Parvus

E. Bernsteins Umwälzung des Sozialismus


III. Die sozialrevolutionäre Armee [A]


Wir haben schon erwähnt, dass die gesellschaftliche Bedeutung der verschiedenen Produktionszweige bzw. ihre Bedeutung für den Revolutionierungsprozess der Gesellschaft eine durchaus verschiedene ist. Für die kapitalistische Entwicklung kommt bekanntlich vor allem das Verhältnis zwischen der industriellen und landwirtschaftlichen Produktion in Betracht. Man kann mit gutem Recht sagen, dass daran die ganze wirtschaftliche und politische Entwicklung, ja die gesamte Kulturentwicklung unserer Zeit geknüpft ist. Die Städteentwicklung, die Eisenbahnen, das hängt damit zusammen. In dieser Beziehung zeigt nun die Statistik seit 1882 eine totale Verschiebung des Verhältnisses. Die ganze landwirtschaftliche Bevölkerung des Reiches zählt jetzt 18,5 Millionen von 51,8 Millionen Gesamtzahl, also noch nicht einmal 40 Prozent. Die überwiegende Majorität steckt in Industrie, Handel etc. Diese sind es also, welche jetzt den wirtschaftlichen Charakter des Landes bestimmen. Es handelt sich nicht um ein einfaches Übergewicht der Zahl nach: es handelt sich darum, dass nunmehr diese industrielle, städtische Bevölkerung mit ihren Interessen, Gegensätzen, Ansichten, Forderungen die geschichtliche Entwicklung Deutschlands beherrschen, alles andere sich unterordnen, nach sich umgestalten, von sich abhängig machen, durch die Flut der großen Öffentlichkeit, die sie erzeugt, sich moralisch erobern muss. Die 28 deutschen Großstädte mit je über 100.000 und zusammen 7.300.000 Einwohnern sind ebenso viele Zentren der wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Beherrschung des Landes. Jede dieser Großstädte macht ihre Umgebung in einem Rayon, dem durch die Verzweigung der Eisenbahnen sehr weite Grenzen gezogen sind, von sich abhängig. Andererseits nistet sich bekanntlich die Industrie bereits in den entferntesten Winkeln ein. So werden die 18 Millionen bäuerlicher Bevölkerung von den 33 Millionen der industriellen förmlich umlagert, in Stücke gerissen, durch zahlreiche Industriestränge durchsetzt, von Eisenbahnen umflochten und unter der Herrschaft der Großstädte zusammengezogen Diese wirtschaftlichen Zusammenhänge kennt die Berufsstatistik nicht. Sie kennt nur Zahlenunterschiede, sie klassifiziert und rubriziert, scheidet und wirft zusammen – Wechselbeziehungen kennt sie nicht. Der Politiker, dem sie als einzige Grundlage seiner Spekulationen dient, gleicht deshalb dem Strategen, der wohl die Zahl und Einteilung und vielleicht auch noch die Bewaffnung der feindlichen Truppen kennt, aber nicht ihre Dislokation, nicht die Bedingungen des Terrains, nicht die Wege und Verkehrsmittel und auf Grund dieser Kenntnisse seinen Feldzugsplan entwerfen will!

