Parvus (Aleksandr Helphand)

Staatsstreich und politischer Massenstreik



5. Der Staatsstreich, der Militarismus, die Agrarier

“Die Ironie der Weltgeschichte stellt alles auf den Kopf. Wir, die „Revolutionäre“, die „Umstürzler“, wir gedeihen weit besser bei den gesetzlichen Mitteln als bei den ungesetzlichen. Die Ordnungsparteien, wie sie sich nennen, gehen zugrunde an dem von ihnen selbst geschaffenen gesetzlichen Zustand. Und wenn wir nicht so wahnsinnig sind, ihnen zu Gefallen uns in den Straßenkampf treiben zu lassen, dann bleibt ihnen zuletzt nichts anderes übrig, als selbst diese ihnen so fatale Gesetzlichkeit zu durchbrechen.“
Friedrich Engels

Je schroffer und schärfer die Reaktion auftritt, desto mehr muss die parlamentarische Opposition wachsen. Ist nicht schon in diesem Umstand allein die Gewähr dafür gegeben, dass das reaktionäre Treiben beizeiten zusammenbrechen muss? Das wäre wohl so in einem demokratischen Staate, in dem die Regierung vom Parlament abhängig ist. Anders aber, wo die Regierung unabhängig genug ist, um auf Abenteuer ausgehen zu können. Gerät nun eine solche Regierung wirklich einmal auf die Bahn der Abenteuer, so schrickt sie schließlich auch davor nicht zurück, wenn sie die Gesetze auf verfassungsmäßigem Wege nicht ändern kann, auf ungesetzlichem Wege die Verfassung zu ändern. Met dem Säbel in der Hand zwingt sie der Volksvertretung eine neue Verfassung auf. Das ist der Staatsstreich.

Man hat der deutschen Regierung schon oft geraten, durch einen Gaunerstreich à la Napoleon III. ihren Willen durchzusetzen. Noch öfter hat man der Sozialdemokratie mit einem „Aderlass“ gedroht. Der Boden, dem diese hirnverbrannten Projekte entspringen, ist der Militarismus.

Die allgemeine Wehrpflicht und die ungeheure Entwicklung der Waffentechnik legen eine erschreckende militärische Macht in die Hände der Regierungen. So hat denn auch erst vor kurzem der jüngst verstorbene Friedrich Engels klar und überzeugend nachgewiesen, dass die Entwicklung der militärischen Technik und Organisation, verbunden mit den Fortschritten im Kommunikationswesen eine „Barrikadenrevolution“ zur Unmöglichkeit gemacht haben. Gestützt auf diese Sachlage entsteht unter den Reaktionären der Glaube, dass man mittels des Militärs alles vermag, dass das moderne stehende Heer die Stellung der Regierung unerschütterlich macht.

Im Bewusstsein dieser scheinbar uneinnehmbaren Position kann schließlich nur zu leicht in einer abenteuerlustigen Regierung der Glaube entstehen, alles wagen zu können, und dann wird sie ungeduldig und unduldsam werden gegen jede Opposition. Wenn nun die Entwicklung der Dinge sie vor die Alternative stellt, entweder nachzugeben oder Gewalt anzuwenden, so wird sie vor der Gewalt wohl nicht zurückschrecken.

Andererseits gibt es Interessentengruppen, denen der Gewaltstreich einer rücksichtslosen Regierung sehr erwünscht wäre, die zum Teil darauf planmäßig hinarbeiten.

Da sind zunächst die Agrarier. Diese kapitalistischen Großgrundbesitzer hatten bis in die siebziger Jahre und, unter dem Zollschutz, noch weit darüber hinaus enorm steigende Grundrenten, mit denen auch die Bodenpreise kolossal gestiegen sind. Daraufhin nahmen sie Hypotheken auf, gründeten Schnapsbrennereien und Zuckerfabriken, oder ließen sich in andere Spekulationen ein, nicht zum mindesten auf der Börse, oder sie verlebten das geliehene Geld in Saus und Braus. Da nun die Zeiten der sinkenden Getreidepreise gekommen sind und gleichzeitig in Schnaps und Zucker eine Überproduktion sich herausgebildet hat, so können sie selbstverständlich ihre Schulden nicht mehr bezahlen, die Zinsenlast drückt sie und sie klagen, sie seien ruiniert. Es hat sie aber nur das endliche Schicksal jedes Spekulanten ereilt. Sie sind Bankrotteure, die sich mitnichten von jeder fallierenden Bank unterscheiden; sie machen sich aber daraus eine Tugend, währenddem es anderen als Laster angerechnet wird.

Und nun heißt es: „Staat, hilf!“ Aber der Staat kann ihnen nicht helfen, sintemalen selbst die Getreidezölle auf die Dauer nicht wirken. Es sei denn, dass der Staat sie aus den Schulden (die viele Milliarden betragen) herauskauft und die Schuldscheine in die Papierstampfe wirft!

Sie wissen auch selbst keine Hilfe. Sie erdenken die abenteuerlichsten Pläne, einer unmöglicher als der andere, und für all das wollen sie den Staat engagieren. Ihren sämtlichen Plänen liegt am Ende der Gedanke des Staatsalmosens auf Kosten der Steuerzahler zugrunde. Sie besitzen aber nicht die Majorität im Reichstag und werden sie auch nie aus eigener Kraft bilden können, weil mit der Entwicklung der Industrie die Vertretung des Bürgertums, sowie die der Arbeiterklasse sich erweitern. Desto mehr wenden sie sich an die Regierung. Dazu kommt das traditionelle Band, das das preußische Junkertum mit der preußischen Monarchie verknüpft.

