Parvus

Eine Erklärung E. Bernsteins

(9. Februar 1898)


Aus: Sächsische Arbeiter-Zeitung, Nr. 32 (9. Februar 1898).
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Wir unterbrechen für heute unsere Ausführungen, um einer Erklärung E. Bernsteins, die soeben im Vorwärts erschienen, Platz zu geben. E. Bernstein schreibt:

„Mein in der Neuen Zeit (Heft 18) veröffentlichter Aufsatz Die Zusammenbruchstheorie und die Kolonialpolitik hat verschiedenen Parteiblättern ebenso wie gegnerischen Zeitungen zu Bemerkungen Anlass gegeben, die eine Antwort meinerseits nötig machen. Meine Antwort wird demnächst in der Neuen Zeit erscheinen. Inzwischen bitte ich um die Erlaubnis, zwei Punkte schon hier vorwegnehmen zu dürfen.

Der erste betrifft eine persönliche Angelegenheit. In einem Artikel, den die Berliner Volks-Zeitung meinen Äußerungen widmet, heißt es von mir, ich sei unter dem Sozialistengesetze „der Intransigentesten einer“ gewesen, indes, wie ich selbst später gelegentlich zugestand, „aus Furcht vor dem Wettbewerb der Most’schen Richtung“.

Ich erinnere mich nicht, jemals eine solche Äußerung getan zu haben. Meine Intransigenz zur Zeit der Ausnahmegesetze ist in keiner Weise durch die Furcht vor oder irgendwelche Konkurrenz mit der Most’schen Richtung eingegeben worden. Trotzdem meine Anschauungen in einigen Punkten in manchen Jahren eine Änderung erfahren haben, sind sie darin doch unverändert geblieben, dass, wenn heute die deutsche Sozialdemokratie von neuem unter ein Ausnahmegesetz gestellt würde, ich in gleicher Weise wie vor 1890 „Intransigent" sein würde. Wenn die Redaktion der Volks-Zeitung nachliest, was ich über die sächsische Wahlrechtsänderung in der Neuen Zeit geschrieben, wird sie darüber nicht im Zweifel sein.

Was sie im Auge hat, ist vielleicht die Ausdrucksweise des Züricher Sozialdemokrat. In dieser Hinsicht kann ich vielleicht zugeben, dass in den ersten Jahrgängen jenes Blattes eine Zeit lang sich eine gewisse Rückwirkung der Manieren der „Freiheit“ geltend machte. Aber das war vorübergehend und hat nichts mit dem grundsätzlich vom Sozialdemokrat eingenommenen Standpunkt zu tun.

Bei dieser Gelegenheit sei ein Irrtum richtig gestellt, der verschiedenen Parteiblättern in ihren Artikeln über den so tragisch aus dem Leben geschiedenen Genossen Conrad Conzett unterlaufen ist. Der um die Partei so hoch verdiente Genosse ist nicht, wie es in jenen Aufsätzen erscheint, gelegentlich der Ausweisungen von 1888 für den Sozialdemokrat eingesprungen, er hat vielmehr schon von 1883 ab die volle juristische Verantwortung für dieses Blatt getragen. Was er 1888 tat, war, dass er diesem rechtlichen Verhältnisse, über welches das amtliche Züricher Firmenregister Auskunft gibt, dem weiteren Publikum gegenüber demonstrativ Ausdruck gab.

Der zweite Punkt, über den ich mich hier auszulassen wünsche, betrifft eine Stelle meines Artikels, von der ich annehme, dass auf sie vornehmlich die Bemerkung der Redaktion des Vorwärts zielt, ich hätte durch die Form einiger meiner Ausführungen zu starken Missverständnissen Anlass gegeben. Ich meine die Worte auf Seite 556 der Neuen Zeit: „Ich gestehe es offen, ich habe für das, was man gemeinhin unter „Endziel des Sozialismus“ versteht, außerordentlich wenig Sinn und Interesse. Dieses Ziel, was immer es sei, ist mir gar nichts, die Bewegung alles.“ An diesen Satz sind allerdings Folgerungen geknüpft worden, die mir selbst sehr fern lagen. Wenn ich anerkenne, dass er missverstanden werden kann, so muss ich doch hinzufügen, dass dies nur möglich ist, wenn man ihn außerhalb seines Zusammenhanges liest.

