Parvus

E. Bernsteins Umwälzung des Sozialismus


II. Weitere berufsstatistische Streifzüge


Musste E. Bernstein in der Industrie einen sehr harten Kampf mit den unbequemen Tatsachen ausfechten, so hat er in der Landwirtschaft wie im „Handel und Verkehr“ ein verhältnismäßig leichtes Spiel. Er läuft hier offene Türen ein. Man weiß, dass der konstant sinkende Getreidepreis seit den 70er Jahren die Entwicklung des landwirtschaftlichen Großbetriebes hemmte. Doch ist das eine Entwicklung, welche bekanntlich von dem kapitalistischen Grundbesitz selbst nicht etwa freudig begrüßt als Schutzmauer gegen den Sozialismus, vielmehr bitter beklagt wird, denn er fühlt sich dadurch nicht gefestigt, sondern, im Gegenteil, in seinen Grundlagen erschüttert und zerrüttet. Der kapitalistische Grundbesitzer ist durch diese Entwicklung an den Rand des Bankrotts gebracht worden, schon ist es so weit gekommen, dass er selbst Projekte ausheckt, sich vom Staat „expropriieren“ zu lassen, aber selbstverständlich möchte er es in einer Weise tun, die ihm einen opulenten Renten-Bezug sichert. Der Bauer ist allerdings an der Scholle geblieben, aber er ist verelendet, verschuldet, hält in der überwiegenden Zahl nur noch durch Zuhilfenahme von Lohnarbeit aller Art oder einer sonstigen Gewerbetätigkeit sich kaum über Wasser und wäre längst gänzlich verhungert, hätte er nicht diese Zeit über Gelegenheit, durch Auswanderung dem Hungertode zu entfliehen. Dies der „kräftige Bauernstand“, in dessen „antikollektivistischem Schädel“ nunmehr auch Bernstein eine große Logik entdeckt zu haben scheint. Doch immerhin, dass in der reaktionären Landbevölkerung für die soziale Revolution die größte zu überwindende Schwierigkeit liegt, ist eine Tatsache, die nie bestritten wurde. Sie war auch Bernstein genügsam bekannt und hielt ihn von einer sozialrevolutionären Auffassung der Entwicklung nicht zurück – was neues liegt denn vor, dass er nun seine Gesinnung ändert? Er hat es nicht vorgebracht. Wir werden noch in einem anderen Zusammenhange auf die Frage der Gewinnung der Landbevölkerung eingehen. Vorläufig nur diese allgemeine Bemerkung: Schwierigkeiten sind noch kein Beweis der Unmöglichkeit, – wären keine Schwierigkeiten der sozialen Revolution vorhanden und sie wäre doch nicht eingetreten, dann erst wäre der Beweis erbracht, dass sie nichts ist als ein Hirngespinst!