Sie tragen ihre Dienste zu jedem Zwecke der Regierung an – gegen Bezahlung. Kampf gegen wen man will: gegen die Sozialdemokratie, gegen die Katholiken, gegen die Polen, gegen die Franzosen. Aber es muss bezahlt werden! Ihre Vaterlandsliebe, ihre Kaisertreue tragen sie zu Markte und feilschen darum mit der Regierung weit mehr, als ein jüdischer Pferdehändler um einen alten Schimmel. Sie sind bereit, die deutsche Freiheit gebunden irgendeiner Regierung zu überliefert, sie zu meuchelmorden, zu schänden – für angemessenen Lohn. Aber wenn sie sich von der Regierung nicht genügend bezahlt glauben, schreien sie „Betrug!“, reißen der Monarchie die Rockschöße ab und bedrohen sie mit den Fäusten!

Sie geben sich als Stützen der Regierung aus, fordern aber dafür, dass die Regierung sie stütze. Sie schützen die Regierung gegen die bürgerliche Opposition, bedrohen aber von der anderen Seite selbst die Regierung, wenn sie ihren Wünschen nicht entspricht. So setzen sie die Regierung zwischen zwei Feuer, die sie entfachen: einmal indem sie die Regierung gegen die bürgerliche und proletarische Opposition hetzen, das andere Mal, indem sie die ihnen untergebenen Wählermassen gegen die Regierung hetzen.

Je mehr nun die Kluft zwischen der Regierung und der politischen Volksvertretung sich ausdehnt, desto willkommener ist das den Agrariern. Denn je mehr die Opposition wächst, desto mehr braucht die Regierung ihre Stütze. Man täusche sich dort nicht: wenn die Agrarier für die Beschränkung des allgemeinen Wahlrechts eintreten, so handelt es sich für sie, in deren ostpreußischen Provinzen die Arbeiterklasse sich kaum erst zu regen beginnt, viel weniger um die Sozialdemokratie, als darum, ein rücksichtsloses agrarisches Regime zu etablieren.

Die Agrarier sind für die Beschränkung der politischen Freiheit, weil sie darin das Unterpfand ihrer politischen Herrschaft erblicken. Sie wollen die politische Knechtung des Volkes, um den Staat als Werkzeug der fiskalischen Ausbeutung zu handhaben. Sie sind für den Staatsstreich, weil sie dadurch die Regierung in ihre Gewalt bekommen zu können glauben.
 

6. Die Furcht vor der sozialen Revolution

„An dem Tage, wo das Thermometer des allgemeinen Wahlrechts den Siedepunkt bei den Arbeitern anzeigt, wissen sie sowohl wie die Kapitalisten, woran sie sind.“
Friedrich Engels

„Es ist sehr gut gesagt, man solle die sozialen Übel beseitigen und dadurch der Sozialdemokratie den Boden abgraben. Gewiss muss man dies möglichst. Man wird das aber nie ganz können. Wenigstens weis keine Partei die nötigen Mittel hierfür anzugeben. Niemals wird man diese Partei befriedigen können. Niemals.“
General v. Boguslawski

Viel gefährlicher noch als die machiavellische Politik der Agrarier, kann sich unter Umständen ein anderer Faktor erweisen – die Furcht der Kapitalistenklasse vor der sozialen Revolution.

Die Kapitalistenklasse erwartet scheinbar von Tag zu Tag den Ausbruch einer gewaltsamen Revolution seitens des Proletariats – sollte nicht vielmehr das Proletariat Grund haben, einen Staatsstreich seitens der Kapitalistenklasse zu befürchten, wenn diese die Regierung in ihrer vollen Macht hat?

Gewiss – und das kann nicht oft genug wiederholt werden – wo, wie im Deutschen Reiche, die Verfassung der Arbeiterklasse die Möglichkeit gibt, auf gesetzgeberischem Wege ihre Ziele zu erreichen, da hat die Sozialdemokratie kein Interesse an einer gewaltsamen Änderung der Verfassung mittels einer Revolution. Sie hat vielmehr allen Grund, einen solchen Konflikt zu vermeiden, weil im revolutionären Kampfe die meisten Opfer jedenfalls auf seiten des Proletariats fallen würden und weil ein solcher ein sehr riskantes Unternehmen ist, dessen Misserfolg die Reaktion ungemein stärken und die Arbeiterbewegung auf Jahre hinaus zurückschleudern würde. Weshalb soll sie diesen gefährlichen Weg betreten, wenn ihr der durch die Gesetzlichkeit vollkommen gesicherte offen steht?

Aber je weniger die Sozialdemokratie, desto mehr Grund hat die Kapitalistenklasse, wenn es nicht anders geht, mit Gewalt die Staatsverfassung zu ändern. Je erfolgreicher die Sozialdemokratie sich des allgemeinen Stimmrechts bedient, desto verhängnisvoller wird es für die Kapitalistenklasse.

Je weiter der Klassenkampf fortschreitet, desto klarer wird es für jedermann, dass es sich dabei um die Existenz selbst des Kapitals handelt. Das wusste ja der wissenschaftliche Sozialismus von Anfang an und machte nie ein Hehl daraus. Wenn er dem Kapital zur Nachgiebigkeit, zur Beschreitung des Weges der sozialen Reformen rät, was anders erstrebt er damit, als ihm einen milden Tod zu verschaffen? Aber sterben muss es.

Glaubt man denn, dass das Kapital sich ruhig diesem verhängnisvollen Schicksal ergeben wird? Das spräche gegen jede geschichtliche Erfahrung und gegen jede politische Erkenntnis. Noch nie hat eine Gesellschaftsklasse freiwillig auf ihre Existenz verzichtet.

