrittensten kapitalistischen Lande der Welt, in England, kaum erst das Recht erkämpft, seine Interessen öffentlich wahrzunehmen. Wir verkennen die Bedeutung der zu Gunsten der Arbeiter im Laufe dieser Zeit erlassenen Gesetze durchaus nicht, aber wir konstatieren, dass noch bis in die 70er Jahre in England Gesetze bestanden, die Wahrnehmung der Arbeiterinteressen durch die Arbeiter selbst zu verhindern, und dass ein bedeutender Teil der englischen Arbeiter noch bis auf diesen Augenblick vom politischen Wahlrecht ausgeschlossen ist. Wenn nun die englische Kapitalistenklasse jetzt nicht mehr die englischen Arbeiter in der Art des deutschen Herrn v. Stumm behandelt, wenn sie mit dem organisierten Proletariat wie mit einer gleichberechtigten kriegführenden Macht verhandelt, so sind wir, da wir uns sehr wohl bewusst sind, dass das Proletariat der Nachkomme der seit Jahrhunderten geknechteten Gesellschaftsklasse ist, weit davon entfernt, die Bedeutung dieser Errungenschaft der kämpfenden Arbeiterklasse zu unterschätzen, aber deshalb verkennen wir nicht, dass durch die allgemeinen sozialen Bedingungen des proletarisch-kapitalistischen Klassenkampfes, sein Ausgangspunkt und Endpunkt noch ebenso wenig alteriert werde, wie etwa durch das moderne Völkerrecht die Kriegführung. Wer wird nicht die Beseitigung der nutzlosen Bestialitäten und Plünderungen, die Einrichtung des Samariterdienstes, des „roten Kreuzes“ usw. als kulturelle Errungenschaften preisen? Aber Krieg bleibt nichtsdestoweniger Massenmord und sein Ziel ist nach wie vor die vollständige Niederwerfung des Feindes, seine Entwaffnung, die Eroberung seiner Positionen, seiner Kampfesmittel, seines Landes. Und so sehen wir denn, dass trotz der kulturellen Errungenschaften der Krieg, weil die Kriegstechnik sich nicht minder entwickelte, noch viel blutiger, noch schrecklicher an seien Verwüstungen geworden ist. So stehen jetzt auch Kapital und Proletariat in geordneten Reihen und mit viel stärkeren Kampfmitteln als je zuvor einander gegenüber, und die Schlachten, die sie liefern, haben an Dimensionen, an Tragweite nicht verloren, sondern gewonnen. Das hat ja soeben wieder der englische Maschinenbauerstreik gezeigt. Über die gegenseitige Stellung der zwei großen kämpfenden Klassen ist überhaupt, in England wie anderswo, gar eine Täuschung möglich – was täuscht, sind die Mittelschichten in ihrer in England nunmehr, wie es scheint, dem Proletariat günstigen Stimmung. Es ist der neue Mittelstand, der im Gegensatz zu dem alten Mittelstand des wohlhabenden Handwerkertums, das als reale Masse auf Seiten des Kapitals stand, sehr rührig ist und die „öffentliche Meinung“ macht. Wir behalten uns vor, die sozialpolitische Bedeutung dieses Mittelstandes, der besonders denjenigen leicht irreführt, der gewöhnt ist, die Bourgeoisie als „eine reaktionäre Masse“ dem Proletariat gegenübertreten zu sehen, an anderer Stelle zu erörtern. Hier genügt folgendes: Die Macht dieses Mittelstandes ist die „öffentliche Meinung“ – eine ökonomische Macht ist es nicht, da seine wirtschaftliche Stellung nicht einmal ausreicht, um ihm selbst materielle Unabhängigkeit zu sichern und politisch kann er selbstständig, sofern er sich nicht auf ein privilegiertes Wahlrecht stützt, keine Macht bilden, da er dazu zu wenig zahlreich ist. Die sozialen Stützpunkte der kapitalistischen Klassenherrschaft lassen sich aber nicht durch die Windstöße der öffentlichen Meinung aus dem Boden reißen – dazu bedarf es einer politischen Macht, welche nur die Arbeiterklasse zu entwickeln vermag.

