Parvus

E. Bernsteins Umwälzung des Sozialismus


VIII. Die Bedingungen der sozialen Revolution
[Soziale Revolution und Sozialismus]


Es sind nach genauer Rechnung kaum 2 Prozent der Erwerbstätigen, welche die gesamte Bevölkerung des Deutschen Reichs wirtschaftlich und politisch beherrschen. 15.000.000 Lohnarbeiter werden von den 400.000 Kapitalisten direkt ausgebeutet und die noch verbliebenen paar Millionen Kleinbauern, kleinen Kaufleute und Kleingewerbetreibenden sind von ihnen total ruiniert, fast an den Bettelstab gebracht. Und um dieses Werk der Ausbeutung, der Unterdrückung und der Zerstörung zu vollziehen, bedient sich die Kapitalistenklasse eines Mietsheeres von kaum einer Million. Angesichts dieser Zahlen wird man kaum die Frage aufwerfen, ob die wirtschaftlichen Verhältnisse bereits für die soziale Revolution reif seien, sondern man wird vielmehr fragen: wie kommt es, dass diese so durch Klassengegensätze durchwühlte Gesellschaft noch immer aufrecht erhalten wird? Die Frage ist denn auch öfters gestellt worden. Man verweist besonders darauf, dass Marx und Engels die soziale Revolution längst vorausgesagt haben, und ruft uns zu: seht, das ist doch nicht eingetroffen!

Bald widerlegt man uns damit, dass die Verhältnisse noch unreif seien für die soziale Revolution, bald macht man uns einen Vorwurf daraus, dass die soziale Revolution noch nicht eingetreten ist.

Nun lässt sich nicht bestreiten – und wir sind stolz darauf – dass Marx und Engels bereits vor genau einem halben Jahrhundert den Ruf haben ertönen lassen: „Proletarier aller Länder, vereinigt euch“, womit sie nicht die Gründung eines Konsumvereins bezweckten, sondern die Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat und die Vergesellschaftung der Produktion, dass sie dann der 48er-Bewegung einen sozialrevolutionären Charakter zu verleihen bestrebt waren, dass sie in der Internationale eine Macht haben herausarbeiten wollen, um die soziale Revolution Europas zu vollbringen, und sie in diesem Sinne auch die Pariser Kommune begrüßt haben, dass sie ihren Einfluss auf die deutsche Sozialdemokratie und auf sämtliche sozialistische Arbeiterparteien Europas stets klar entschieden mit aller Energie nach dieser Richtung hin geäußert haben, bis auf ihren letzten Atemzug.

Es sind jetzt kaum zwei Jahre vergangen, seitdem Friedrich Engels tot ist, und so lange er lebte, hat niemand die soziale Einrichtung so genau und umfassend verfolgt und zu deuten verstanden als er, und die statistischen Jahrbüchlein, aus denen jetzt Ed. Bernstein und Dr. Konrad Schmidt, der sich soeben als sein Nachtreter im Vorwärts meldet, ihre Beweise schöpfen, waren auch ihm bekannt. Die ganze Entwicklung der sozialen Statistik, die Marx und Engels seit ihrem ersten Auftreten verfolgten, die Enttäuschungen der politischen Revolutionen, das jahrelange Wüten der europäischen Reaktion, die Zerstörung der Internationale, der Fall der Kommune, die Zerstörungen des deutschen Sozialistengesetzes, nichts vermochte, Marx und Engels von ihren sozialrevolutionären Ansichten abzubringen, alles befestigte sie vielmehr in ihrem Streben und gab ihnen Mut zu neuen Kämpfen. Diese aber, die man als die Schüler von Marx und Engels betrachtete, geraten in Verwirrung und verzweifeln, weil ihnen auf einen Augenblick etwas auffällt, was sie nicht gleich zu deuten vermögen. Nunmehr tut man so, als ob Marx und Engels in der Welt nichts als Fabrikarbeiter und Kapitalisten gesehen hätten und nichts von der Existenz der Bauern und Handwerker gewusst hätten. Das wussten sie ganz genau, ja, niemand hat diese Gesellschaftsschichten wirtschaftlich und politisch besser charakterisiert als Marx und Engels, und nichtsdestoweniger glaubten sie, selbst zu jener Zeit, als das Bauerntum und Handwerkertum noch eine ganz andere Macht waren als heutzutage,, sozialrevolutionäre Maßregeln ergreifen zu können.