Und nun vollends im proletarischen Klassenkampf! Nicht mehr um politische Privilegien handelt es sich, die die Kapitalistenklasse etwa einzubüßen hätte, sondern um die wirtschaftliche Grundlage ihres gesellschaftlichen Daseins. Die Sozialdemokratie erstrebt die Expropriation der Expropriateure. Glaubt man, dass sich die Fabrikanten, Kaufleute und Großgrundbesitzer, kurz die Kapitalisten, deren Privateigentum an den Produktionsmitteln in gesellschaftliches verwandelt werden soll, die dadurch ihre ganze ungeheure ökonomische Machtstellung einbüßen müssen, glaubt man, dass sie sich das widerstandslos gefallen lassen? O nein, sie werden kämpfen mit allen ihnen nur irgendwie zugänglichen Mitteln und vor nichts zurückschrecken!

Wenn das Proletariat den entscheidenden Kampf kämpft, weil es nichts zu verlieren und eine Welt zu gewinnen hat, so die Kapitalistenklasse, weil sie eine Welt zu verlieren und weniges nur zu gewinnen hat.

Darum, wenn auf gesetzlichem Wege der vollständige Sieg des Proletariats möglich ist, so wird die Kapitalistenklasse wenigstens entscheidenden Moment ihm diesen Weg mit bewaffneter Macht abzuschneiden suchen.

Aber man braucht nicht einmal so weit zu denken. Schon jetzt, je schneller, desto besser, möchten die Hohepriester des Kapitals unter dem Proletariat ein Blutbad anrichten. Dadurch soll der Arbeiter klasse ein Schrecken eingejagt werden, der sie vor energischem politischem Auftreten zurückhält.

Wie ist es nun: Ist es tatsächlich bloß die Großmut der Regierung, die sie davor zurückhält, mit Mord und Schrecken unter die Arbeitermassen zu treten? Oder liegen vielleicht die Sachen doch nicht so einfach? Hat nicht auch die Regierung etwas bei dem Spiel zu verlieren? Liegt es bloß in der Hand der Regierung, ob der politische Charakter des Landes dieser oder jener sein wird? Wenn die Regierung sich auf die Waffen stützt, auf was soll sich das Volk stützen? Wenn es dazu käme, dass die Regierung mit bewaffneter Hand das Volk angreift, wie könnte sich das Volk verteidigen? Wenn die Regierung dem Volke die verbrieften Rechte rauben wollte, wie könnte es sich des Raubens erwehren? Gibt es nichts, das man dem Staatsstreich entgegensetzen könnte? Ist der Schutz der Verfassung gegen Hochverrat, wenn dieser sich auf Flinten und gezogene Kanonen stützt, so ganz aussichtslos? Oder gibt es noch immerhin Bedingungen, unter denen er gelingen kann? Welche sind es dann? Und wie sollte der Kampf geführt werden? Das sind Fragen von großer politischer Tragweite. Wir wollen versuchen, sie zu beantworten.
 

7. Die Barrikadenrevolution

„Die Kampfweise von 1848 ist heute in jeder Beziehung veraltet“
Friedrich Engels

Was einer hochverräterischen Regierung die Zuversicht geben könnte, ihr verbrecherisches Vorhaben auszuführen, ist, wie schon erwähnt, die Annahme, das Volk sei nicht imstande, sich dagegen zu wehren. Aber man denkt dabei an eine Abwehr nur im Sinne des Straßenkampfes mit dem Militär, des Barrikadenkampfes. Dieser wäre unter den modernen strategischen Verhältnissen allerdings ein Wahnwitz. Es stehen jedoch dem Volke noch andere Mittel des Widerstandes gegen eine Vergewaltigung der Verfassung zu Gebote, die zwar nicht den gewaltsamen Charakter des Barrikadenkampfes tragen, dennoch aber nicht weniger wirksam sind. Bevor wir nun die Verteidigungsmittel des Volkes einer Durchsicht unterziehen, wollen wir noch einen kurzen Blick werfen auf die Barrikadenrevolution, um dadurch eine Vorstellung zu gewinnen von den bei einem Konflikt zwischen Volk und Regierung im allgemeinen zur Geltung kommenden Kräften und Wirkungen.

Wie bei einem Staatsstreich, so handelte es sich auch bei einer gewaltsamen politischen Revolution stets um eine gewaltsame Änderung der Verfassung. Nur dass es im ersten Fall die Regierung war, die mit militärischer Macht dem Volke die Änderung aufzwang, im anderen Fall aber war es das Volk, das eine stattgehabte politische Vergewaltigung oder Unterjochung mit Gewalt beseitigte.

In einem demokratischen Staat sind Staatsstreich wie gewaltsame politische Revolution für alle Zeiten ausgeschlossen. Denn ersterer setzt bereits voraus, dass die Regierung als unabhängige Macht der Volksvertretung gegenüber auftreten kann, dass sie eine genügend weite Verfügung über die bewaffnete Macht besitzt, und die zweite setzt voraus, dass eine große Gesellschaftsklasse keine ausreichenden verfassungsmäßigen Mittel hat, ihre Interessen zur politischen Geltung zu bringen.

Darum, wenn die verschiedenen politischen Strömungen der Gesellschaft frei und gleichmäßig in der Öffentlichkeit und im Parlament zum Ausdruck kommen könnten, dann gäbe es nur parlamentarische Konflikte. Wenn unter solchen Verhältnissen eine Partei nicht stark genug wäre, um im Parlament den erwünschten politischen Druck auszuüben, so könnte sie es auch auf offener Straße nicht tun. Hätte aber, unter diesen Voraussetzungen, eine Partei die Volksmajorität hinter sich, so müsste sie auch die Majorität im Parlament, folglich die Klinke der Gesetzgebung in ihrer Hand haben.

