MIA > Deutsch > Marxisten > Parvus > Berbsteins Umwälzung d. Soz,
Unser Parteiprogramm beruht darauf, dass wir uns die politische Macht erobern, um mit ihrer Hilfe die Kapitalisten zu expropriieren, das Privateigentum an den Produktionsmitteln zu beseitigen und eine gesellschaftliche Organisation der Produktion einzurichten. Das war bis jetzt der grundsätzliche Ausgangspunkt der gesamten Parteitätigkeit. Ed. Bernstein tritt mit aller Entschiedenheit dagegen auf. Er meint, wenn die Sozialdemokratie bei dem jetzigen Zustand der Gesellschaft wirklich in den Besitz der politischen Macht gelangen würde – was wir so sehnsüchtig anstreben – so werde sie dadurch „vor einer unlösbaren Aufgabe“ gestellt worden sein. „Sie könnte den Kapitalismus nicht wegdekretieren, ja ihn nicht einmal entbehren, und sie könnte auf der anderen Seite ihm nicht diejenige Sicherheit gewähren, deren er bedarf, um seine Funktionen zu erfüllen. An diesem Widerspruch würde sie sich unrettbar aufreiben und das Ende könnte nur eine kolossale Niederlage sein.“ Soweit wären wir also nach Bernstein: Das Ziel, dem die Partei seit ihrer Existenz zustrebte, erweist sich jetzt, nachdem die Partei so viele Opfer gebracht, so viele Schwierigkeiten überwunden hatte und so mächtig geworden ist, dass bald der Endpunkt ihres Strebens erreicht zu sein schien, als ein Trugbild, eine Luftspiegelung, und es bleibt nichts übrig, als zurückzuweichen, um wenigstens die angesammelte Armee zu schonen, oder denn wir erleiden eine„katastrophale Niederlage“!
E. Bernstein wehrt sich in seinem Artikel gegen den Vorwurf, weshalb er an den alten Parteigrundsätzen „mäkele“. Gewiss ist es die größte Narrheit, die Kritik beschränken zu wollen, darin hat Bernstein recht, – aber wenn er glaubt, seine Schlussfolgerungen seien nur die wissenschaftliche Weiterführung des Sozialismus, so ist das durchaus nur ein Wortspiel: Hätte er recht, so wäre dies die Vernichtung des Sozialismus. Doch wie dem auch sei, Bernstein ist zu diesen Überzeugungen gelangt, er ist kein Windbeutel, kein Narr, er wird sich genaue Rechenschaft gegeben haben von dem, was er sagt – prüfen wir seine Gründe!
Die Überzeugung von der sozialen Revolution hat zwei Ausgangspunkte: Die fortschreitende Proletarisierung der Massen nebst gleichzeitiger Konzentration des Kapitals und die Erweiterung des Umfanges und der Intensität der Handelskrisen mit der Produktionsentwicklung. An beiden Punkten setzt Bernstein seine Kritik ein.
Die stattfindende Konzentration des Kapitals, meint er, wird in unserer Partei übertrieben. Er geht nun die Ergebnisse der preußischen Betriebsstatistik durch, um zu zeigen, wie die Dinge stehen. Die Zahl der Alleinbetriebe und der Kleinbetriebe (1–5 Gehilfen) habe sich seit 1882 allerdings absolut und relativ vermindert, aber immerhin betragen sie auch 1895 noch über 90 Prozent der Gesamtzahl. Indem er dies sagt, muss sich freilich Bernstein gleich selbst korrigieren, dass in den Produktionsentwicklung das in den Betrieben verschiedener Größe beschäftigte Personal mehr maßgebend als die Zahl der Betriebe. 100 Fabriken mit je 200 Arbeitern bedeuten mehr als 1000 Werkstätten mit je 5 Arbeitern. Und es zeigt sich denn auch, dass das Personal der Allein- und Kleinbetriebe 1895 bloß 38,4 Prozent der Gesamtzahl ausmachte, und zwar gegenüber 52,7 Prozent des Jahres 1882. Das Resultat ist also für den Bernsteinschen Versuch, die Konzentration der Produktion weniger schroff erscheinen zu lassen, durchaus ungünstig. Dabei muss Bernstein außerdem anerkennen, dass die Produktionsmasse, welche die Großindustrie liefert, verhältnismäßig noch größer ist. In seiner Not hilft er sich damit, dass er eine zweite Teilung der Betriebe eintreten lässt: „Mäßige Großbetriebe (51–200 Personen)“ und „sehr große Großbetriebe“ (er könnte mit dem gleichen Recht sagen: kleine Großbetriebe und unmäßige Großbetriebe!). Und nun glaubt er endlich den Schluss ziehen zu können: „Verhältnis und Wachstum der sehr großen Betriebe scheinen hier weniger bedeutend“. In Wirklichkeit ist das Verhältnis dieses: das Personal der „Mäßigen“ ist gestiegen von 403.049 auf 757.357 oder von 11,9 Prozent auf 16,62 Prozent, das der „Unmäßigen“ ist gestiegen von 559.333 auf 977.527 oder von 16,5 auf 21,44 Prozent: in beiden Fällen haben wir eine ungefähre Verdoppelung während 13 Jahren! Man sieht, alle statistischen Destillationen, welche Bernstein vornimmt, helfen ihm über die Tatsache der gewaltigen Konzentration der Industrie, welche der Vergleich der zwei letzten deutschen Berufszählungen nachweist, nicht hinaus. Nun will er wenigstens die Kleinbetriebe vom Untergang retten, und mittels der Methode der Spaltung gelingt es ihm auch glücklich, eine Vermehrung des Personals der Betriebe mit 3–5 Gehilfen herauszurechnen, weshalb freilich die noch kleineren Betriebe um so schlimmer zu stehen kommen, weil sie den gesamten Verlust tragen.
