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Erst nach einem langen Weg theoretischer Betrachtungen und statistischer Untersuchungen im Einzelnen gelangen wir dazu, eine zahlenmäßige Darstellung der sozialen Gliederung Deutschlands vom Gesichtspunkte der sozialrevolutionären Entwicklung zu geben, und das geschieht selbstverständlich unter allem Vorbehalt. Die geschichtlich wirkenden Kräfte zu ermitteln und sie zu berechnen, sind zwei verschiedene Dinge.
Nach unseren Ermittlungen zählt die Kapitalistenklasse:
In der Industrie |
80.000 Erwerbstätige |
Im Handel und Verkehr incl. Gastwirtschaft |
110.000 Erwerbstätige |
In der Landwirtschaft (Großgrundbesitzer) |
25.000 Erwerbstätige |
Rentiers |
200.000 Erwerbstätige |
Zusammen |
416.000 Erwerbstätige |
Das macht 1,82 Prozent der Erwerbstätigen. Um diese Zahl zu kontrollieren, nehmen wir die Einkommensstatistik zur Hilfe. Für das Reich im Ganzen ist leider ein Vergleich nicht möglich, und die einzelnen Staaten müssen Abweichungen zeigen, je nach dem Grad ihrer industriellen Entwicklung. Nehmen wie jedoch den größten deutschen Staat, Preußen. Preußen zählt 60 Prozent der Reichsbevölkerung, rechnen wir ihm 60 Prozent der von uns ermittelten Gesamtzahl der Kapitalistenklasse an, so macht das 259.600. Rechnen wir zu der reichen Klasse alle, die ein Einkommen von über 6000 Mark jährlich beziehen, so beträgt ihre Zahl nach der soeben im „Reichsanzeiger“ veröffentlichten Steuerveranlagung für 1897/98 in Preußen 121.824. Die von uns ermittelte Zahl der preußischen Kapitalistenklasse ist also mehr als doppelt so groß – ein Beweis, dass sie tatsächlich diese Klasse in ihrem weitesten Umfange umfasst, dass wir nicht zu niedrig, sondern viel zu hoch gerechnet haben. Um uns eine doppelte Sicherheit zu verschaffen, sehen wir uns noch die Einkommensstatistik Sachsens an. Da in Sachsen die höchste Konzentration der industriellen Tätigkeit Deutschlands stattfindet, so wäre es falsch, hier mit der absoluten Zahl der Bevölkerung zu rechnen. Wir ziehen deshalb die Zahl der Erwerbstätigen zum Vergleich. Sachsen zählt 1.584.794 Erwerbstätige von den 20.770.875 Erwerbstätigen des Reiches (abzüglich der Berufslosen), also 7,6 Prozent. Demnach beziffert sich nach unserer Rechnung Sachsens Kapitalistenklasse auf 31.616. Die Skala der sächsischen Einkommenssteuer enthält keine Abstufung von rund 6.000 Mark. Wir greifen deshalb weiter nach unten, rechnen sämtliche Zensiten mit einem Einkommen von über 5.800 Mark und erhalten die Zahl 27.100 – um 4.500 weniger, als die von uns vorausbestimmte. Selbst für das hochkapitalistische Sachsen ist also unsere Zahl noch viel zu groß. Dass aber ein Einkommen von 500 Mark monatlich als Mindestmaß eines kapitalistischen Einkommens gerechnet werden muss, wird kaum bezweifelt werden. Die amtliche Statistik zählt zu der reichen Klasse erst die Einkommen von 9.600 Mark jährlich an. Wir können also zuversichtlich annehmen, dass wir die Zahl der „Expropriateure“, die wir unsererseits zu „expropriieren“ haben werden, die uns also bei Vergesellschaftung der Produktionsmittel, bei Ablösung der Schulden etc. aus grundsätzlichen materiellen Interessen bis aufs äußerste werden entgegentreten müssen, mit 416.00 nicht unterschätzt, sondern vielmehr überschätzt haben.
Wenden wir uns den sozialen Mittelschichten zu. Da ist zu unterscheiden zwischen dem alten und dem neuen Mittelstand.
Der alte Mittelstand – das sind die Bauern, Handwerker und kleinen Kaufleute.