Wenn aber große Volksmassen, die ein ernstes politisches Interesse zu vertreten hatten, von der politischen Betätigung, vor allem vom Wahlrecht ausgeschlossen waren, dann sammelte sich naturmäßig jener politische Gärungsstoff an, der schließlich zum gewaltsamen Ausbruch führte. Denn die gewaltsame politische Revolution war nie etwas Zufälliges und Plötzliches, wenn sie auch als Überraschung erschien. Sie bereitete sich allmählich und gesetzmäßig vor und musste deshalb, unter gegebenen Bedingungen, mit Notwendigkeit eintreten.

Es stieg und verbreitete sich die Erbitterung der politisch unterdrückten Volksmassen, die auf alle nur irgendwie möglichen Weisen zum Ausdruck zu kommen suchte, bis die höchste Steigerung des Volksunwillens sich den höchsten gewaltsamen Durchbruch schuf. Es traten politische Kundgebungen ein, die in aufsteigender Linie von der Verminderung der „Gesetzlichkeit“ bis zu jenem, von der Bourgeoisie selbst verherrlichten „ew‘gen“ Revolutionsrecht führten, das, nach Schiller, „unveräußerlich und unzerbrechlich, wie die Sterne selbst“ am Himmel hängt. Das Kleinfeuer der Zeitungen: Bespötteln, Bewitzeln, Beschimpfen, Nadelstiche, Keulenschläge, Kritisieren, Argumentieren, Moralisieren, Drohungen, Versammlungsbeschlüsse Petitionen, Protesterklärungen, Demonstrationen, Straßenumzüge, Murren, Schreien, Ungeduldigwerden der Volksmengen, „Zusammenrottungen“ – Revolution! Die Skala brauchte nicht nacheinander und in allen Einzelheiten durchgegangen zu werden, vielmehr hing die Art des politischen Ausdrucks von der vorhandenen politischen Möglichkeit ab. Der Prozess konnte auch, wenn in der Erscheinungsform verhindert, latent vor sich gehen, bis endlich mit einem Mal alles in einem sich überstürzenden Durcheinander zum Ausdruck kam.

Alle soeben gekennzeichneten Vorgänge hatten nun zum gemeinsamen Zweck, die politischen Machthaber zu beeinflussen, einzuschüchtern, zu verwirren, bloßzustellen, verächtlich, verhasst zu machen, schließlich die Regierung als den höchsten Ausdruck der hinderlichen Staatsgewalt zu stürzen bzw. zu ändern, ein Prozess, der selbst mannigfache Abstufungen zulässt, vom Kabinettswechsel bis zur Einsetzung einer revolutionären provisorischen Regierung.

Bei der Schilderung des Verlaufs der eigentlichen Barrikadenrevolution muss vorausgeschickt werden, dass ihr fast ausschließliches Gebiet die Hauptstadt war und deshalb nur hier ihr vollständiger Lebenslauf verfolgt werden kann.

Die Barrikadenrevolution wie sie die Geschichte aufweist, erscheint uns vor allem als der Abschluss der geschilderten Entwicklungsreihe politischer Äußerungen und zugleich ihre Vereinigung und höchste Kraft- und Wirkungssteigerung. Aber sie war mehr als das. Sie war die gesellschaftliche Desorganisation. Die Fabriken, Werkstätten, Wohnhäuser leerten sich, die Straßen und Plätze wurden überfüllt. Die Läden wurden geschlossen. Die Produktionstätigkeit, der Handel den Verkehr stocken. Die vielen tausend Fäden des gesellschaftlichen Puppenspiels wurden auf einen Augenblick gelöst. Und mit der Alltagsbeschäftigung verschwand auch der moralische Alltagsdusel. Die Bequemlichkeit hörte auf, die Lässigkeit wirkte nicht mehr, die Tradition war vergessen, der Schlendrian gebrochen, die kleinlichen Lebenssorgen wurden zurückgestellt und nur eins beseelte die schiebende, drängende, flutende, wogende Menge – das politische Interesse. Im aufgeregten Menschenchaos löste sich der Einzelwille auf und zur Geltung kamen die Gesetze der Massenbewegungen. Politisierende Menschenhaufen bildeten sich an den Straßenecken. Es waren die Nervenknoten der zu einem großen Ungetüm verschmolzenen Volksmenge auf offener Straße, die Sensitivitätsknäuel, die in zitternder Hast Eindrücke, Nachrichten, Gerüchte, Gedanken, Worte, Stimmungen weitertrugen, erzeugten, aufbauschten, im Fluss erhielten. Die Unsicherheit, das Ungewöhnliche, Perverse der Situation, die nervöse Spannung, die Konzentration des Interesses auf einen Punkt, das nahe Beisammensein in großer Volkszahl steigerten das Fassungsvermögen, schafften gleichsam anstelle der gewöhnlichen geistigen Empfänglichkeit einen verfeinerten, potenzierten, revolutionären Massenintellekt. Deshalb das schnelle Umsichgreifen eines revolutionären Aufstandes – notabene, wenn er zur richtigen Zeit kam.