Im „Handel und Verkehr“ ist eine regelrechte Entwicklung im Sinne der Konzentration der Betriebe unverkennbar. Für das Reich im ganzen ergibt sich, dass das Personal in den Alleinbetrieben gewachsen ist um 18,6 Prozent gegenüber 1882, das in den Betrieben mit 2–4 beschäftigten Personen um 76,8 Prozent, in den Betrieben mit 6–10 Beschäftigten um 82,2, in denen mit 11–50 um 105,7, in den Betrieben mit 51–200 Beschäftigten um 103,4, schließlich in solchen, die mehr als je 200 Personen beschäftigen, um 204,5 Prozent, doch sind selbstverständlich die Prozentsätze desto größer, auf je geringere Zahlen sie sich beziehen. Die Kleinbetriebe bildeten 1882 noch über ein Drittel, 35 Prozent der Gesamtzahl, 1895 dagegen nur noch 25 Prozent. Man wird nun vor allem zugeben, dass der Großbetrieb im Handel anders gemessen werden muss als in der Industrie. Ein Kaufladen mit über 6 Gehilfen ist nach allgemeiner Annahme schon ein sehr bedeutendes Geschäft. Die Handelsunternehmungen, die Dutzende von Gehilfen gebrauchen, je 50 und mehr Personen beschäftigen, sind schon Kolossalbetriebe, etwa wie Fabriken, die über 1.000 Arbeiter beschäftigen. Nun gab es 1895 im Handel allein 32.000 Betriebe mit mehr als 5 Beschäftigten, die zusammen ein Personal von 289.448 umfassten: 544.546 Personen waren in den Handelsgeschäften mit 2–5 Beschäftigten und 398.994 in den Alleinbetrieben. Es ist aber noch, um die Entwicklung des Handels zu begreifen, sein Verhältnis zu den Fabriken und Verlagsgeschäften in Betracht zu ziehen. Bernstein macht der Parteipresse den Vorwurf, dass sie die Bedeutung des Kreditwesens verkennt, selbst aber lässt er den Kredit dort, wo er seine wichtigste Rolle spielt, im Handel, gänzlich außer acht. Der Kredit in seinen verschiedensten Formen hält die Ladengeschäfte so fest umgarnt, dass sie nie aus den Netzen herauskommen, den Gläubigern ewig tributär bleiben und oft unter einem derartigen Druck seufzen, der selbst den Vergleich mit der industriellen Ausbeutung aushalten kann. Hier lässt sich Bernstein durch die Rechtsform über den wirtschaftlichen Inhalt täuschen. Eine Unzahl dieser selbständigen Kaufleute sind nur die Geschäftsagenten, – die Kommis der Verlagshäuser und Fabriken. Manchmal ist es ein einzelnes Verlagsgeschäft, welches an den verschiedensten Orten die Detailverkäufer an sich bindet, sie verpflichtet, mit keiner anderen Bezugsquelle Geschäftsverbindungen einzugehen, und den Handel so förmlich monopolisiert. Die Öffentlichkeit wurde ja soeben durch ein krasses Beispiel dieser Art bis in den Reichstag hinein in Aufruhr versetzt. Wir meinen die Angelegenheit des Petroleumsyndikats. Die Firmen, mit denen das Syndikat in Verbindung steht, haben sich zweifellos als selbständige Kaufleute in die Berufsstatistik eingetragen. Wie es um ihre „Selbständigkeit“ in Wirklichkeit bestellt ist, hat die Veröffentlichung der ihnen vom Syndikat diktierten Verträge gezeigt. Danach ist ihnen alles vorgeschrieben: der Einkaufspreis, der Verkaufspreis, ihr Profit und ihr Geschäftsumfang – was bleibt dann noch von diesen selbständigen Kaufleuten übrig als der stolze Name? So steht es aber, wie allgemein bekannt, nicht nur mit den Petroleumhändlern. Die ganze Stoffbranche besteht nur aus Handelsfilialen der Fabriken. Die Möbelhandlungen sind eng mit den Möbelfabriken liiert. Aber nehmen wir selbst den Produktenhandel, den zahlreichsten und in dem der Kleinhandel seine vorzügliche Domäne hat. Der Spezierer bekommt das Petroleum vom Syndikat geliefert, das Bier vom Bierverlag, die Zuckerwaren von der Fabrik, die Zigarren ebenfalls – mit all diesen steht er in fester Verbindung, er wird von ihren Geschäftsreisenden, Expedienten aufgesucht, die Ware wird ihm regelmäßig zu festen Sätzen ins Haus geliefert, er hat nichts zu tun, als sie abzuwiegen und auszuverkaufen und von Zeit zu Zeit mit seinem Auftraggeber abzurechnen. Für bares Geld kauft er sich vielleicht nur ein Fässchen Salzheringe, ein paar Pfund Wurst, Kartoffeln, Butter und Eier bei den Marktfrauen und eine Tonne Salzgurken – das ist der selbständige Produktenhändler! Wie es diesen kleinen Kaufleuten ergeht, kann man u. a. aus den städtischen Wohnungsenqueten ersehen: bei keiner Bevölkerungsschicht herrscht nämlich eine derartige Wohnungsüberfüllung, niemand haust so in Schmutz, Dunkel und Feuchte als diese „Ladenbesitzer“. Es ist ein Jammer, diese kleinen Leute zu sehen, wenn sie ihre Miete zu bezahlen haben oder der Termin für die Lieferanten heranrückt – Segnungen des „Kredits“, die man nach Bernstein in der Partei nicht zu würdigen versteht – da scharren sie die Pfennige aus allen Schubfächern zusammen und nicht selten wird da der Pfandleiher aufgesucht: Oft gehört diesen gewaltigen Unternehmern nicht einmal der Ladentisch, der vom Hauseigentümer geliefert wird, und ihr ganzes Privateigentum besteht aus ein paar Pappschachteln! So stehen die Dinge im Handel. Für die meisten dieser Kaufleute würde der Übergang zur sozialistischen Wirtschaftsweise nur bedeuten, dass an Stelle der jetzigen kapitalistischen Lieferanten der sozialistische Betrieb als Lieferant auftritt.