Wir haben die Zahl der Großbauern mit 282.000 angegeben. Wir wollen auch hier die Einkommensstatistik zur Kontrolle heranziehen. Für Preußen beträgt nach der Zählung von 1895 die Zahl der Großbauern 158.115. Die preußische Einkommensstatistik weist auf dem Lande Zensiten mit einem Einkommen von über 6.000 Mark 21.411 auf. Demgegenüber steht die Zahl der preußischen Großgrundbesitzer (über 100 ha), die wir bereits zu der Kapitalistenklasse gerechnet haben, mit 20.390. Wenn beide Zahlen sich nicht ganz decken, so ist zu berücksichtigen, dass „auf dem Lande“ ja nicht nur landwirtschaftliches, sondern auch industrielles Einkommen versteuert wird. Das Einkommen der Großbauern fällt daher sicher in die Einkommensstufen, die geringer sind als 6.000 Mark. Die preußische Statistik verzeichnet auf dem Lande in den Steuerstufen 3.000 bis 6.000 Mark nur 60.464 Zensiten – danach verbleiben noch mindestens 127.650 Großbauern, das sind zwei Drittel der Gesamtzahl, deren Wirtschaftsertrag, den sie zur Existenz brauchen, alles in allem gerechnet und die Naturalerträge in Geld umgerechnet, weniger als 3000 Mark jährlich beträgt. Wir haben also auch hier nicht zu gering gerechnet.
Das selbständige Handwerkertum, das noch ein Interesse an der jetzigen Produktionsweise hat, haben wir mit der Höchstzahl von 250.000 angenommen. Dazu 760.000 kleine Kaufleute und Gastwirte. Die Summe dieser Überreste des alten städtischen Mittelstandes beträgt also rund 1 Million.
Der neue Mittelstand wird gebildet durch
Das höhere technische und Verwaltungspersonal mit |
650.000 |
Administratoren, Justizbeamte und Offiziere |
320.000 |
Schullehrer |
220.000 |
Freie Berufsarten |
200.000 |
Handwerke, welche durch die industrielle Entwicklung neu |
400.000 |
Zusammen rund |
1.800.000 |
Zwischen dem neuen und dem alten Mittelstand bestehen tiefgreifende soziale Unterschiede, die wir kurz skizzieren wollen.
Der alte Mittelstand besteht aus selbständigen Warenproduzenten – der neue produziert keine Waren und hat nichts zu verkaufen als seine Arbeitskraft bzw. seine Intelligenz, für die er einen Lohn erhält, den er Gehalt nennt. Der alte Mittelstand vertritt eine untergehende Produktionsform und eine längst verworfene politische Organisation – der neue besteht aus den Geschäftsführern der modernen Industrie und des modernen Staates. Der alte Mittelstand vertritt sein besonderes Klasseninteresse – der neue Mittelstand hat kein eigenes Klasseninteresse. Der alte Mittelstand nistet in den entlegensten Winkeln – der neue ist gerade in den Zentren der Industrie, des Verkehrs und der Politik zu Hause. Der alte Mittelstand ist borniert, unwissend, ängstlich in seinem Beginnen, aber von zäher Ausdauer – der neue ist – vielleicht mit Ausnahme des Beamtentums – aufgeklärt, kenntnisreich, energisch, strebsam – er umfasst die Intelligenz des Landes.
Um die materielle Lage des städtischen Mittelstandes zu bestimmen, müssen wir uns wieder der Einkommensstatistik zuwenden. Es wird nicht bestritten werden, dass von der ganzen Gruppe das höhere technische und Verwaltungspersonal, das höhere Beamtentum und die liberalen Berufsarten die höheren Einkommen beziehen. Das macht zusammen 1.170.000 – rechnen wir nur 1 Million, da unter den Beamten wie den liberalen Berufsarten sich ein Teil Hungerleider befindet. Davon entfielen auf Preußen 600.000. Die Statistik des städtischen Einkommens in Preußen weist in den Einkommensstufen 3.000 6.000 Mark 163.040 Zensiten auf. Darin stecken aber noch mindestens 76.000 von den 127.000 Kapitalisten, die nach unserer früheren Rechnung von den höheren Einkommensstufen nicht absorbiert wurden. Es bleiben also höchstens 80.000 Zensiten frei in diesen Einkommensklassen – folglich haben 820.000 Personen von dem Beamten- und Verwaltungspersonal ein Einkommen, das geringer ist als 3.000 Mark. Von den 80.0000 Erwerbstätigen des „neuen Mittelstandes“, die noch verbleiben, entfallen auf Preußen 480.000. Zusammen mit den eben gewonnenen 520.000 macht das rund 1 Million, die ein Einkommen von weniger als 3.000 Mark