Der Staat wurde in den allgemeinen Trubel hineingerissen. Die Regierungsmaschinerie klappte vorzüglich, solange der gesamte gesellschaftliche Mechanismus ungestört funktionierte. Solange die Arbeiter tagsüber in den Fabriken, nachts in den Mietskasernen eingesperrt waren, die Straßen für den Tag Polizisten, Geschäftsleuten, Packträgern, Modedamen, Fuhrwerken, für den Abend Prostituierten, Gaunern, Dieben, dem Theater- und Konzertpublikum, den Ballbesuchern und den Einbrechern überlassen wurden, solange jeder seinem bürgerlichen Lebensberuf nachging: die Arbeiter frohndeten, die Fabrikanten in den weichen Kontorsesseln schlummerten, die Kaufleute hinter den Ladentischen standen, die Diebe stahlen, die Richter richteten, die Fürsten jagten – herrschte „heilige Ordnung“, vorausgesetzt, dass der gesellschaftliche Reinigungsprozess von den Straßenkehrern, Polizisten, Abdeckern, Leichenbestellern ordentlich besorgt wurde. Als aber die Berufstätigkeit aufhörte, der korrekte Geschäftsmann ebenso wie der Gauner und Schwindler außer Erwerb gesetzt wurde, wenn ernste Volksmengen sich in den Straßen bewegten und auf den Hausmauern Inschriften erschienen: „Tod den Dieben“ – dann ergriff die Regierungsorgane vom Schutzmann bis zum König eine bange Besorgnis, eine herzbeklemmende Unsicherheit, eine scheue Ratlosigkeit. Gaben sie sich früher für die Beschützer des Volkes aus, so erschienen sie jetzt schutzbedürftig gegenüber dem Volk. Denn gegen sie richtete sich der lang verhaltene Zorn des aus seiner gewaltigen Ruhe aufgerüttelten Volkes. Vor allem aber ging das Bestreben der Regierung dahin, die Ordnung wieder herzustellen, d. h. das Volk mit Gewalt zu veranlassen, die einzelnen Stellungen in der gesellschaftlichen Tretmühle wieder einzunehmen, es mit Gewalt in den gewohnten Schlendrian hineinzuzwängen. Allein die Polizei verschwand im Menschenstrom und wurde machtlos. So blieb die einzige Zuversicht – das Militär.

Die Aufgabe, die dem Militär zufiel, war die, das Volk aus den Straßen zu verjagen, es zu Paaren zu treiben, um dadurch die Zauberkräfte der Zusammenrottungen zu zerstören, in der Erwartung, dass die auseinandergesprengte Menge, ohne Zusammenhang untereinander, entmutigt würde und ihre aufgelösten Einzelglieder, auf sich selbst gestellt, den moralischen Halt verlören, nachgäben und wieder ins Joch kröchen, um im ausgetretenen Geleise fortzutraben. Dem widersetzte sich das Volk. So entstanden die Barrikaden.

Die Bedeutung der Barrikade ist nach zwei Richtungen hin zu betrachten. Erstens war sie ein Sammelpunkt und Organisationsmittel. Gerade wo es sich um eine von vornherein unorganisierte Masse handelte, wie das bei den geschichtlich bekannten gewaltsamen Revolutionen stets der Fall war, war dieser Punkt sehr wichtig. Die Massenversammlungen bekamen dadurch ein Ziel und ein Bindemittel. Besonders wirksam zeigte sich das bei den durch ihre Berufstätigkeit voneinander getrennten, aber doch im beschränkten Raum der Straße, des Stadtviertels in sehr ansehnlicher Zahl vorhandenen Kleinhändlern, Handwerkern, Hausindustriellen usw. Durch den Barrikadenbau werden diese Leute aus den Budiken, Werkstätten, Hinterhäusern herausgelockt und vereinigt. Für alle vollends war die Barrikade die Proklamation, die öffentliche Kund- und Geltendmachung der Revolution, das aufgehisste Banner, um die revolutionären Kräfte zu sammeln. Man bedenke, wie zahlreich noch 1848 das Kleinbürgertum und das Handwerkertum waren, wie unorganisiert die Arbeiterklasse selbst, um die Wichtigkeit dieses Moments zu begreifen. Deshalb zeigt jede Revolution zunächst eine aufsteigende Bewegung. Sie brauchte Zeit, um sich zu entfalten. Und solange diese Ausdehnungsfähigkeit anhielt, war der Sieg auf seiten des Volkes. Mit Recht verweist Engels darauf, dass der Sieg des Volkes in Berlin 1848 unter anderem dem starken Zufluss neuer Streitkräfte während der Nacht und des Morgens vom 19. März zuzuschreiben ist.

Zweitens war die Barrikade eine Schutzwehr: Deckung auf seiten des Volkes und Hindernis auf seiten des Militärs. Die Macht dieser Hemmung auf das Militär lag nun nicht nur in ihrer materiellen, sondern mehr noch in ihrer moralischen Wirkung. Der Marsch der Truppen wurde aufgehalten, dadurch entstand Unordnung in den Reihen, die stramme Spannung des sich militärisch bewegenden Zuges ließ nach, Zeit verstrich, die Soldaten, durch Gewohnheit, militärischen Drill zusammengehalten, durch den Trommelschlag betäubt, durch den gemeinsamen Kolonnenmarsch hingerissen, bekamen Gelegenheit, sich umzusehen, nachzudenken, sich Rechenschaft abzulegen von ihren Handlungen. Und da es nicht einen Kampf im offenen Felde gegen einen fremden Feind galt, sondern einen Angriff im engen Raum der Straße unter den Augen der Bevölkerung auf das Volk, mit dem die Soldaten gestern erst friedlich verkehrten und dem sie selbst entstammten, so bemächtigte sich eine Energielosigkeit, eine Unlust, eine Verwirrung der Truppen, sie wurden „demoralisiert“, und das desto mehr, je mehr Sympathien sie von vornherein dem Aufstande entgegenbrachten. Es ist bekannt, dass man deshalb bei revolutionären Kämpfen die mangelnde Begeisterung der Soldaten durch reichliche Branntweinrationen zu ersetzen pflegte. Im Schnapsrausch lag also in letzter Linie das Heil des Staats.

