Parvus

Partei-Angelegenheiten

Eine interessante
sozialdemokratische Kandidatur

(19. Februar 1898)


Aus: Sächsische Arbeiter-Zeitung, Nr. 41 (19. Februar 98).
Kopiert mit Dank von der Webseite Sozialistische Klassiker 2.0.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.



Eine interessante sozialdemokratische Kandidatur. Im dritten.Berliner Reichstagswahlkreis ist der Herr Rechtsanwalt Wolfgang Heine zum sozialdemokratischen Reichstagskandidaten nominiert. Herr Heine, der sich als Verteidiger rühmlich bewährt hat, hatte sich als Parteigenosse eigentlich erst in der Versammlung, in der er zum Kandidaten nominiert wurde, zu präsentieren. Er hielt deshalb auch eine Art Programmrede, und wie diese ausfiel, zeigt folgender Auszug aus dem Bericht des Vorwärts:

“Der Militarismus, der bekämpft werden müsste, sei das heutige Armeesystem und der Geist der Armee, der dem Geiste des Volkes entgegengesetzt werde. Darum werde er auch dieser Regierung keinen Mann und keinen Groschen bewilligen. Wir müssen aber damit rechnen, dass je mehr Westeuropa demokratisch wird, es in Russland einen Feind zu erblicken hat, gegen den es noch lange gewaffnet sein muss. Wir werden wohl, auch wenn bereits die Sozialdemokratie bei uns herrscht, nicht umhin können, neue Kanonen und Gewehre zum Schutze unserer eigenen Freiheit zu bewilligen. Was Ledebour vom Opportunismus und Klassenkampf sagte, sei nicht zutreffend. Die Genossen, die Auer, Schippel und Fischer angegriffen haben, stehen nicht auf dem Boden der materialistischen Geschichtsauffassung. Der Klassenkampf sei der Kampf um die Macht für die Arbeiterklasse. Wer nicht glaube, dass die sozialistische Gesellschaft uns eines Tages reif in den Schoß fallen werde, wer annehme, dass wir nicht anders als Schritt für Schritt in sie hineinkommen, der müsse sich entschließen, den Kampf zu führen, wie man eben Kämpfe im Leben führt. Ledebour nenne das eben Opportunismus, andere hätten es Prinzipienverrat genannt, aber mit diesen Worten sei nichts gesagt, es käme auf die Anwendung in den einzelnen Fällen an. Wollte man bewilligen, was der Entwicklung zur Volksbewaffnung prinzipiell entgegengesetzt wäre, z. B. eine Verlängerung der Dienstzeit, oder die Anwerbung von Soldtruppen, so wäre das allerdings verwerflicher Opportunismus; ganz anders liege es bei an sich notwendigen und unschädlichen Forderungen, z.B. bei einer neuen besseren Waffe. Diese könnten unbeschadet des Prinzips bewilligt werden, wenn dafür wertvolle Volksfreiheiten zu erlangen wären.

Die Flottenvorlage billigte der Redner nicht, weil die überseeische Ausdehnung nicht den ihr nachgerühmten Wert für das Volk habe. Dieser Regierung werde er überhaupt nichts, auch keine notwendigen Militärforderungen bewilligen, weil sie keinen Preis dafür in Volksrechten zahlen würde.

Sollten wir aber einmal eine volksfreundliche Regierung bekommen, so würde er auch notwendige Kanonen bewilligen, wenn wir ein Kompensationsobjekt dafür erhalten. Nur so sei der Fortschritt zum Milizsystem denkbar.“

Der Vorwärts, das so genannte Zentralorgan der Partei, hielt es selbstverständlich nicht für angebracht, hierzu Stellung zu nehmen. Das tat vor allem die Leipziger Volkszeitung. Sie richtete an Herrn Heine folgende Fragen:

“Was denkt sich Heine bei seinen Zukunftsbetrachtungen unter einer „volksfreundlichen Regierung“, der er gegen ein „Kompensationsobjekt“ die „notwendigen“ Kanonen bewilligen würde? Wie stellt er sich eine Taktik vor, die um den „Preis in Volksrechten“ bereit ist, „notwendige“ Militärvorlagen zu bewilligen wie ein Tauschgeschäft, bei dem „unbeschadet des Prinzips“ für „an sich notwendige und unschädliche Forderungen“ als Äquivalent „wertvolle Volksfreiheiten zu erlangen“ wären?“

Eine Antwort ist bis jetzt nicht erfolgt. und das trotzdem die Äußerungen des Herrn Rechtsanwalts von der bürgerlichen Presse weidlich ausgeschlachtet werden. Auch das ist eine Antwort!

