Parvus

E. Bernsteins Umwälzung des Sozialismus


VI. Die soziale Gliederung außerhalb der Produktion


Wir haben die Art, wie Ed. Bernstein diesmal die soziale Statistik behandelt, vulgär genannt und wir waren uns dabei voll bewusst, dass dies für jemand, die den gewaltigen Gedankengängen eines Karl Marx zu folgen gewöhnt ist, der schwerste Vorwurf sein muss. Weil nun in dieser Statistik das Schwergewicht der Bernsteinschen Kritik liegt, so haben wir sie einer genauen Prüfung unterworfen. Und wir glauben, diesen Eindruck wird wohl jeder aus unseren Darlegungen gewonnen haben, dass das Bernsteinsche Maß an die wichtigsten Erscheinungen der wirtschaftlichen Entwicklung gar nicht einmal heranreicht und dass zwischen den paar Zahlen, mit denen er die Undurchführbarkeit der sozialen Revolution hat beweisen wollen, eine komplizierte Welt von Zusammenhängen und Abhängigkeiten steckt. Die gesellschaftliche Entwicklung lässt sich nicht scheffelweise abmessen, nicht lotweise abwiegen. Bernstein aber scheint jetzt zu glauben, die paar plumpen Gewichtssteine einer bürokratischen Betriebs-Statistik reichen aus, um die revolutionären Kräfte der Gesellschaft – die Produktionsentwicklung, die Bevölkerungsvermengung und -differenzierung, die politischen Umformungen, die Umgestaltung der öffentlichen Meinung, die neu heranwachsende und alles von Grund auf umwälzende Welt von Interessen und Gegensätzen, Tätigkeiten und Bestrebungen – abzumessen. Wenn dem so wäre, wenn die Feststellung, ob die Betriebe mit 50 oder mit 51 und mehr Beschäftigten überwiegen, genügte, um die soziale Entwicklung zu bestimmen, dann wäre die Politik die dümmste Beschäftigung in der Welt, denn man brauchte dazu weder Witz noch Kenntnisse noch Energie noch Initiative noch Wagemut.

Wenn nun die Betriebsstatistik keineswegs die wirtschaftliche Gliederung der Gesellschaft voll zum Ausdruck bringt, so deckt sich diese ihrerseits noch nicht mit der sozialen Gliederung. Denn es gibt gesellschaftliche Stellungen, die in keinem direkten Zusammenhang mit der Güterproduktion stehen. Bevor wir die Resultate unserer Untersuchung der sozialen Gliederung Deutschlands zusammenfassen, müssen wir deshalb nach dieser Richtung hin unsere berufsstatistischen Angaben ergänzen.