Sammlung, Organisation, revolutionäre Begeisterung des Volkes auf der einen Seite, Desorganisation und Demoralisation des Militärs auf der anderen, darin lag das Wesen der Barrikaden, der eigentliche Kampf war dann nur der Kraftmesser beider Faktoren in ihrer gemeinsamen Wirkung. So sagt unser zu früh verstorbener Revolutionskämpfer und -theoretiker Engels: „Machen wir uns keine Illusion darüber: ein wirklicher Sieg des Aufstandes über das Militär im Straßenkampf, ein Sieg wie zwischen zwei Armeen, gehört zu den größten Seltenheiten. Darauf hatten aber die Insurgenten es auch ebenso selten angelegt. Es handelte sich für sie nur darum, die Truppen mürbe zu machen durch moralische Einflüsse, die beim Kampf zwischen den Armeen zweier kriegführender Länder gar nicht oder doch in weit geringerem Grade ins Spiel kommen. Gelingt das, so versagt die Truppe, oder die Befehlshaber verlieren den Kopf und der Aufstand siegt. ... Selbst in der klassischen Zeit der Straßenkämpfe wirkte also die Barrikade mehr moralisch als materiell. Sie war ein Mittel, die Festigkeit des Militärs zu erschüttern. Hielt sie vor, bis dies gelang, so war der Sieg erreicht; wo nicht, war man geschlagen.“

Aus diesen Betrachtungen ergibt sich:

  1. Da selbst in den vierziger Jahren das taktische Übergewicht bei einem Straßenkampf auf seiten des Militärs war, so wäre es blinde Tollheit, bei der äußerst verfeinerten Waffentechnik unserer Zeit, etwa einen gewaltsamen Widerstand gegen das Militär wagen zu wollen.
     
  2. Andererseits bestand das Wesen der politischen Revolution keineswegs bloß aus dem Barrikadenkampf, sondern sie hatte noch andere Äußerungen, die zusammen als Desorganisation der Gesellschaft bezeichnet werden könnten. Die Frage drängt sich auf, ob nicht etwa der Staatsstreich auch eine allgemeine Desorganisation zur Folge haben würde und inwiefern sich diese wirksam erweisen könnte?
     
  3. Ob das Militär sich zu den gesetz- und verfassungswidrigen Handlungen des Staatsstreichs verleiten lassen würde, hängt offenbar stets von dessen Stimmung ab und den moralischen Einflüssen, denen es unterworfen werden kann.
     

8. Die allgemeine Wehrpflicht

Sämtliche Armeen des europäischen Festlandes beruhen nunmehr auf der allgemeinen Wehrpflicht. Das berufsmäßige Militär ist auf den Unteroffiziers- und Offiziersstand beschränkt. Für den Soldaten ist das Militärwesen kein Beruf, kein Handwerk mehr. Er findet darin nicht seine wirtschaftliche Lebensstellung. Darum ist jetzt das Heer keine besondere Gesellschaftsklasse wenn man darunter eine Gesellschaftsschicht mit gemeinsamem wirtschaftlichem Sonderinteresse versteht. Der Soldat hat kein anderes ökonomisches Interesse, als der Bauer oder Arbeiter, und darum auch kein anderes politisches Interesse. Was diese trifft, trifft schließlich auch ihn.

Der Militärdienst ist zur Bürgerpflicht geworden. Es ist daher nur die künstliche Isolierung des Heeres, die es vorn Volke trennt. Aber es lässt sich durch keine künstlichen Mittel beseitigen, dass der Soldat mit seinen Erinnerungen und seinen Hoffnungen, seiner Vergangenheit und seiner Zukunft dem Volke anhängt.

Nur noch dort, wo das politische Leben im Volke selbst sehr schwach ist, kann der Soldat zur willenlosen Maschine gemacht werden. Je reger das politische Leben, in je weitere Kreise es dringt, desto weniger kommt der junge Mann zum Militär als „unbeschriebenes Blatt“. Die Rekruten bringen die politischen Stimmungen und politischen Meinungen, die im Volke herrschen, mit in das Heer. Nicht nur, dass sie dadurch von vornherein politisch gekennzeichnet sind, so hängt noch überdies die moralische Einwirkung des Militärdienstes sehr wesentlich von ihrer politischen Gesinnung ab.

Es gibt Zeiten, wo das Militär in den Augen des Volkes mit einem Glorienschein umgeben wird und die Militärpflicht als Ehrenpflicht erscheint. Dann zieht die Jugend mit Begeisterung in den Dienst und erträgt freudig alle Strapazen und Mühseligkeiten. Aber in anderen Zeiten, wenn das Militärwesen vom Volke als schwerbedrückende Last empfunden wird, wenn der Schleier einer Volksinstitution dem Militär rücksichtslos entzogen wird, wenn vielleicht noch Versuche gemacht werden, das Militär planmäßig und offenkundig gegen das Volk zu hetzen, dann bringt das Volk Groll, Erbitterung, womöglich Hass dem Militärdienst entgegen, dann betritt der junge Mann auch mit ganz anderen Gefühlen die Kaserne, da steht er von vornherein kritisch und misstrauisch dem Dienste gegenüber, den er als unnütze, ja schädliche Zeitvergeudung betrachtet, da tritt anstelle der Begeisterung Unmut und anstelle des Diensteifers durch die Furcht vor Strafe aufgenötigter Gehorsam, hinter dem Unzufriedenheit, verbissener Groll, mit Mühe zurückgehaltener Trotz sich bergen. Unter solchen Verhältnissen können alle Maßnahmen der Militärbehörden nur ein Ergebnis erzielen: Steigerung des Unmuts. Wird die Behandlung gemildert, dann greift die Kritik desto ungezwungener um sich, wird sie aber härter, so erscheint sie als Unbill und verwandelt Unzufriedenheit in Hass. Wird die ganze Zeit des Soldaten durch den Dienst in Anspruch genommen, dann kommt er sich vor, wie der Ochse im Pfluge oder der Zuchthäusler, der an den Karren geschmiedet ist; bekommt er viel freie Zeit, dann hat er erst recht Gelegenheit, sich dem Staate, resp. dem Militärwesen feindseligen Gedanken hinzugeben.