Sollen wir den Herrn Rechtsanwalt, der sich hier als materialistischer Politiker produziert, ernstlich widerlegen? Das wäre beinahe eine Versündigung gegen den Geist unsrer Marx und Engels!

In dem geschichtlichen Materialismus des Herrn Heine ist die Regierung die Sonne, um die sich die ganze Welt bewegt: scheint sie mild, ist die Regierung „volksfreundlich“, dann lächelt alle Welt und wirft ihr Kusshändchen zu, bzw. bewilligt die Kanonen, – ist sie aber von düsteren Wolken umhangen, also nicht „volksfreundlich“, dann herrscht auch unter den Völkern düsteres Brüten, und Herr Heine schmollt im Winkel und bewilligt die Kanonen nicht. Oder auch die Regierung ist ihm der Fetisch, den er schlägt, wenn es schlechten Fischfang gibt, und dem er die Lippen mit Fischtran schmiert, wenn es ihm gelang, eine gute Jagdbeute zu machen. Dass die Regierung als Produkt der materiellen Verhältnisse nicht über den Klassen steht, sondern selbst nur das Werkzeug der jeweiligen herrschenden Klasse ist, dass mit der Regierung zu paktieren, deshalb heißt, vor dem Kapital zu Kreuz zu kriechen, begreift dieser Advokat natürlich nicht. Er teilt diesen „materialistischen“ Standpunkt mit den Befürwortern des „sozialen Königtums“ von Gottes Gnaden.

Deshalb begreift Herr Heine auch nicht, dass es etwas anderes ist, wenn die sozialdemokratische Regierung einst eine Armee ausrüstet, um sich der von außen auf sie einstürmenden Feinde zu erwehren, als wenn der kapitalistischen Regierung Kanonen und Gewehre bewilligt werden, die sie braucht, um den „inneren Feind“ in Schranken zu halten. So lange wir vor dem Flintenlauf stehen, ist es Unsinn, dafür zu sorgen, dass die Munition nicht ausgeht.

Im Allgemeinen bedeutet die Kompromisstaktik des Herrn Heine einen Rollenwechsel zwischen Regierung und Sozialdemokratie, oder vielmehr, dass man sich beiderseits auf den Kopf stellt. Bisher forderte die Regierung Militärlasten und die Sozialdemokratie Volksrechte, – nach Heine ist es die Regierung, welche Volksrechte gewährt, und die Sozialdemokratie, welche die Militärlasten bewilligt. Dass die Regierung es wohl gern sehen wird, wenn wir uns derart auf den Kopf stellen, bezweifeln wir nicht, dass aber Herr Heine mit seinem Projekt ebenso schnell zu einem Regierungssessel gelangt, wie er im 3. Berliner Wahlkreis zu einer sozialdemokratischen Kandidatur gekommen ist, möchten wir doch nicht gleich annehmen. Man mag in der sozialdemokratischen Fraktion die Geschütze bewilligen, man mag selbst im Parteivorstand neue Artillerievorlagen ausarbeiten – nie wird das Kriegsministerium einen Gesetzentwurf über den achtstündigen Normalarbeitstag dem Reichstag vorlegen.

Zum Schluss möchten wir nur noch eine kurze Frage an die Berliner Parteigenossen richten: Habt ihr zu dem Zweck nach jahrzehntelangem Kampf die freisinnige Herrschaft in Berlin gebrochen, um unter sozialdemokratischer Flagge einen Volksparteiler mehr in den Reichstag zu schicken? In Berlin III war früher Rechtsanwalt Mundel gewählt – hat Mundel nicht stets, in allen politischen Fragen, seinen Mann gestellt? Ist er nicht ein Demokrat im guten Sinne des Wortes? Ist er nicht Rechtsanwalt wie der andere? Und ist er nicht diesem an Witz, Kenntnissen und Erfahrung zehnfach überlegen? Und glaubt man da wirklich, dass man hier, schon vom reinen Standpunkt der Wahltaktik einen richtigen Griff getan hat und die Kandidatur Heine unter den Massen große Begeisterung erwecken wird?

Soeben bringt der Vorwärts noch folgende Mitteilung:

“Die sozialdemokratische Fraktion hat in ihrer letzten Sitzung die von dem Genossen Heine in seiner Kandidatenrede um 3. Wahlkreis befürwortete Kompensationspolitik einer Erörterung unterzogen. Die Beratung ist nicht zum Abschluss gelangt und wird in der nächsten Sitzung, zu der Genosse Heine eingeladen wird, fortgesetzt werden.“


Zuletzt aktualisiert am 27. April 2024