Im Grunde sagt er nichts, was nicht schon unzählige Male von sozialistischen Schriftstellern ausgesprochen worden ist, wenn auch etwa „mit anderen Worten“. Die etwas schroffe Form, in der ich mich da ausdrücke, war durch den mir gemachten Vorwurf hervorgerufen, dass ich „das Endziel der sozialistischen Bewegung zu Gunsten des Gedankenkreises des bürgerlichen Liberalismus oder Radikalismus fahren“ ließe. Der Vorwurf, bei dem der Ton auf der Vorsilbe „End“ liegt: „das Endziel der sozialistischen Bewegung“ schien und scheint mir von jemand, der wissenschaftlicher Sozialist zu sein beansprucht, widersinnig. Denn wenn er Sinn haben soll, unterstellt er die utopistische Vorstellung von einer in näherer Zukunft möglichen Erreichung dieses „Endziels“. Fasst man aber die volle Durchführung des sozialistischen Prinzips als eine Sache auf, die nur das Produkt einer Reihe von gesellschaftlichen Entwicklungen sein kann, so ist es sinnlos, jemand vorzuwerfen, er gebe das Endziel dieser Entwicklungen auf. Sinn hat es nur, jemand den Verzicht auf bestimmte Forderungen oder Kampfmethoden, die Anwendung von bestimmten Voraussetzungen der sozialistischen Theorie vorzuwerfen.

Folgt aber daraus, dass ich es ablehne, mich mit dem sogen. „Endziel der sozialistischen Bewegung“ zu befassen, dass ich überhaupt jedes bestimmte Ziel dieser Bewegung leugne? Ich würde es bedauern, wenn meine Worte so verstanden würden. Eine Bewegung ohne Ziel ist ein chaotisches Treiben, denn sie wäre auch eine Bewegung ohne Richtung. Ohne Ziel keine Richtung, soll die sozialistische Bewegung nicht kompasslos hin- und hertreiben, so muss sie selbstverständlich ihr Ziel haben, dem sie bewusst zustrebt. Dieses Ziel ist aber nicht die Verwirklichung eines Gesellschaftsplanes, sondern die Durchführung eines Gesellschaftsprinzips. Soweit sich die Aufgaben der Sozialdemokratie nicht aus den jeweilig gegebenen Bedürfnissen des Kampfes der Arbeiter für ihre politische und ökonomische Emanzipation ergeben, kann man in der Tat das Ziel der sozialistischen Bewegung, will man nicht in Utopisterei verfallen, nur als Prinzip formulieren, etwa als die „allseitige Durchführung der Genossenschaftlichkeit.“ Ich kenne kein Wort, das in gleicher Weise das Ganze der sozialistischen Bestrebung umspannt wie dieses, ob es sich nun um politische oder wirtschaftliche Forderungen handelt. Es schließt alle Klassenherrschaft und alle Klassenprivilegien aus: der kraft seiner Klassenlage Bevorrechtigte ist kein Genosse. Aber wenn es auch das Ziel bezeichnet, so sagt es doch nichts über Wege und Mittel. Diese können nur aus den gegebenen Bedingungen gefunden werden, müssen im jeweiligen Verhältnis zum Stande der Bewegung stehen. Darum ist das allgemeine Ziel gegeben, die Bewegung selbst und ihr Fortschritt in Richtung auf dieses Ziel die Hauptsache, während es recht gleichgültig ist, wie man sich das Endziel dieser Entwicklung ausmalt. Durch alle solche Spekulationen pflegt vielmehr die Geschichte ihren dicken Strich zu machen. Wo jemals geniale Vorwegnahmen der Zukunft sich erfüllt haben, waren sie allgemeiner Natur und ihre Verwirklichung geschah in anderer Weise und unter anderen Formen, als ihre Urheber vorausgesehen. Es hat nur Wert, sich über den allgemeinen Gang der Bewegung klar zu sehen, und die Faktoren, die für sie in Betracht kommen, genau zu prüfen. Tun wir das, so können wir um das Endziel unbesorgt sein. Ich glaube, ich habe schon bei einer anderen Gelegenheit das Wort des großen Feldherren und Staatsmannes der englischen Revolution, Oliver Cromwell, zitiert, dass derjenige am weitesten komme, der nicht wisse, wohin er gehe. Es drückt jedenfalls den Gedanken aus, den ich im Auge hatte, als ich sagte, dass ich für das, was man gemeinhin Endziel der sozialistischen Bewegung nenne, wenig Sinn hätte. Cromwell wollte eben auch nur sagen, dass, wer die allgemeine Richtung kennt, in der er steuert, und im übrigen sich den Blick frei hält für die Bedingungen und Erfordernisse des Tages, weiter kommt als diejenigen, deren Blick gefangen oder hypnotisiert ist durch irgend ein spekulativ ausgemaltes „Endziel“.