Die Berufsstatistik gibt für 1895 unter Berufsabteilung D „Häusliche Dienste und Lohnarbeit wechselnder Art“ 432.491 Personen an. Auf die eigentliche Lohnarbeit entfallen davon 200.919, die offenbar der allgemeinen Lohnarbeiterklasse zuzuzählen sind. Der Rest, 231.572, sind Dienstboten, die nicht bei ihrer Herrschaft wohnen. Zu diesen kommt noch die allgemeine Klasse der Dienstboten mit 1.339.346, zusammen also 1.570.888 [1.570.918]. davon sind 1.496.720, also rund 1½ Millionen Dienstmädchen. Diese 1½ Millionen weibliche Personen, von denen mehr als 96 Prozent ledig und 55,5 Prozent über 20 Jahre alt sind, werden uns vielleicht mehr Schwierigkeiten bereiten als die biederen Herren Handwerksmeister. Wir meinen die Frage, wo und wie diese Bevölkerung unterzubringen wäre. So weit sich die Sachlage überblicken lässt, wird ein Teil von ihnen in die Familien zurückkehren, aus denen sie jetzt durch die Not herausgetrieben wurden. Rechnen wir hierher alle Dienstmädchen im Alter von unter 18 Jahren, so macht das 40 Prozent der Gesamtzahl. Ein anderer Teil wird Unterkunft finden, weil die Aussichten auf Verheiratung sich vermehren werden. Da das Leben in den [Gast-]Wirtschaften sich erweitern und gesittetere Gestalt annehmen wird, so wird ein weiterer beträchtlicher Teil hier unterzubringen sein. Der Rest aber wird wohl in den Privathaushaltungen verbleiben. Denn die Dienstbotenfrage ist nicht nur eine Frage der Ausbeutung, sondern zugleich eine Frage der Unzulänglichkeit der Arbeitskräfte, über welche die jetzige Einzelfamilie verfügt. Bis nun durch die Entwicklung des gesellschaftlichen Zusammenlebens die Familie bzw. die Hausfrau von einem Teil der gewaltigen Arbeitsbürde, die sie in der Küche, Haus und Kinderstube zu tragen hat, entlastet wird, braucht sie besonders in kinderreichen Familien eben die Unterstützung des Dienstmädchens. Der Dienstbotenstand, die Entrechtung, die Ausbeutung wird aufhören, aber bleiben wird noch für geraume Zeit die Eingliederung von Personen, die außerhalb verwandtschaftlicher Beziehungen mit den Familienvorständen stehen, in die Familie. Typen eines derartigen Zusammenlebens in der Haushaltung, begründet auf gegenseitiger Nützlichkeit und Achtung, sind ja auch jetzt schon in Amerika und Australien entwickelt. Dass hier eine Schwierigkeit vorliegt, leugnen wir, wie gesagt, nicht, aber das ist auch eine Schwierigkeit, mit der wir stets zurechnen haben werden – oder glaubt man denn wirklich, dass auch in der Haushaltung der Familie, wie sie die kapitalistische Gesellschaft kennt, die Zeit der Bernsteinschen Großbetriebe mit mindestens 200 Beschäftigten kommen wird?

Wir kommen zum Militär- und Zivildienst. In der Armee und in der Kriegsflotte werden 27.966 Offiziere und Beamte mit Offiziersrang verzeichnet. Das ist das Berufsmilitär, dessen Klassenstellung keiner Erläuterung bedarf. Ihnen gegenüber 603.010 Gemeine und Unteroffiziere. Die politische Bedeutung dieser Masse des Heeres kann nur aus der allgemeinen sozialen Gliederung und politischen Entwicklung abgeleitet werden und muss aus der berufsstatistischen Betrachtung ausscheiden.

Von den Beamten erwähnen wir zunächst die Lehrer und was sonst mit den Schulen und wissenschaftlichen Instituten zusammenhängt. Es sind zusammen 232.848 Personen, wovon 218.009 Direktions- und Lehrpersonal. Nun, diesen wird es an einem Tätigkeitsfeld, auf dem sie ihr Wissen und ihre Initiative entwickeln können, nicht fehlen, und auch nicht an allgemeiner Achtung und an einer auskömmlichen Existenz. Das Elend der Volksschule und der Volksschullehrer würde endlich aufhören. Nirgends bricht sich die Demokratie so schnell Bahn wie in der Schule. Dass es sich hier nicht um Phantasien handelt, zeigen die Schweiz, Nordamerika und Australien.

Die Masse des Verwaltungs- und Justizbeamtentums umfasst 292.909 Personen. Das ist der Apparat, mit dem die ausgebeutete Klasse regiert wird, die im Solde des Staats stehenden Werkzeuge des Kapitals. Für Verwaltung und Rechtspflege wird man stets zahlreiche Persönlichkeiten brauchen, aber diese, die der herrschenden Klasse entstammen, und durch eine fein entwickelte erzieherische und wissenschaftliche Methodik zu Beherrschungswerkzeugen des Kapitals herausgebildet worden sind, können wir nicht verwenden. Unsere erste Aufgabe wird vielmehr sein müssen, sie abzusetzen und durch vom Volke gewählte Vertrauenspersonen zu ersetzen. Das ist sehr gut möglich, und wenn die juristische Kasuistik dabei etwas kurz abschneidet, so ist das nur zu begrüßen.