Eine eigentümliche Beleuchtung erhält von letzterem Gesichtspunkt aus der Paradedrill. Sonst zwecklos, könnte seine Bedeutung vielleicht darin liegen, die Muße der Soldaten auszufüllen, ihn zu beschäftigen, seine Aufmerksamkeit stets gebannt zu halten. Aber auch dies schlüge unter den angegebenen Verhältnissen fehl. Einem skeptischen und missgestimmten Geist müsste der Paradedrill als Herabdrückung des Militärdienstes zu einem Puppenspiel, aber einem Spiel voll Schinderei und Plackerei, erscheinen.

Der Gegensatz zwischen militärischer Erziehung und politischer Einwirkung kann sich so weit entwickeln, dass es den Militärbehörden selbst, abgesehen von finanziellen Gründen, schon deshalb allein ratsam erscheint, die Dienstzeit zu verkürzen. Die Soldaten, die den Dienst bereits kennen und doch aus der Kaserne nicht heraus können, sind die schlimmsten Nörgler. Das Verlockende, das etwa das Militär für den Bauern oder Arbeiter hatte, haben sie längst durchgekostet. Der Reiz der Neuheit hat sich verflüchtigt, die neuen Verhältnisse, das sonderbare, eigenartige Soldatenleben, alles, was dem jungen Rekruten so sehr imponierte und seinen Geist in Spannung hielt, überrascht sie nicht mehr. Dagegen ist geblieben die militärische Einförmigkeit, die die Tage einander gleich sein lässt, wie die Knöpfe auf der Uniform, ein auf gezwungenes, zweckloses Dasein von einem ewigen Einerlei. Der Dienst, der nicht mehr erlernt zu werden braucht, wird langweilig, bleibt aber doch beschwerlich. Und neben dieser aufreibenden Zeitvergeudung die brennende Sorge um eine unsichere Zukunft. Dazu kommt, dass der alte Soldat auch dem militärischen Verwaltungsapparat persönlich viel näher gerückt ist. Er kennt die Eigenheiten und Schwächen seiner Vorgesetzten vom Feldwebel bis mindestens zum Major. Der Zauber ist verflogen und das Räderwerk des militärischen Mechanismus liegt klar, mit den Händen greifbar, vor seinen Augen. Man sieht, diese alten Soldaten bilden eine sehr staatsgefährliche Menschenklasse!

Aber je entwickelter das politische Leben, desto politisch reger und empfänglicher, auch intelligenter das Rekrutenmaterial, desto leichter erwirbt sich der Rekrut die militärische, bzw. soldatische Erkenntnis. Nichts kennzeichnet vielleicht besser den erreichten Grad der politischen Entwicklung in Deutschland, als der Umstand, dass eine fünfjährige aktive Dienstzeit, wie sie früher bestand, jetzt auch politisch gar nicht mehr denkbar ist. Noch einige Jahre, und auch die Rückkehr zur dreijährigen Dienstzeit wird eine politische Unmöglichkeit werden. Aber je mehr die Dienstzeit verkürzt wird, desto größer in der Armee das Übergewicht der frisch dem Volke entzogenen Elemente, desto enger überhaupt der Zusammenhang zwischen Soldat und Arbeiter, resp. Bauer. Mit der Verkürzung der Dienstzeit nähert man sich immer mehr der Volksmiliz, die die logische Konsequenz der allgemeinen Wehrpflicht ist.

So bedürfte es denn, eine allgemeine, tiefgehende politische Unzufriedenheit am Volke vorausgesetzt, gar keiner Propaganda unter dem Militär, um es oppositionell zu stimmen. Ja, wenn es dazu keine anderen Mittel gäbe, als etwa die Verbreitung von Flugblättern in der Kaserne – dann würden die Militärbehörden damit stets mit der größten Leichtigkeit fertig. Aber wenn beim Militär sonst alles nach Wunsch geht, dann braucht man solche Flugblätter gar nicht zu fürchten, denn sie hätten keine Wirkung auf die Soldaten. Dass man jetzt vor jedem hinübergewehten Blättchen ängstlich zurückschaudert, das ist sehr auffallend. Das lässt vermuten, dass eine Missstimmung im Heere herrscht, die nach jeder oppositionellen Kundgebung gierig horcht. Und eine solche Missstimmung wäre dann bloß der Reflex der allgemeinen oppositionellen Stimmung im Lande – dann wären es aber die Militärbehörden selbst, dann wäre es das ganze Militärwesen, das die fürchterlichste und fruchtbarste revolutionäre Propaganda betriebe. Dann müssten die Militärbehörden bei sich selbst anfangen, wenn sie die Revolutionäre ausrotten wollten.