erwerben. Die Zahl der Zensiten mit einem Einkommen von 900 bis 3.000 Mark beträgt in Preußen 1.390.703. Es verbleiben also nach Abzug der Million nur 391.000 Zensiten in dieser Klasse. Da wir die Zahl des alten städtischen Mittelstandes ebenfalls mit einer Million berechnet haben, wovon auf den Teil Preußens 600.000 entfallen, so müssen, sofern Adam Riese nicht trügt, über 200.0000 Erwerbstätige des städtischen Mittelstandes ein Einkommen von weniger als 900 Mark jährlich verzehren, also vollkommen verarmt sein. Der einzige Einwand, den man dagegen erheben kann, ist, dass ein Teil der Erwerbstätigen dieser Berufsklassen sich auf dem Lande befindet – dann aber muss sich um so weniger günstig die Lage des ländlichen Mittelstandes gestalten.Unsere einkommensstatistischen Vergleiche haben gezeigt, dass wir auch die Grenzen der sozialen Mittelschichten eher zu weit als zu eng gezogen haben. Nun gibt es aber auch Gesellschaftsschichten, die in ihrer materiellen Lage bereits tief unter die genannten herabgedrückt sind, aber aus formalen Gründen noch immer zum „Mittelstand“ gerechnet werden, obwohl sie vielfach nach ihren Einkommensverhältnissen noch hinter manchen Schichten der reinen Fabrikarbeiter zu stehen kommen. Das ist vor allem das selbständige Kleinbauerntum. Wir haben es bereits wirtschaftlich charakterisiert und verweisen auf unsere diesbezüglichen Ausführungen. Es ist eine dumpfe Masse, die je nach der Weltmarktentwicklung bald rascher, bald langsamer von der Fabrik absorbiert bzw. aus dem Land herausgedrängt wird, deren Verelendung aber auf jeden Fall unaufhaltsam fortschreitet. Wir lassen die Kleinbauern als eine Schicht für sich bestehen. Ihre Zahl beläuft sich nach unserer Rechnung auf 2.200.000.
Ferner haben wir unter den Handwerkern 1.200.000 ermittelt, die wir nach ihrer wirtschaftlichen Stellung der Lohnarbeiterklasse zugezählt haben. Es sind die Schneider, Näherinnen, Schuhmacher, Handweber, ein Teil der selbständigen Mauer etc. Die Einkommensstatistik rechtfertigt durchaus unser Vorgehen. Denn selbst diejenigen Handwerkerschichten die wir dem städtischen Mittelstand zugerechnet haben, lieferten uns für Preußen allein eine Überzahl von 200.000, die das proletarische Einkommen von weniger als 900 Mark jährlich beziehen müssen. Folglich fallen diese 1.200.000 sämtlich unter diese Grenze. Selbstverständlich handelt es sich dabei um die Allgemeinheit, nicht um den Einzelnen.
Die Rechnung für das Proletariat stellt sich danach folgendermaßen:
Industrielles Proletariat |
6.000.000 |
Tagelöhner wechselnder Art |
200.000 |
Handwerker, mit dem industriellen Proletariat solidarisch |
1.200.000 |
Handelsproletariat |
2.000.000 |
Agrarisches Proletariat |
5.620.000 |
Zusammen |
15.000.000 |
Das ist die wirtschaftliche Gliederung des Reiches. Es hieße nun durchaus schablonenhaft verfahren, wollte man die Stellung der einzelnen sozialen Schichten zur sozialen Revolution einfach dadurch beurteilen, ob sie rechts, links oder in der Mitte stehen. Unsere Erörterungen der einzelnen sozialen Gruppen haben vielmehr gezeigt, dass es hier Unterschiede gibt. Nach der von uns in den einzelnen Darstellungen befolgten Grundsätzen gelangen wir zu folgender Zusammenfassung:
Armee des Kapitals |
|
Im Verhältnis |
|
Kapitalistenkasse |
416.000 |
2 Prozent |
|
Im Dienste des Kapitals |
|||
Verwaltungspersonal 650.000 Beamte und Offiziere 320.000 |
970.000 |
4,8 Prozent |
|
Handwerker |
250.000 |
1,2 Prozent |
|
Zusammen |
1.636.000 |
8 Prozent |
|
Armee des Proletariats |
|||
Lohnarbeiter und mit ihnen solidarische Handwerker |
15.000.000 |
73,5 Prozent |
|
Vom Kapital ruinierte Gesellschaftsschichten, die jedoch noch nicht in die |
|||
Kleinbauern |
2.200.000 |
10,7 Prozent |
|
Kleine Betriebsinhaber in Handel und Verkehr |
760.000 |
3,7 Prozent |
|
Mittelschichten, welche die meiste Unabhängigkeit vom Kapital bewahrten, |
|||
Freie Berufsarten |
200.000 |
|
|
Schullehrer |
220.000 |
|
|
Modernisiertes Handwerk |
400.000 |
|
|
Zusammen |
820.000 |
4,1 Prozent |
Zuletzt aktualisiert am 29. May 2024