Dass von einer vollständigen Etablierung des Sozialismus in den 40er Jahren nicht die Rede sein konnte, wird nicht bestritten. Aber darum war es auch gar nicht zu tun. Ein großer Teil der Forderungen, welche das Kommunistische Manifest schematisch für die „fortgeschrittenen Länder“ aufstellt, war in Deutschland wohl durchführbar, und wenn dieses Programm verwirklicht wäre, so würde das der sozialen Entwicklung Deutschlands zweifellos einen starken Anstoß im Sinne der Verwirklichung des Sozialismus gegeben haben. Nehmen wir z. B. die Forderung der „Zentralisation des Transportwesens in den Händen des Staats“. Sie ist ein Menschenalter später in der Eisenbahnverstaatlichung durch Bismarck verwirklicht worden. Woher kommt es nun, dass die Verhältnisse für die Eisenbahnverstaatlichung, die so lange „unreif“ blieben, plötzlich reif wurden, als Bismarck dafür eintrat? Der Grund liegt darin, das Bismarck die politische Macht besaß, um den Gedanken zu verwirklichen. Wäre die deutsche Revolution nicht durch das Bürgertum verraten und käme die sozialistische Linke ans Ruder, so wäre die Eisenbahnverstaatlichung schon 1848 festgelegt. Und gibt es nun keinen Unterschied zwischen der Eisenbahnpolitik, wie sie Marx plante und wie sie Bismarck durchführte? Die preußische Eisenbahnverstaatlichung trat ein, nachdem die Eisenbahnen fast planlos durch eine Menschenalter sich entwickelten und den Kapitalisten zur Schröpfung und Malträtierung des Publikums dienten, sie fand statt in einer Weise, welche den früheren Aktienbesitzern, die jetzt in Besitzer von Staatsschuldscheinen sich verwandelten, für immer den Hauptteil der Eisenbahneinkünfte sicherte – jährlich mehrere hundert Millionen –, sie wird durchgeführt im Interesse des Fiskus und beruht auf der Ausbeutung der Eisenbahnangestellten und des Publikums. Die sozialrevolutionäre Regierung eines Marx wurde dagegen vor allem für einen planmäßigen Ausbau des Eisenbahnnetzes gesorgt haben, für eine Verbilligung der Fracht, für die materielle Sicherung der Angestellten, für die Amortisation der Schulden. Dass dies aber eminente wirtschaftliche und kulturelle Nachwirkungen haben müsste, liegt auf der Hand. Wenn nun Marx dieses Programm nicht verwirklichte, so rührt das daher, dass es ihm eben nicht gelang, die politische Macht zu erobern.

Es sind zur Verwirklichung des Sozialismus verschiedene Vorbedingungen notwendig.

Erstens muss die Produktionsentwicklung soweit fortgeschritten sein, dass ihre Vergesellschaftung nicht nur durchführbar ist, sondern eine auskömmliche Existenz allen Gesellschaftsgliedern sichert. Dieser Zustand ist bereits seit Ende des vorigen Jahrhunderts erreicht, und den Beweis dafür haben die großen Utopisten erbracht.

Zweitens muss die soziale Zersetzung soweit fortgeschritten sein, dass die soziale Revolution gewinnbringend für die Mehrzahl der Bevölkerung erscheint. Auch dieser Zustand ist bereits längst erreicht, da das Proletariat allein die Mehrzahl der Bevölkerung bildet und die Reste des Mittelstandes in das tiefste Elend heruntergedrückt worden sind.

Drittens muss die sozialrevolutionäre Klasse, das Proletariat, die politische Macht erobert haben.

Warum ist nun dieser politische Effekt bis jetzt noch nicht eingetreten? Das erklären wollen, heißt die politische Geschichte des letzten halben Jahrhunderts schreiben. Im Rahmen gegebener Produktionsverhältnisse und einer gegebenen wirtschaftlichen Entwicklung müssen sich bestimmte Klassenkämpfe herausbilden, aber es sind eben politische Kämpfe und nicht einfach ein Pflanzenwachstumsprozess. Die politische Entwicklung ist ein komplizierteres Gebilde, das sich nicht voraus bestimmen lässt wie eine mathematische Resultante. Sie ist kein Rechenexempel. Kurz, wenn auch die wirtschaftlichen Bedingungen der sozialen Revolution längst vorhaben sind, so ergab sich doch daraus zuerst der sozialrevolutionäre Kampf, die sozialistische Arbeiterbewegung, nicht schon gleich der Sieg des Sozialismus. Dieser will vielmehr erst erfochten werden. Der Sieg muss uns endlich werden, aber wie das noch keineswegs ausschließt, dass wir zuweilen Niederlagen erleiden, sondern nur voraussetzt, dass wir nach jeder Niederlage durch die wirtschaftlichen Verhältnisse zu neuer Macht emporsteigen werden, ebenso sicher ist es, dass wir dann am besten fortkommen, wenn wir es so einzurichten wissen, dass wir möglichst wenig Niederlagen erleiden, aber auch, dass wir kämpfen müssen, wenn wir siegen wollen.