60.176 Personen sind in „Kirche und Gottesdienst“ tätig. Die Bedeutung der Kirche nach der Zahl der Geistlichen abzuschätzen, wäre ebenso lächerlich, wie etwa die Rolle des Kredits resp. des Geldkapitals nach der Zahl des in den Banken und Börsen beschäftigten Personals. Hier handelt es sich aber vor allem noch um eine Bewegung der Geister, und wie nach dieser Richtung der Sturm und Drang der sozialen Revolution voraussichtlich wirken wird, ist zwar sehr verlockend zu schildern, muss aber an dieser Stelle unterbleiben.

Die freien Berufsarten! 122.138 in „Gesundheitspflege und Krankendienst“ Erwerbstätige. Davon sind 63.073 Wartepersonal und sonstiges Dienstpersonal, das in weitaus größten Teil von den verschiedenen Krankenanstalten der Gemeinden und der Wohltätigkeitsgesellschaften absorbiert wird; dazu noch 5.230 Verwaltungspersonal. Die Dinge liegen hier klar zu Tage. Hier handelt es sich nicht um grundsätzliche Änderungen, sondern um Förderung, Erweiterung, Verbesserung in jeder Beziehung. Es bleiben 53.835 Ärzte und Hebammen, von denen auch ein bedeutender Teil im Gemeindedienst steht und von den ersteren ein sehr großer Teil im Dienst der Arbeiterkrankenkassen. Seit der Einführung der Krankenversicherung zweifelt kein ernster Mensch mehr an der durchgehenden gesellschaftlichen Organisation des Arzneiwesens.

In Musik, Theater, Schaustellungen aller Art, als Stenographen, Privatsekretäre, Schreiber, Rechner, als Privatgelehrte, Schriftsteller, Journalisten sind im deutschen Reiche rund 80.000 Personen tätig, worunter 11.000 Frauen. Für alle diese Elemente ist die soziale Revolution, die eine Unendlichkeit der Interessen in den Massen entfesseln wird, die alle zum öffentlichen Ausdruck, sei es in der Publizistik, sei es in den gesetzgebenden Körperschaften oder in den Versammlungen kommen müssen, die folglich einen großen Bedarf an Zeitungsschreibern, Volks- und Parlamentsrednern und Agitatoren erzeugen wird, die erst die Massen zum kulturellen Genuss, wie ihn Theater, Musik, Kunst, Literatur bieten, aufrütteln, die der ganzen Öffentlichkeit einen stärkeren Pulsschlag verleihen wird, erst den Boden abgeben, auf dem sie sich in all ihrer Größe wie in all ihrer Nichtswürdigkeit entwickeln können.

Es bleiben uns noch die „ohne Beruf und Berufsangabe“. Es sind 2.142.808 Selbständige, mit ihren Angehörigen und Dienern eine Bevölkerungsschicht von 3.327.089. Zieht man aber davon die Anstaltsinsassen, Studierenden, die nicht in ihrer Familie wohnen etc. ab, so bleiben von den Selbständigen nur noch 1.288.484 Leider lässt sich auf Grund des uns vorliegenden statistischen Materials eine weitere Zergliederung dieser letzten Zahl nicht vornehmen. Scher sind darunter die Invaliden- und Altersrentenempfänger enthalten. Für den 31. Dezember 1895 gibt die Reichsstatistik die Zahl der Rentenanteile auf 318.195 an. Für die Gesamtzahl der selbständigen Berufslosen, also einschließlich der Anstaltsinsassen lässt sich noch die Altersgliederung feststellen. Danach waren unter 20 Jahre alt 406.179, über 60 Jahre 1038.909: im eigentlichen erwerbsfähigen Alter von 20 bis 60 Jahren befanden sich unter den Berufslosen 697.712. Es sind darunter Hauseigentümer, die von ihren Mietzinsen leben, Aktien- und Hypothekenbesitzer, soweit darin ihre Haupteinnahmequelle, Gauner, Diebe etc., soweit sie in den Gefängnissen sitzen, ein gut Teil der Studierenden auf den Universitäten, schließlich Sieche, Krüppel, Lahme, Insassen der Tollhäuser – solche, die nicht produktiv tätig sein können, und solche, die es nicht sein wollen, weil sie es „nicht brauchen“.