Wir sind den statistischen Aufstellungen Bernsteins Schritt für Schritt gefolgt, weil er ein besonderes Gewicht legt darauf, dass man in der Partei nach seiner Meinung über unbequeme statistische Tatsachen sich zu leicht hinwegsetze. Wir glauben, gezeigt zu haben, dass die Art, wie Bernstein die Zahlen deutet, erst recht oberflächlich ist, dass er dabei die wichtigsten wirtschaftlichen Zusammenhänge außer Acht lässt. Nunmehr müssen wir uns überhaupt gegen diese rein arithmetische Art, soziale Probleme zu lösen, wenden. Die Berufsstatistik liefert uns gewiss das wertvolle Material der Beurteilung der gesellschaftlichen Gliederung. Aber die wirtschaftliche Entwicklung der Gesellschaft unter die eine Schablone einer betriebsstatistischen Gliederung bringen zu wollen, ist eine höchst vulgäre Verfahrensart. Zunächst liegt es im Wesen der Massenzahl, dass sie die Unterschiede überbrückt, die dadurch oft nicht nur ein getrübtes, sondern direkt ein Ergebnis liefert, welches der Wirklichkeit widerspricht. Wir wollen das an einer Anzahl Beispiele klarlegen. Das krasseste dieser Art bezieht sich auf die Gewerbegruppe „Verkehr“. Diese Gruppe muss samt dem Handel dafür herhalten, die Zähigkeit des Kleinbetriebes nachzuweisen. Nun fehlen aber in dieser Rubrik des „Verkehrs“ – die Eisenbahnen! Wir glauben, einen größeren Hohn auf diese jetzige Bernsteinische Art, geschichtlichen Materialismus zu treiben, als dieser Umstand, dass die Entwicklung, ja die Existenz selbst der modernen Transportmittel, die Blutzirkulation der kapitalistischen Produktion, ihm völlig entgeht, kann man kaum denken Die Droschkenkutscher müssen dazu herhalten, die Unmöglichkeit der sozialen Revolution zu beweisen, – die Eisenbahnen, welche diese Revolution bewirken, verschwinden von der Erdoberfläche, als wenn wir uns noch im grauen Mittelalter befänden. Um den Hohn vollständig zu machen, fiel gerade in diese Zeit zwischen 1882 und 1895 die Verstaatlichung der deutschen Eisenbahnen. Aber Bernstein weiß uns davon nichts zu erzählen, – dagegen beweisen ihm die Totengräber, die merkwürdigerweise ebenfalls unter das „Verkehrsgewerbe“ geraten sind – offenbar, weil sie den Verkehr mit dem Jenseits vermitteln – und unter denen der Großbetrieb noch nicht so stark vertreten ist als etwa im Kohlenbergbau, die große Schwierigkeit der sozialen Revolution! Doch sehen wir uns weiter um. Im „Handelsgewerbe“ finden wir die Rubrik Geld- und Kredithandel mit 5.969 Selbständigen und 33.689 abhängig Beschäftigten, also noch nicht einmal 6 Personen pro Betrieb – offenbar „Kleinbetriebe“, welche mithelfen, die Unmöglichkeit der sozialen Revolution zu konstatieren. In Wirklichkeit sind das die Banken und Börsen! Wenden wir uns der Industrie zu. Da müssten wir aber ganze Seite voll schreiben, wollten wir sämtliche Beispiele der Unzulänglichkeit des Bernsteinschen Gradmessers der sozial-revolutionären Entwicklung aufführen. Die deutsche Textilindustrie z. B. muss für die Vergesellschaftung des Betriebes noch durchaus unreif sein. Weshalb? Nun, es