Das jeweilige politische Ergebnis der kapitalistischen Entwicklung eines Landes hängt von vielen Momenten an, von der Weltmarktsentwicklung, die nicht mit der allgemeinen kapitalistischen Produktionsentwicklung zusammenzuwerfen ist, sondern in ihren Kombinationen und Wechselwirkungen, die fortgesetzt wechseln, stets aufs neue studiert werden muss, von der Stellung dieses Landes innerhalb der Weltmarktsentwicklung, von dem erreichten Grad der Produktionsentwicklung und der sozialen Gliederung, von der politischen Organisation des Landes, von seiner geschichtlichen Tradition dazu, den politischen Rückständen, die es mitschleppt, von seiner geographischen Lage, seiner Größe, Volkszahl und Nationalitätengliederung, von seiner internationalen politischen Stellung, von der bestehenden Regierungsform, von der Politik welche die Regierung einschlägt, von der Entwicklung der politischen Parteien, von dem erreichten Grad der Organisation und der politischen Erkenntnis des Proletariats, von den Erfahrungen, der Energie und – lässt sich leider nicht umgehen – vom Witz der leitenden Personen der Arbeiterbewegung.

Nehmen wir ein geschichtliches Beispiel, um uns diese Welt von Zusammenhängen und Wirkungen, die zwischen der wirtschaftlichen Entwicklung und den politischen Änderungen steckt, zu vergegenwärtigen. Die Einheit Deutschlands ist entstanden auf den Trümmern der 48er-Revolution, durch fortgesetzte Ausplünderung und Aufsaugung der Reichsteile durch Preußen, nach der Mattsetzung Österreichs während des Krimkrieges, da Preußen damals bereit war, Österreich in den Rücken zu fallen, nach dem schleswig-holsteinischen Krieg, nach dem Bruderkrieg von 1866 und endlich der Zertrümmerung Frankreichs 1870/71. So ist jener Prozess der politischen Umbildung Deutschlands verlaufen, dessen Träger der „eiserne Kanzler“ Bismarck war. Man sieht, eine recht holprige Entwicklung: eine politische Revolution, die ganz Europa erfasste, drei große Kriege und ein kleiner, die kleinen Annexionen in der Art des jetzigen Kiau-Tschou-Falles und die unzähligen parlamentarischen Konflikte gar nicht gerechnet. War das alles notwendig? Da es so geworden ist, konnte es offenbar nicht anders werden – aber die wirtschaftlichen Verhältnisse waren zweifellos bereits ’48 „reif“ für die Einigung Deutschlands. Die Einigung Deutschlands war schon damals eine wirtschaftliche Notwendigkeit, aber zwischen dem ökonomischen Postulat und dem politischen Effekt lag eben noch eine Welt von politischen Kämpfen. Man weiß, dass die Einigungsversuche des Volkes an dem Widerstand der Fürsten scheiterten, denen eben jene politische Zerklüftung Deutschlands zugute am, welche es zu beseitigen galt.

Anderseits, wenn die Einigung Deutschlands bereits 1848 verwirklicht wäre, welche Folgen hätte das gehabt? Wir wissen jetzt aus Erfahrung, welchen gewaltigen Anstoß der wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklung Deutschlands die Einigung gab. Diese Folgen wären auch 1848 nicht ausgeblieben. Allerdings wären sie zuerst weniger umfassend, weil Deutschland 1848 auf einer geringeren wirtschaftlichen Entwicklungsstufe stand als 1871, aber diese wirkenden Kräfte wären um 20 Jahre früher entfesselt, und sicher wäre Deutschland jetzt nicht nur politisch, sondern auch wirtschaftlich viel weiter als es ist. Die politische Arbeit ist ja bis auf diesen Augenblick nicht vollendet, und jeder zeigt mit den Fingern auf die Rudimente der vormärzlichen Zeit, welche Deutschland mitschleppt.