Wir haben die soziale Revolution die politische Vorbedingung des Sozialismus genannt. Weil aber der Sozialismus die notwendige Folge der sozialen Revolution ist, so wirft man oft beide Begriffe zusammen. Im gleichen Sinne wirft man auch den Kapitalismus mit der bürgerliche Revolution zusammen, indem man die kapitalistische Gesellschaftsordnung von dieser Revolution datieren lässt. Es weiß aber jetzt jedermann, dass der Kapitalismus mit der politischen Revolution nicht fertig aus den Eierschalen sprang, sondern eine Entwicklung durchzumachen hatte, die noch bis auf den heutigen Tag nicht abgeschlossen ist, ja erst durch seine Vernichtung abgeschlossen werden kann.

Es ist richtig, die Begriffe der sozialen Revolution und des Sozialismus auseinander zu halten. So ist z. B. die Frage, wie wir uns die soziale Revolution denken, durchaus berechtigt. Denn sie bedeutet nichts anderes als: wie denken wir die politische Macht zu erobern und was wollen wir mit ihr beginnen? Wir müssen darauf antworten können wenn wir als politische Partei ernst genommen werden wollen. Und wir geben auch darauf Antwort in unserem Programm. Anders die Frage: wie denkt Ihr Euch die sozialistische Gesellschaftsordnung? Das Beispiel der großen bürgerlichen Revolutionäre vom Ende des vorigen Jahrhunderts warnt uns hier vor Prophezeiungen, sind doch die Dinge ganz anders geworden, als sie erwartet haben. Nun sind ja wir jetzt dank der Entwicklung der allgemeinen kulturellen Verhältnisse nicht zum mindesten auch das geschichtlichen und politisch-ökonomischen Wissens in der Lage, in unserer Beurteilung der zukünftigen gesellschaftlichen Entwicklung uns auf festere wissenschaftliche Grundlagen zu stützen, aber wir brauchen diese Spekulation gar nicht. Was wir von der heutigen Gesellschaft wissen, genügt, um unser politisches vorgehen zu rechtfertigen.

Wir wissen, dass in der kapitalistischen Gesellschaft eine ungeheure Vergeudung von Arbeitskraft und Reichtum stattfindet, währenddem die Massen darben, dass dieses System der Ausbeutung seine Grundlage in dem Privateigentum an den Produktionsmitteln findet, das von der politischen Macht des Staates gestützt wird, und wir gehend darauf hinaus, diese politische Macht zu erobern, um die Produktionsmittel in gesellschaftliches Eigentum zu überführen und den Staat zu demokratisieren – was weiter werden wird, überlassen wir der Zeit bzw. der geschichtlichen Entwicklung. Die Vermengung dieser beiden Punkte ist zum Teil Schuld an der Verirrung Bernsteins: nur so kommt er dazu, die Möglichkeit der sozialen Revolution zu bestreiten, weil eine Gesellschaftsordnung sich nicht aus dem Boden stampfen lässt. Im Gegenteil, gerade die Schwierigkeiten, welche die Entwicklung der sozialistischen Gesellschaftsordnung zu überwinden, die Kämpfe durch die sie sich durchzuringen haben wird, fordern am meisten, dass wir vor allem mit den politischen bzw. rechtlichen Hindernissen aufräumen, die ihr im Wege stehen. Da aber Bernstein diese gesetzmäßige Entwicklung nach der Revolution nicht sieht, sucht er sie vor der Revolution, und weil er hier den Kapitalismus vorfindet, so bleibt ihm nichts übrig, als die sozialistische Entwicklung in die kapitalistische hineinzuschalten, d. h. er macht die Entdeckung, dass wir, die wir uns im Kapitalismus befinden, eigentlich mitten im Sozialismus stecken – desgleichen war wohl seiner Zeit der Kapitalismus im Feudalismus eingeschachtelt, und verfolgt man die Entwicklung weiter, so gelangt man dazu, dass der primitive Kommunismus in nichts stak, d. h. gar keine Entwicklung hatte?