Das Ganze ist durchaus unwissenschaftlich gedacht. Als ob die Konzentration der Produktion unbedingt durch alle Schichten in einer geraden Linie vor sich gehen muss: die Alleinbetriebe vermindern sich, die Kleinbetriebe vermindern sich, die Mittelbetriebe vermindern sich die großen Betriebe wachsen, und zwar, wenn man nach einer gegebenen Laune die Großbetriebe weiter teilt, so soll sich auch hier dieselbe Planmäßigkeit ergeben! In Wirklichkeit gibt es hier zahllose Abstufungen, Schiebungen, Fluktuationen. Das hat noch niemand angezweifelt. Worauf es ankommt, ist die Gesamttendenz, und die trat deutlich zutage in der Tatsache, dass 1895 die Großbetriebe 38,06 Prozent des Gesamtpersonals der Industrie umfassten, 1882 dagegen bloß 28,4 Prozent. Dass bei alledem die Betriebskonzentration, von der allein hier die Rede ist, ihre Grenzen hat in der Produktionstechnik, dass diese Grenzen für verschiedene Produktionszweige verschieden hoch gezogen sind, und dass andererseits die gleiche Arbeiterzahl in den Betrieben verschiedener Produktionsbranchen einen verschiedenen Grad der Konzentration der Produktion anzeigt, liegt auf der Hand. Eine chemische Fabrik ist bei 50 Arbeitern bereits ein gewaltiges Unternehmen, anders eine Spinnerei oder gar Maschinenfabrik. Die gewaltige deutsche Farbenindustrie zählt in nur 909 Betrieben 19.148 Erwerbstätige, also rund 90 Mann pro Betrieb, sie würde demnach nach Bernstein in die Mittelbetriebe gehören, währenddem es eine wirkliche kapitalistische Großindustrie ist. Dass die Bäckerei nicht in dem Maße eine Konzentration des Betriebes zulässt wie die Spinnerei oder die Eisenindustrie, liegt auf der Hand. So zeigt jedes Land eine buntgestaltige Gliederung der Produktion, innerhalb der aber bestimmte Industrien eine führende Rolle spielen, durch ihr Verhältnis zum Weltmarkt dem produktiven Charakter des Landes ihr Gepräge auflegen. Sprichwörtlich in dieser Beziehung ist die Bedeutung der Baumwollindustrie für England. Für Deutschland fällt der Eisenindustrie die ausschlaggebende Bedeutung zu. An diesen Industrien ist nun am besten die Tendenz der kapitalistischen Produktionsentwicklung zu beobachten. Um beim Beispiel der deutschen Eisenindustrie zu bleiben, so stieg von 1882 bis 1891 die durchschnittliche Jahresleistung des deutschen Hochofens von 13.545 Tonnen auf 23.027 Tonnen, die Zahl der Hochöfen hat sich aber zu gleicher Zeit von 261 auf 216 vermindert.
Mag man die Sache wenden, wie man will, die Tatsache bleibt, dass in Deutschland eine gewaltige Konzentration der Industrie stattgefunden hat. Nun noch ein Wort über die Kleinbetriebe. Bernstein legt ein besonderes Gewicht auf ihre noch immer große Zahl. Ein Blick in ihre spezifizierte Statistik zeigt, um was es sich handelt. Es sind die Bäcker, Metzger, Schuhmacher. Näherinnen, Schneider, Uhrmacher, schließlich die Wäscherinnen und Barbiere. Das ist die ganze große anti-sozialrevolutionäre Armee, vor der Bernstein erschrickt. Dass auch hier ein großer Umwandlungsprozess vor sich geht, ist jedermann bekannt. Die Schneider und die Schuhmacher sind bereits durch die Konkurrenz der Fabriken und Verlagshäuser so bedrückt, dass es für sie keinen Ausweg aus dem Elend gibt, als die soziale Revolution, die Bäcker und zum Teil Metzger sind auf den Konsum der Arbeiter angewiesen und haben insoweit mit diesen gemeinsame Interessen, und schließlich wagen wir die Behauptung, dass die soziale Revolution durch den etwaigen Widerstand der Wäscherinnen und Barbiere, der aber nicht anzunehmen ist, nicht aufzuhalten wäre.
Zuletzt aktualisiert am 29. May 2024