Dass die sozialistische Gesellschaft für die Arbeitsunfähigen oder solche die sich zur Arbeit ausbilden, erst recht zu sorgen haben wird, liegt auf der Hand. Es wird niemand einfallen, diese Leute ihrer Renten zu berauben. Anders freilich steht es mit den städtischen Hauseigentümern, die sich selbst als Rentiers bezeichnen, und den reichen „Couponabschneidern“. Es ist interessant, ihre Zahl zu ermitteln, weil sie gewiss zu den erbittertsten Gegnern der sozialen Umgestaltung gehören. Nun ist in Betracht zu ziehen, dass die Herren Aktienbesitzer von uns bereits zum Teil mitgerechnet worden, als wir die Kapitalistenklasse in Industrie und Handel berechnet haben. Denn wir hatten die Zahl der Betriebe vor uns, nicht die Zahl der Eigentümer. Wenn nun jede Aktiengesellschaft viele Aktionäre besitzt, so befindet sich doch der Hauptteil der Aktien in den Händen weniger, und andererseits legt jeder Rentier sein Kapital in mehreren Unternehmungen an. Da es sich nicht um Aktienbesitzer überhaupt, sondern nur um jene, die es ausschließlich sind, handelt, so werden sich beide Zahlen wohl so ziemlich decken. Wenn wir nun die Zahl jener reichen Rentiers – hauptsächlich großstädtische Hauseigentümer – die nicht anderweitig mitgerechnet wurden, mit 200.000 angeben, so wird diese, allerdings willkürliche, Annahme kaum als zu niedrig gegriffen betrachtet werden können.

So wären wir denn mit unserer Rechnerei zu Ende. Unsere Auseinandersetzung mit Ed. Bernstein wird sehr umfangreich. Die Schuld trifft uns nicht. Der Vorwurf wäre gegen Bernstein zu erheben, dass er sich über die wirtschaftlichen und politischen Grundlagen unseres Programms, die bereits eine Wissenschaft bilden, ja die komplizierteste aller Wissenschaften, mit ein paar statistischen Angaben, die jeder Studiosus aus dem ersten statistischen Kolleg eines deutschen Ökonomie-Professors davonträgt, hat hinwegsetzen wollen. Für uns aber erwuchs daraus, dass wir es in Bernstein mit einem Manne zu tun haben, der selbst fast zwei Jahrzehnte unsere Grundsätze theoretisch und praktisch verteidigte, die Notwendigkeit, alles in Betracht zu ziehen, was mit Bernsteins Kritik in wichtigem Zusammenhang steht, und so wird unsere Antikritik zu einer Revision der Grundbegriffe der Parteipolitik. Die Arbeit war schon längst notwendig, und wenn wir sie auch viel lieber bei anderem Anlass getan hätten, so blieb uns doch in diesem Falle keine Wahl übrig. Wir werden nun noch die gewonnenen statistischen Grundlagen zu einem Gesamtbild verarbeiten und daraus die allgemeinen politischen Konsequenzen ziehen, dann die zweite Grundlage der Bernsteinschen Kritik – die Krisentheorie – einer Prüfung unterwerfen, schließlich die taktischen Schlussfolgerungen der Kritik und Antikritik geben. Das erfordert der Ernst der politischen Situation. Politische Kleinkinder können das freilich nicht begreifen. Aber „Nestles Kindermehl“ wird in der Sächsischen Arbeiter-Zeitung seit langem nicht mehr fabriziert, sondern anderswo.


Zuletzt aktualisiert am 29. May 2024