Dies der Gedankengang, dem der obige Satz Ausdruck geben sollte. Ich hätte ihn auch so formulieren können: „Die Bewegung ist mir alles, denn sie trägt ihr Ziel in sich.“

Ed. Bernstein.“

* * *

Diese Erklärung zeigt mit trauriger Deutlichkeit die geistige Verwirrung, in welche E. Bernstein geraten ist. Er, der geschichtliche Materialist, begibt sich hier in das Nebelreich der Ideologie und sucht nach einem „Prinzip“, das möglichst alles umfasst, und weil es alles umfasst, nichts sagt. Wenn er sagt, er habe für das „Endziel des Sozialismus“ keinen Sinn, wohl aber Verständnis für das „Prinzip der allseitigen Durchführung des Genossenschaftswesens“, dabei jedoch immerhin in der Durchführung dieses Prinzips das „Ziel“ der Bewegung sehen möchte, weil sie sonst ohne „Richtung“ bleibt, aber nicht das „End“-Ziel, und zwar – wenn wir ihn recht verstanden haben – aus dem Grunde, weil die geschichtliche Entwicklung weder Anfang noch Ende kennt, und zum Schluss auch noch meint, die „Bewegung trage ihr Ziel in sich“ [1], – so sind das scholastische Spekulationen, die an und für sich nicht den geringsten politischen Wert haben, und was uns betrifft, so würden wir auch nicht einen Tropfen Tinte und nicht einen Augenblick Zeit verausgaben, um uns mit ihm deswegen auseinanderzusetzen. Aber so stehen die Dinge leider nicht. E. Bernstein schrieb nicht nur jene Worte vom „Endziel“, die er jetzt so gedeutet haben will, sondern einen ganzen Artikel, der sich mit den wichtigsten Fragen der praktischen Politik beschäftigte und sämtliche wissenschaftliche Grundlagen der bisherigen Parteitaktik einer Revision unterwarf, um zu einem verneinenden Resultat zu gelangen.

Nicht um die Aufarbeitung eines „Gesellschaftsplanes“ für die Zukunft handelt es sich, sondern um die soziale Revolution. Die ganze Politik der Partei beruhte bis jetzt darauf, dass sie die politische Macht in möglichst rascher Entwicklung erobern will, um mittels dieser Macht – die „Diktatur des Proletariats“ – die Kapitalisten zu expropriieren und durch die Übernahme dieser produktiv bereits vergesellschaflichten Betriebe in zielbewusste gesellschaftliche Verwaltung die Rechtsgrundalgen zu schaffen für die Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft, ebenso wie etwa, mutatis mutandis, die Ablösung der Feudallasten und Privilegien die Sicherung des Privateigentums und der Gewerbefreiheit die Grundlagen waren für die Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft. Dagegen wendete sich Bernstein mit aller Entschiedenheit. Er erklärte – wir müssen angesichts der nebulösen jetzigen Ausführungen Bernsteins daran erinnern – dass, wenn wir auch die politische Macht erobern sollten, doch jetzt noch immerhin die Abschaffung des Kapitalismus ein Ding der Unmöglichkeit sei, dass wir vor eine „unlösbare Aufgabe“ gestellt wären und eine „kolossale Niederlage“ erleiden müssten. Er suchte diese Kritik nicht durch leere Spekulationen, sondern durch wissenschaftliche Tatsachen zu begründen. Er führte die Statistik an, um zu beweisen, dass die Klassengegensätze, indem er auf die Entwicklung eines neuen Mittelstandes verwies, wobei er noch besonders die Bedeutung des kapitalistischen Kredits hervorhob. Und er wandte sich schließlich auf das Allerentschiedenste gegen die Theorie der großen kapitalistischen Handelskrisen, wobei er auch wörtlich seinen Gegensatz zu Marx und Engels hervorhob. Wären diese Prämissen richtig, so würde dadurch der gesamten Parteipolitik der Boden unter den Füßen entzogen worden sein. Was hätte es denn noch für einen Sinn, die Eroberung der politischen Macht zu erstreben, wenn sie uns nur zur „kolossalen Niederlage“ führt? Was hätte es für einen Sinn, den Kapitalismus zu bekämpfen, da wir es doch nicht anders machen können? Stattdessen müssten wir vielmehr die kapitalistische Entwicklung fördern, da sie, ungestört durch allgemeine Handelskrisen, schließlich zum allgemeinen Wohlstand führen muss! Wir hätten also unsere sozialrevolutionäre Einstellung aufzugeben, die bürgerliche Majorität der Parlamente anzuerkennen oder uns selbst mit ihr zu vermengen und unseren politischen Kampf darauf zu richten, was man so nennt: „Auswüchse“. E. Bernstein selbst zog auch folgerichtig die praktischen Konsequenzen seiner allgemeinen Auffassung, indem er, erstens, uns aufforderte, auf eine grundsätzliche Bekämpfung der Kolonialpolitik zu verzichten und unser Augenmerk auf die Brutalitäten und Ungerechtigkeiten zu richten, und indem er, zweitens, die englischen Maschinenbauer, die nach einem harten Kampfe unterlegen waren, mit Vorwürfen überhäufte, weshalb sie an die Unternehmer Forderungen stellten wie den Achtstundentag, welche diese aus Konkurrenzrücksichten nicht haben erfüllen können. Man sieht, das ist denn doch etwas anderes, als ein Wortstreit um das Endchen des „Endziels“!