Haben wir uns nun auf Grund der Berufsstatistik vergegenwärtigt, dass Deutschland ein industrielles Land ist, und zwar nicht nur der Zahl der Erwerbstätigen nach, sondern im Sinne der Beherrschung des gesamten wirtschaftlichen Lebens des Landes durch die industrielle Tätigkeit, so ist die weitere Frage, welchen Charakter trägt diese Industrie bzw. in welchem Verhältnis steht sie zum Weltmarkt? Die politischen Ereignisse der letzten Zeit machen hier detaillierte Ausführungen überflüssig. Deutschlands Industrie ist eine kapitalistische Exportindustrie. Darunter ist nicht etwa eine Industrie zu verstehen, welche dank besonderer natürlicher oder Arbeitsverhältnisse geeignet ist, bestimmte Produkte vorzüglich für den Weltmarkt zu liefern, sondern wir meinen damit die Erreichung eines bestimmten Entwicklungsgrades der kapitalistischen Industrie, bei dem sie nicht mehr anders existieren kann, als indem sie außerhalb der Grenzen des Inlandes sich Absatz schafft. Eine derartige Industrie arbeitet bereits mit einer gesellschaftlichen Unterbilanz. Sie produziert mehr, als man unter den gegebenen sozialen Verhältnissen im Inlande verbrauchen kann, sie ist der Beweis dafür, dass die Produktivkräfte der sozialen Wirtschaftsform über den Kopf gewachsen sind und dass diese Wirtschaftsform sich nur noch hält, insofern es gelingt, die überwuchernde Produktenmasse aus dem Lande wegzustoßen, und unbedingt gesprengt werden muss, wenn der Absatz nach dem Auslande durch irgend welche Umstände gehemmt wird. Diese Tatsache, die sich auf die Industrie in ihrer Gesamtheit bezieht, ist ein viel wichtigeres sozialrevolutionäres Merkmal als der in jedem einzelnen Industriezweig im besonderen erreichte Grad der Betriebskonzentration. Ist es auch interessant, zu erfahren, inwiefern der Großbetrieb in den verschiedenen Zweigen der gesellschaftlichen Produktion fortgeschritten ist – obwohl der Sozialismus nie behauptet hat, dass zuerst der höchstmögliche Grad der Konzentration des Betriebs in jedem einzelnen Erwerbszweig erreicht werden muss, bevor die soziale Revolution möglich wird – so beweist es doch nur die größere oder geringere technische Möglichkeit der Vergesellschaftung der Produktion, währenddem das soeben charakterisierte Verhältnis den Beweis liefert, dass diese Vergesellschaftung zur produktiven Notwendigkeit geworden ist.

Nun wollen wir sehen, wie sich auf dem Terrain dieser allgemeinen Produktionsverhältnisse die Klassengegensätze abscheiden und Interessenkämpfe abspielen. Hier werden wir die Zahlen der Berufsstatistik am meisten gebrauchen können.

Wir betrachten zunächst die eigentliche Industrie. Das sind die Gewerbegruppen III bis XVI der Statistik. Wir finden hier im ganzen Reich 79.286 Betriebe mit mehr als je 10 Beschäftigten. Man wird zugeben, dass dies, im weitesten Umfang genommen, die industrielle Kapitalistenkasse ist, die den direkten Schaden der sozialen Revolution zu tragen haben wird. Man sieht, sehr zahlreich ist die Klasse nicht. Ihnen steht gegenüber in denselben Betrieben beschäftigte – abzüglich der Betriebsinhaber – 3.911.072 Personen. Aber es ist zu berücksichtigen, dass zwischen den Arbeitern keine solche Scheidung stattfindet wie zwischen den Unternehmern. Derselbe Arbeiter arbeitet bald in einem größeren bald in einem kleineren Betrieb. Zwischen den Betrieben aller verschiedenen Größen findet ein ständiger Austausch, eine fortwährende Fluktuation von Arbeitern statt. Der Fabrikarbeiter wird deshalb nicht anders gesinnt, wenn er gelegentlich in einem Kleinbetrieb arbeitet. Auch hier kommt es wiederum darauf an, was den Ausschlag gibt. Bernstein selbst gibt zu, dass dies in der Industrie der Großbetrieb ist, nun wohl, die Fabrik ist es nunmehr, welche den Charakter der Arbeiterklasse bestimmt. Waren die Arbeiter in den Kleinbetrieben nur auf sich selbst angewiesen, so kämen sie nie über die Ansichten und Forderungen der Handwerksgesellen hinaus, da sie aber in steter Berührung mit den eigentlichen Industriearbeitern sich befinden, selbst Fabrikarbeit durchgemacht haben und in einer Zeit der Großstädte, Eisenbahnen, Zeitungen, des Parlamentarismus usw. leben, so werden sie ebenso zu klassenbewussten Proletariern wie die Fabrikarbeiter. Beispiele dafür sind innerhalb der Sozialdemokratie geradezu ohne Zahl. Selbst bis in die verbohrtesten Handwerksbetriebe wie die Bäcker und Metzger dringt der sozialdemokratische Geist. Man geht also nicht fehl, wenn man der kapitalistischen Unternehmerklasse die gesamte Zahl der Lohnarbeiter gegenüberstellt. Diese betrug in der Industrie 5.955.711, außerdem 263.745 Verwaltungs- und Aufsichtspersonal. Unser erstes Ergebnis ist also dieses:

Industrielle Kapitalistenklasse rund

80.000

Industrielles Proletariat rund

6.000.000

Das sind die zwei Parteien, deren Interessen einander direkt entgegengesetzt sind, und die sich auf das Schärfste bekämpfen. Auf der einen Seite das wirtschaftliche Bollwerk der jetzigen Gesellschaftsordnung, auf der anderen die Kerntruppen der sozialrevolutionären Armee. Dabei haben wir noch die Unternehmerklasse zu hoch gegriffen, weil, wie ein Vergleich der Betriebsstatistik mit der Berufsstatistik zeigt, die Zahl der Betriebsinhaber in der Industrie geringer ist als die der Betriebe.

Ziehen wir die 80.000 Betriebsinhaber, die wir als die eigentliche industrielle Kapitalistenkasse bezeichnet haben, von der Gesamtzahl der selbständigen Erwerbstätigen ab, so erhalten wir einen Rest von 1.980.000. Das sind die Allein- und sonstigen Kleinbetriebe.

In dieser großen Zahl von ca. 2.000.000 birgt sich aber zunächst eine bedeutende Summe von eigentlichen Lohnarbeitern, die nur unter einer anderen Rechtsform auftreten. Das sind vor allem sämtliche Berufsarten, die mit der Hausindustrie zusammenhängen, also 190.381 selbständige Näherinnen, 261.141 desgleichen Schneider und Schneiderinnen, 15.966 Putzmacherinnen usw. Es gehören auch hierher die Handweber und verwandten Berufsarten mit ca. 150.000. Das sind zu dem weitaus größten Teil Proletarier, unter dieser oder jener Form werden sie auf das Schändlichste ausgebeutet, und sie sind weit entfernt davon, dem Proletariat in seinem sozialrevolutionären Kampf sich entgegen zu setzen, vielmehr sind z.B. gerade unter den Schneidermeistern sehr viele zielbewusste Sozialdemokraten zu verzeichnen. Fast sieben Zehntel Millionen von den zwei sind schon weg!

Ferner gibt es im Baugewerbe viele wirkliche Lohnarbeiter, die sich als „selbständig“ in die Berufsstatistik eintragen, wie Maurer, Dachdecker und weniger schon Zimmerer. Das rührt von den verschiedenen Umständen her, die mit der Natur des Gewerbes zusammenhängen. Die betreffenden stehen in keinem festen Verhältnis zu einem bestimmten Unternehmer; sie lassen sich von jedem Bauherrn besonders anwerben, wobei sie jedoch freilich ebenso gut zu einem Tagelohn oder Akkordlohn arbeiten, wie jeder andere Arbeiter, dazu kommt, dass sie vielleicht gelegentlich kleine Nebenarbeiten erhalten, die sie mit ihrem wenig komplizierten Werkzeug verrichten können. Wie dem auch sei, es sind Lohnarbeiter, bei der sozialen Revolution gibt es hier nichts zu „expropriieren“, nichts umzuwälzen, außer dass auch sie, wie alle Arbeiter, unter günstigere Arbeitsbedingungen gestellt werden würden. Ihre Zahl umfasst ca. 100.000.

Folgen Berufsarten, die Zwitterbildungen von Lohnarbeit und Handwerk in großer Zahl enthalten. Sie knüpfen zum Teil an den städtischen Hausbau, zum Teil an die Notwendigkeit, die Häuser und Wohnungen im Stande zu erhalten, ab. Die Großstädte mit ihren Wasserleitungen, Kanalisationen, Gasbeleuchtungen elektrischen Leitungen usw. usw. liefern ihnen ein überreiches Tätigkeitsgebiet. Wir meinen die Schlosser, Klempner, Elektrotechniker, Tapezierer. Sie haben ihre Werkstätten, arbeiten aber sehr oft nur für Arbeitslohn. Sofern sie außerhalb der Werkstatt, eben, wo sich gerade die Notwendigkeit für Reparaturen herausgestellt haben mag oder überhaupt in einzelnen Zufallsaufträgen zu tun haben, sehen wir nicht ein, wie man hier je eine technische Konzentration würde einführen können. Wir werde also diese Berufsarten übernehmen wie sie sind, und da die sozialistische Gesellschaft sicher keine schlimmeren Stadteinrichtungen haben wird, so wird sich auch für sie ein dankbares Tätigkeitsfeld eröffnen.