finden sich hier noch über hunderttausend Handweber, die noch nicht total verhungert sind! Deshalb müssen wir offenbar die Hände weglassen von den großen Spinnereien und Webereien! Auch bilden sich hier besondere Spezialitäten heraus, die dem Kleinbetrieb einen Unterschlupf gewähren – Bernsteins Lieblingsidee – das ist z. B. die Gummi- und Haarflechterei und -weberei mit 1.284 Selbständigen und 2.738 Erwerbstätigen. Auch in der Papierindustrie scheinen unsere Aussichten sehr schlecht zu sein: hier hat sich eine besondere Spezialität der Verfertigung von Spielwaren aus Papiermaché gebildet. Bei dieser Gelegenheit seien noch ein paar andere moderne Spezialitäten aufgeführt. Als da sind: Verfertigung von Krawatten und Hosenträgern, Verfertigung von Korsetts, Verfertigung von künstlichen Blumen und Federschmuck, Fleckenausmacher, Kleiderreiniger, Stiefelwichser, Kammerjäger. Da alles beweist nämlich nach Bernstein, dass der Kleinbetrieb noch durchaus lebensfähig ist, wenn er auch andere Formen annimmt. Die deutschen Gasanstalten in der Zahl von 427 beschäftigen jetzt zusammen nur 14.407 Personen, also pro Betrieb etwa 35 Mann – nach Bernstein können wir sie noch keineswegs vergesellschaften, sondern wir müssen warten, bis sie mindestens je 50 Personen beschäftigen, denn erst dann zählen sie zu den „Großbetrieben“, wenn auch „mäßigen“! Am schlimmsten aber ist es um den deutschen Schiffsbau bestellt. Da herrschen noch ganz rückständige Zustände – da gibt es auf 1.068 Selbständige 22.731 Erwerbstätige, also durchschnittlich 22 Mann pro Betrieb. Auffallend ist es nur, dass in diesen „Mittelbetrieben“ die größten Ozeandampfer gebaut werden! Da weiß schon die Regierungsschrift über Deutschlands Seeinteressen anderes mitzuteilen. Sie weiß von den gewaltigen deutschen Werften zu erzählen, welche den größten Forderungen genügen, von den Schwimmdocks mit ungeheurer Hebekraft, von dem kolossalen Wachstum der Schiffszahl und des Tonnengehalts der deutschen Handelsflotte, die zu einem immer größeren Teil auf den eigenen deutschen Werften gebaut werden. Aber ein paar hundert Verfertiger von Kähnen und kleinen Booten trüben das statistische Bild, und Bernstein sieht auch hier nur die kleinen Fischerkähne und übersieht die große deutsche Seeflotte, wie er früher die Lastfuhrwerke sah und die Eisenbahnen nicht merkte!

Will man die Berufsstatistik gebrauchen, um sich Einsicht in die soziale Entwicklung zu verschaffen, so muss man sie als das nehmen, was sie ist: rohes Material, gewiss ein wertvolles Material, das aber immerhin erst durch andere Tatsachen ergänzt und korrigiert werden muss und das vor allem erst auf Grund der bereits gewonnenen Kenntnis der gesellschaftlichen Zusammenhänge bzw. in unserem Fall der Gesetze der kapitalistischen Entwicklung begriffen und zu einem zusammenhängenden Bild verwoben werden kann. Wir wollen der jetzigen kritiklosen Bernsteinschen Auffassung gegenüber ihn kurz daran erinnern, wie die Sache gemacht werden muss.


Zuletzt aktualisiert am 29. May 2024