Diese Erklärung zeigt mit trauriger Deutlichkeit die geistige Bernstein verhehlte sich in seinem Artikel in der Neuen Zeit durchaus nicht, dass er mit seiner Auffassung in Opposition tritt zu der allgemeinen Parteimeinung. Es überrascht uns und erweckt in uns ein peinliches Gefühl, dass er jetzt die Sache möglicht harmlos, als eine Art Missverständnis darzustellen sucht, als ob er sich nur vielleicht etwas ungeschickt ausgedrückt hätte. Trotzdem die Gedankenarbeit, welche Bernstein zu seinen jetzigen Schlussfolgerungen gebracht hat, in uns nur Mitleid erwecken kann, weil wir in ihr nicht nur keine großen Gesichtspunkte, sondern auch nicht den geringsten originellen Gedanken finden, so haben wir doch die größte Achtung vor der Aufrichtigkeit, mit der Bernstein bis jetzt seine Gedanken zum Ausdruck brachte, und wir verkennen durchaus nicht, dass ein Mut dazu gehört, derartige Ansichten, die gegen die allgemeine Meinung sich richten, in der Öffentlichkeit auf sich zu nehmen. Aber wer derartiges wagt, der muss auch konsequent bleiben. Was Bernstein unternimmt, und was er „Weiterführung des Sozialismus“ nennt – ist nichts anderes, als der Versuch, Marx und Engels in die Ehrenecke zu setzen, in der bereits die alten Utopisten sitzen, und an ihrer Stelle den von dem „Revolutionismus“ gesäuberten „wissenschaftlichen Sozialismus“ der Herren Professoren Sombart, Herkner und Julius Platter zu setzen! Jawohl, bis auf den Platter, diesen widerwärtigen Vulgär-Sozialisten, ist Bernstein heruntergekommen! Wenn man nun angesichts dieses Sachverhalts nicht in der gesamten Partei in ein Hohn- und Spottgelächter ausbrach, und auch der Schreiber dieser Zeilen sich die größte Gewalt antat und selbst den harmlosesten Schalk, der sich auf die Spitze seiner Feder drängte, am Rande des Tintenfasses abwischte, so geschah es aus Achtung vor dem Bernstein des Sozialdemokrat und vor der jetzigen Aufrichtigkeit Bernsteins. Darum muss er auch den Mut haben, den bitteren Kelch bis auf den Grund zu leeren. Weicht er zurück, so bricht er selbst sein bis jetzt aufrechterhaltenes Ansehen als Politiker und Schriftsteller in Scherben!

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Anmerkung

1. Da nach Bernstein selbst Ziel und Richtung zusammenhängen, so muss die Bewegung, welche ihr Ziel „in sich“ trägt, auch ihre Richtung „in sich“ tragen. Wie denkt sich Bernstein eine derartige Bewegung, die ihre eigene Richtung verschluckt hat? Der Gedanke trägt etwas vom Chaos der Urzeit an sich, mit unseren modernen physikalischen Begriffen ist er unvereinbar.


Zuletzt aktualisiert am 27. April 2024