Mit diesen eng verflochten sind die Handwerke, die hauptsächlich mit Reparaturen an Fuhrwerken, kleinen landwirtschaftlichen Maschinen und sonstigen Utensilien beschäftigt sind. Neben den schon erwähnten Schlossern und Klempnern gehören hierher die Wagner, Stellmacher, auch Sattler. Auch hier sind bei der sozialen Revolution keine großen Umwälzungen vorzunehmen. Diese „Handwerker“ stören uns in keiner Weise, und was wir vornehmen, kann ihnen nur zugute kommen.

Nach diesen folgte das spezifizierte Reparaturhandwerk – die Schuhmacherei, zum Teil gehört auch hierher die bereits erwähnte Schneiderei. Es wurden 235.328 selbständige Schuhmacher gezählt. Was soll da gesagt werden? Die Sohlen werden sich auch in der sozialistischen Gesellschaft abtragen, und die neuen Stiefel werden auch jetzt schon in den Fabriken gemacht. Das eine dass mit der Hebung des allgemeinen Wohlstandes auch die Existenz der jetzigen elenden Flicker sich verbessern muss! Hierher gehören auch die Uhrmacher.

Eine Anzahl Kleinbetriebe füllen Berufsarten aus, die nach der Natur der Arbeit nicht konzentriert werden können und bei denen auch das Hauptgewicht in der Arbeit bzw. persönlichen Dienstleistung liegt: Apotheker, Abdecker, Barbiere, Wäscherinnen. Selbständige Wäscherinnen gibt es 75.301. Es wird wohl auch so sein, dass die Arbeiterfrauen nicht mehr durch die Not gezwungen sein werden, fremde Wäsche anzunehmen. Sie werden keinen Protest dagegen erheben. Die 5.487 deutschen Apotheken werden wir allerdings in gesellschaftlichen Besitz nehmen.

Nun erst kommt das eigentliche Handwerk. Hier spielen die Bäcker und Metzger die Hauptrolle, zusammen ca. 150.000 Selbständige. Es sind hier viele Existenzen, die sich kaum über Wasser halten. Die Konkurrenz der Brotfabriken und Großschlächter, Metzgereien mit Dampfbetrieb, sowie der Wurstversandgeschäfte macht sich hier von Tag zu Tag mehr fühlbar. Immerhin herrscht hier noch viel Handwerkerdünkel. Doch wenn wir auch die Stimmen der Herren Bäcker- und Metzgermeister bei den Wahlen sicher nicht haben werden, so können sie uns doch keinen großen Schaden anrichten.

Von den verbleibenden Handwerken sind die Tischler zum Teil von den Möbelhandlungen gänzlich abhängig, zum Teil arbeiten sie bloß in ihren Werkstätten für die Fabriken; und die Buchbinder liegen in den Händen der Verlagsanstalten. Für beide Berufsarten ist in der sozialen Revolution nur die Befreiung von der Ausbeutung zu erwarten.

Eine Reihe anderer Handwerke bestehen entweder aus Berufsarten, die eine besondere Kunstfertigkeit erfordern, wie Feinmechaniker, Goldschmiede – sie sind sehr wenig zahlreich und werden in der sozialistischen Gesellschaft erst recht Gelegenheit haben, ihre Fertigkeiten auszunützen – oder sie weisen in gemischter Art die beiden anderen bereits nachgewiesenen Merkmale auf – es sind die Korbmacher, Drechsler usw.

Unsere Übersicht der selbständigen Erwerbstätigen in den Kleinbetrieben des Gewerbes führt zum Schluss, dass davon

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Anmerkung

A. Der beschränkte Raum der Zeitung und die beschränkte Zeit, die dem Artikelschreiber für theoretische Arbeiten zur Verfügung steht, bringen es mit sich, dass unsere Auseinandersetzungen mit E. Bernstein mehrfach unterbrochen werden müssen. Aus diesem Grunde sind auch Wiederholungen unvermeidbar, indem mancher bereits früher in die Diskussion geworfene Gedankengang später wieder aufgegriffen wird, um weitergesponnen zu werden.


Zuletzt aktualisiert am 29. May 2024