August Bebel äußerte sich einmal auf einem Parteitage über den Unterschied zwischen der bürgerlichen und der sozialen Revolution ungefähr in dem Sinne, dass das Bürgertum die politische Macht zu erobern hatte, nachdem es bereits eine ökonomische Macht war, währenddem das Proletariat die politische Macht erobern, um die ökonomischen Verhältnisse zu ändern. Mit der ihm eigenen Schärfe des politischen Denkens hat hier Bebel den grundlegenden Unterschied beider Revolutionen aufgedeckt, wenn er ihn auch in eine sehr schroffe Form gekleidet hat, welche die Äußerung anfechtbar macht. Um die ökonomische Macht der Kapitalistenklasse war es in Wirklichkeit bei der großen französischen Revolution wie auch bei den späteren europäischen Revolutionen recht eigen bestellt. Die Masse der Bevölkerung war ja das Bauerntum, das in feudalen Banden steckte. Der Landbevölkerung gegenüber war die städtische gar sehr winzig an Zahl. Die adeligen und geistlichen Grundherren repräsentierten einen größeren Reichtum, eine größere ökonomische Macht als die reiche städtische Bourgeoisie, die aus den paar Finanziers, Steuerpächtern Großkaufleuten und Manufakturisten bestand und unter sich, wie ebenfalls Kautsky in seiner schon erwähnten Schrift mit Recht hervorhebt, gespalten war. Nach Ed. Bernstein vom Jahre 1789 wäre also jene Revolution eigentlich ein närrisches Ding! Anderseits werden auch bereits innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft gewisse produktive Vorbedingungen der Herrschaft des Proletariats entwickelt. Eduard Bernstein und Dr. K. Schmidt erblicken bereits darin, wie schon erwähnt, einen Sozialisierungsprozess der Gesellschaft. Allein die Konzentration der Arbeiter in Fabriken und ihr Zusammenschluss in Gewerkschaften macht sie noch ebenso wenig, so lange das Privateigentum an den Produktionsmitten besteht zu Gesellschaftsteilnehmern der Herren Fabrikanten wie der Zusammenschluss der Kapitalisten zu Kartellen die Arbeiter von der Ausbeutung befreit. So führte dann auch die Konzentration der industriellen Arbeiterbevölkerung in den Städten zur Entwicklung einer reichen Kapitalistenklasse der Hausbesitzer. Nur in den Konsumvereinen in ihrer modernen Verbindung mit den Produktivgenossenschaften schaffen die Arbeiter eine neue ökonomische Gestaltung, die in Konkurrenz tritt mit den kapitalistischen Betrieben. Auch die Stellung dieser Institutionen im Klassenkampfe soll in einen anderen Zusammenhange erörtert werden. Nun sind aber auch die zuerst genannten Erscheinungen: die Konzentration der Betriebe und die Konzentration der Bevölkerung, die Organisation der Produktion durch kapitalistische Vereinigungen zweifellos produktive oder wenn man will wirtschaftliche Vorbedingungen der Sozialisierung der Gesellschaft – nur bedarf es der Änderung der Eigentumsform, damit sich auf diesen Vorbedingungen die neue Gesellschaftsform entwickle, und darin gründet der von Bebel aufgedeckte Unterschied. Der Kaufmann, Manufakturist, Geldverleiher des 18. Jahrhunderts bedurften keiner Änderung der Eigentumsformen, sondern höchstens einer Sicherung ihres Privateigentums – der Sturz des Feudaladels gab ihnen die Möglichkeit, als Privateigentümer, die sie bereits waren, sich weiter zu entwickeln, sich zu bereichern und eine neue Gesellschaftsordnung zu entwickeln. Bei dem Klassenkampf des Proletariats handelt es sich aber vor allem um einen Besitzwechsel bzw. um eine Änderung der Eigentumsform. Als Privateigentümer können die Arbeiter nie die herrschende ökonomische Macht werden – deshalb ist die unersetzliche Bedingung ihrer Befreiung, dass die Produktionsmittel dem Privateigentum entzogen werden. Das Proletariat muss also, um erst als ökonomische Macht sich entfalten zu können, mittels der politischen Macht der ökonomisch herrschenden Klasse das Eigentumsrecht an den wirtschaftlichen Bedingungen ihrer Macht, den abermals und abermals genannten Produktionsmitteln, entreißen. Aber indem das Proletariat das tut, vollzieht es auch bereits eine grundlegende Änderung der wirtschaftlichen und politischen Organisation der Gesellschaft. Darüber im nächsten Artikel.


Zuletzt aktualisiert am 29. May 2024