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Aus: Sächsische Arbeiter-Zeitung, Nr. 56 (9. März 1898).
Kopiert mit Dank von der Webseite Sozialistische Klassiker 2.0.
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In der letzten Nummer der Neuen Zeit veröffentlicht Ed. Bernstein einen Artikel in der strittigen Angelegenheit, der allerdings keine „Umwälzung des Sozialismus“ mehr ist, auch keine „Untergrabung“, wie es Bernstein lieber genannt haben möchte, sondern eine rotierende Bewegung um die eigene Achse in einem Wust verworrener Redensarten ohne Richtung, ohne Halt – ein Sichherumwälzen. Was Bernstein jetzt „vernichtet“ und gründlich vernichtet, ist keine Theorie, keine Wissenschaft, es ist der geistige Nimbus, den er sich durch Jahrzehnte fleißiger Arbeit geschaffen hat. Leider werden wir nicht umhin können, diesen wissenschaftlichen Bankrott eines Mannes, welcher der Partei, als er in der Blüte seines Schaffens stand, so tüchtige Dienste geleistet hat, vor aller Öffentlichkeit aufzudecken. Leider – denn wenn uns auch Achtung nicht mehr zurückhält, so meldet sich doch Mitleid an. Wir kämpfen gern, aber hier ist kein Kampf mehr!
Wir überlassen bis zur nächsten Nummer unserer Zeitung den Bernsteinschen Artikel seinem Schicksal. Es ist uns nicht bange, dass durch ihn jemand, der auf unserer Seite steht, in seinem Urteil wankend gemacht werden könnte. Aber ein Passus muss doch heute schon Erwähnung finden, weil er die aktuelle Frage der Kolonialpolitik betrifft.
Bernstein schreibt:
„Parvus hat mir auch vorgeworfen, dass wenn ich die grundsätzliche Verwerfung der Kolonialpolitik bekämpfe, ich damit tatsächlich die Kolonialpolitik verteidige. Welche Logik. Ich habe die Anschauung, als müsste man jeder Kolonialpolitik deshalb Widerstand leisten, weil sie den Zusammenbruch der bestehenden Gesellschaft verzögert, sowie den grundsätzlichen Widerstand gegen jede Erweiterung der Märkte als utopistisch bekämpft. Damit verteidige ich noch gar nichts, ich erkenne nur an, dass es Fälle geben kann, wo die Sozialdemokratie keinen Grund hat, Unternehmungen zum Aufschluss neuer Märkte zu bekämpfen. Ich verlange eine sachliche und nicht eine von utopistischen Vorstellungen ausgehende Kritik der Kolonialpolitik.
Nun hat Anfang Februar im deutschen Reichstag die Debatte über die Erwerbung der Kiao-Tschau-Bucht stattgefunden. Seitens der Sozialdemokratie sprachen Bebel und Schoenlank. Sie kritisierten die Umstände, unter denen die Bucht erworben wurde, die Reklame für den Marinechauvinismus, der damit verbunden wurde, sie bezweifelten, ob der handelspolitische Wert der Bucht die dafür erforderten Opfer aufwiege, und sie erklärten angesichts einer Wirtschaftspolitik, die den Export auf Kosten des heimischen Verbrauchs in die Höhe treibe, die Mittel für die Erwerbung verwerfen zu müssen. Aber vergeblich wird an in ihren Reden einen grundsätzlichen Protest gegen jede Erweiterung der Märkte suchen. Trotzdem erklärte sich die Sächsische Arbeiterzeitung von ihnen höchlichst befriedigt. Es geht also auch so.“
Was widerlegt denn hier eigentlich Bernstein? Der Unterschied zwischen dem, was er scheinbar bestreitet, und dem, was er im Nachsatz selbst behauptet, ist nur der, dass er das eine Mal das Wort „grundsätzlich“ einfach, das andere Mal gesperrt drucken lässt! Wir haben ihm vorgeworfen, dass er die grundsätzliche Verwerfung der Kolonialpolitik bekämpfe“, und er behauptet, dass er bloß „den grundsätzlichen Widerstand gegen die Erweiterung der Märkte als utopistisch bekämpfe“. Freilich schmuggelt er dabei statt der konkreten Frage der Kolonialmärkte, von der die Rede war, den verschwommenen und höchst allgemeinen Ausdruck „jeder Erweiterung der Märkte“ ein: aber er wird doch nicht im Ernst behaupten wollen, der Streit bewege sich etwa um den Freihandel, der gewiss die „Märkte“ erweitert, und nicht vielmehr um die kolonialpolitische Erschließung Chinas? Und dabei ruft er noch aus: „Welche Logik!“ Es schimmert in ihm selbst die Erkenntnis auf, dass dies doch keine Widerlegung, sondern ein Zugeständnis sei, und er tüftelt etwas anderes heraus: daraus, dass er „die grundsätzliche Verwerfung der Kolonialpolitik bekämpfe“, ergibt sich noch nicht, dass er sie verteidige“. Aus dem Nebel der Metaphysik in die Dialektik der Wirklichkeit übertragen: wenn die Sozialdemokratie nicht gegen die Marinevorlage gestimmt hätte, sondern sich der Abstimmung enthielte, – was würde man dazu sagen? Übrigens haben wir ihm gar nicht vorgeworfen, dass er die Kolonialpolitik verteidige, sondern wir haben nachgewiesen, dass er von seinem Standpunkte der Anerkennung der absoluten wirtschaftlichen Unumgänglichkeit der Kolonien unkonsequent sei, wegen der einzelnen Verwaltungsmissstände die gesamte Kolonialpolitik zu bekämpfen. Wir haben ihm gesagt, es sei lächerlich, von der kapitalistischen Kolonialpolitik zu fordern, sie soll das Geschäftsinteresse hinter Humanitätsprinzipien zurückstellen. Afrikanische Kolonien ohne Arbeitszwang sind ebenso undenkbar wie kapitalistische Industrie in Europa ohne Lohnarbeiter, wie Kriege ohne Blutvergießen, wie Militarismus ohne Militärbudget. Kurz, wir haben ihm nachgewiesen, dass er die Kolonialpolitik sachlich anerkennt und nur aus utopistischen Gründen verwirft. Statt uns zu widerlegen, wiederholt er das Sprüchlein, er wolle „sachliche“ Gründe, keine Utopien, und ruft noch aus: „Welche Logik!“
Komisch ist die Berufung auf unsere Stellungnahme zu den Reichstagsdebatten. Wir haben uns mit den Ausführungen der Fraktionsredner keineswegs identifiziert. Wir haben nur unserer Freude über die Abstimmung Ausdruck gegeben, und zwar weil dadurch eine klare Scheidung getroffen wurde. Nachdem so die Stellung der Parteien klar festgelegt wurde, gibt es kein Entweichen mehr: unsere Parlamentarier und Agitatoren werden nun gezwungen werden, den grundsätzlichen Kampf zu führen, sie werden dazu von den Gegnern provoziert werden, ob sie es wollen oder nicht. Allerdings sei darauf verwiesen, dass unsere Redner wenigstens insofern allerdings eine grundsätzliche Stellung eingenommen haben als sie auf die Handelskrisen verwiesen haben, welche durch die Kolonialpolitik heraufbeschworen werden und die ja Bernstein leugnet!
Soviel für diesmal.
Zuletzt aktualisiert am 26. Mai 2024