Sollen wir nun den Revolutionskämpfern von ‘48 einen Vorwurf daraus machen, dass die Entwicklung sich anders gestaltete, als sie es erwartet haben? Oder sollen wir aus dem Umstand, dass die Revolution in Deutschland mit dem Sieg der Reaktion endete, den Schluss ziehen, dass dem immer so sein müsse? Wäre nicht die großartige Revolutionsgeschichte Frankreichs und Englands in die Annalen eingegangen, so müssten diejenigen, welche jetzt an der sozialen Revolution bezweifeln, weil ihre bisherigen Versuche allerdings misslangen, allerdings auch diese Schlussfolgerung ziehen.. Sie können es jetzt nicht, weil es nachträglich geschieht und die Geschichtsbücher sie sofort Lügen strafen würden.

Die Revolutionäre von ‘48 haben die Erfordernisse der Zeit richtig erkannt und sie taten das einzige, was sie tun konnten: sie warfen ihren eigenen Geist und ihre Tatkraft in die Waagschale, um den gewünschten politischen Effekt zu erzielen. Wenn ihnen die Geschichte nachträglich einen Vorwurf macht, so ist es nur, dass sie nicht konsequent, nicht tatkräftig genug waren, dass sie nachließen, wo sie hätten handeln müssen, dass sie ihre Zeit verschätzten und den politischen Gegnern Gelegenheit gaben, sich zu besinnen, zu sammeln, zu rüsten und mit bewaffneter Hand nach Fürstenlaune rückgängig zu machen, was durchaus politisch zweckmäßig war und aus den wirtschaftlichen Verhältnissen sich ergab.

Denn auch Geist, Wille, Erkenntnis sind politische Faktoren. Die Menschen machen ihre Geschichte selbst, aber sie machen sie unter gegebenen Verhältnissen.“ [2] Sie machen sie unter gegebenen Verhältnissen, aber sie machen sie selbst. Die bestausgerüstete Armee kann trotz der Gunst der Verhältnisse eine Niederlage erleiden, wenn sie von einem Narren geführt wird.

“Das Glück ihm günstig sei,
Was hilft’s dem Stöffel?
Wenn regnet’s Brei
Fehlt ihm der Löffel.“

Auch die Einigung Deutschlands, wie sie gemacht wurde, fand ihren Mann im „eisernen Kanzler“

So war es mit der Einigung Deutschlands und mit der deutschen bürgerlichen Revolution. Wie aber erst mit der sozialen Revolution, die eine unendlich größere Tragweite hat? Hier kommt es auf die Gestaltung der politischen Verhältnisse, auf die Führung des politischen Kampfes erst recht an. Vor allem hat das kämpfende Proletariat selbst Erfahrungen machen müssen, und es hat diese Erfahrungen bereits gemacht auf den verschiedensten Gebieten: auf dem des Lohnkampfes, der Unterstützungs-Gesellschaft, des Konsumvereins, der Produktivgenossenschaft, der Einigungsämter, der Streiks, des Putsches, der politischen Revolution, des parlamentarischen Kampfes. Marx und Enges haben diese Kämpfe verfolgt, geleitet, studiert, sie wissenschaftlich in Zusammenhang mit den wachsenden Kräften der kapitalistischen Entwicklung gebracht. Auch das war notwendig. Wie die Dynastie Hohenzollern ihren Bismarck, so brauchte das Proletariat seine Marx, Engels, Ferdinand Lassalle, und die anderen, die mitwirkten. Die Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus wussten sehr gut, dass die wirtschaftliche Entwicklung noch keineswegs die politischen Wechselfälle und den menschlichen Verstand aus der Geschichte eliminiert, deshalb kamen sie nie aus der Fassung, sondern prüften sorgfältig jeden einzelnen Fall der eingetretenen politischen Änderungen – wovon sie in ihren Werken unvergängliche Dokumente hinterlassen haben – und jede Erforschung der einzelnen Ursachen der Erscheinungen, die sie mit der schärfsten Kritik durchgeführt haben, brachte nur einen neuen Beleg für die Richtigkeit ihrer sozialrevolutionären Auffassung.

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Anmerkung

2. „Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen.“ (Karl Marx, Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte (1852), Karl Marx, Friedrich Engels, Werke, Band 8, S. 117)


Zuletzt aktualisiert am 29. May 2024