Unter diesen Umständen könnte keine Umsturzvorlage helfen (und unter anderen wäre sie unnötig). Selbst wenn man das Militär gänzlich von der Außenwelt isolierte, so würde man dadurch bloß die Gärung im Inneren der Kaserne um so mehr steigern und die Unzufriedenheit in offenen Aufruhr verwandeln. Und je sorgfältiger man das Militär vor dem revolutionären Gift zu bewahren suchte, desto mehr würde man es selbst damit infizieren. Wenn man z. B. den Soldaten peinlich darauf überwacht, dass er nicht auch nur in die geringste Berührung mit Sozialdemokraten kommt – wird denn nicht dadurch seine Aufmerksamkeit erst recht auf die Sozialdemokratie gelenkt? Aber das war ja gerade stets die größte Schwierigkeit für die sozialistische Propaganda, die Aufmerksamkeit und das Interesse auf sich zu lenken, die stumpfe Gleichgültigkeit der Massen zu durchbrechen. Ist dies einmal gelungen, dann greift das sozialistische „Gift“ wie Blausäure mit reißender Schnelligkeit um sich. So wird auch der Soldat, wenn seine Aufmerksamkeit einmal geweckt ist, nachdenklich und beobachtend, findet schnell Kameraden, die mehr oder anderes wissen, und schließlich bildet die Kasernenstube ebensogut ihre Sozialdemokraten heraus wie die Fabrik.

Was hat nicht nach dieser Richtung hin allein die Umsturzvorlage geleistet, zumal bei der spaßhaften Stimmenbegleitung, die ihr der Kriegsminister v. Schellendorf gab! Oder glaubt man, die Umsturzkomödie, die beinahe ein Jahr lang die Politik beherrschte und die Öffentlichkeit erfasste, sei den Soldaten so ganz unbekannt geblieben? Die Missstimmung erregende Wirkung der Umsturzverhandlungen war größer als sämtliche Flugblätter hätten zustande bringen können, deren Eindringen in die Kaserne durch die Annahme der Umsturzvorlage etwa bis zum Ausgang dieses Jahrhunderts und noch auf ein Dezennium darüber hinaus verhütet worden wäre.

Das ist also der fatale Widerspruch, der sich auf der Grundlage einer demokratischen Verfassung und der allgemeinen Wehrpflicht für eine staatsstreichlustige Regierung herausbildet: je schroffer und je länger sie sich auf das Militär dem Volke gegenüber stützt, desto mehr kehrt sie das Militär gegen sich. Während die Ansprüche an dasselbe wachsen, wird seine Stützung immer weniger zuverlässig. Wollte man das Militär planmäßig für den Staatsstreich vorbereiten, so hätte man es schließlich zu allem anderen eher als zum Staatsstreich fertig.
 

9. Die Disziplin

Es ist gesagt worden: Wenn wir einmal die Köpfe der Soldaten für uns gewonnen haben, dann haben wir auch die Bajonette. Dieser spekulativ richtige Satz darf in der Praxis nur mit äußerster Vorsicht gebraucht werden.

Schon die Gewinnung der „Köpfe“ ist eine recht eigene Sache. Wir dürfen uns darüber nicht täuschen, dass das Maß der Erkenntnis, die dem Volke innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft beigebracht werden kann, ein sehr beschränktes ist. Schwere Arbeit und bittere Not sind starke Gewalten, die den Geist unterdrücken.

Der Proletarier, der nach einem langen Arbeitstag abgespannt und todmüde nach Hause kommt und im engen Zimmer, ausgefüllt mit Tisch und Betten, in dem die ganze Familie, vielleicht, noch ein oder mehrere Schlafgänger zusammengepfercht sind, kaum Raum und Licht genug findet zum Lesen, der überdies auch von Frau und Kindern und den häuslichen Angelegenheiten in Anspruch genommen wird, wo soll der die Musse und die Möglichkeit finden, sich eine gründliche, wenn auch nur politische Einsicht zu verschaffen? Die Proletarier, die von der Politik, auch Wissenschaft oder Kunst, so leidenschaftlich erfasst werden, dass sie, mit Hintansetzung aller übrigen Lebensinteressen und ihrer Gesundheit, alle Hindernisse überwinden, gehören und müssen zu den größten Seltenheiten gehören. Die Menschheit im großen wird stets suchen, dem Leben, wie es sich einmal darbietet, einen positiven Gehalt abzugewinnen und sich erst in zweiter Linie Reflexionen und der Kritik ergeben.

Wenn nun erfahrungsgemäß die sozialdemokratische Propaganda ungemein schnell in den Proletariermassen um sich greift, so beweist das allein schon, dass es sich dabei mehr um Stimmungen, als um Überzeugungen handelt. Die sozialrevolutionäre Stimmung des Proletariats ist aber durchaus keine zufällige und schnell vorübergehende, denn sie ist das notwendige Produkt der herrschenden ökonomischen Verhältnisse, der kapitalistischen Ausbeutung. Darin liegt die Kraft der Sozialdemokratie, die nur mit der kapitalistischen Gesellschaft zu entwurzeln ist.

Auch beim Militär könnte deshalb jedenfalls nur von einer oppositionellen Stimmung die Rede sein. Wo wir sie finden, ist sie stets, wie bereits auseinandergesetzt, das Produkt der allgemeinen politischen Stimmung im Volke, wird aber, einmal vorhanden, durch den Militärdienst nicht unterdrückt, eher noch mehr entfacht. Dafür aber stehen der Militärverwaltung gewaltige Mittel zu Gebote, das Heer, trotz seiner etwaigen oppositionellen Stimmung, so zu handhaben, wie es ihr beliebt. Drei Mächte sind es, auf die sie sich stützt: die militärische Organisation, die militärische Disziplin und die militärische Führung.

Die durch eine jahrhundertelange Erfahrung herausgebildete militärische Organisation beruht, wie jede Organisation zur Massenbeherrschung, zunächst darauf, dass die Menge in einzelne Teile zergliedert wird, von denen jeder eine unter besonderen Befehl gestellte Gruppe bildet. Der dadurch aufgelöste lebendige Zusammenhang der Volksmenge wird ersetzt durch die Einheitlichkeit der Verwaltung. Die Masse wird gleichsam in feste, eng zusammengeschlossene Formen hineingezwängt, über die sich pyramidenartig die eiserne Konstruktion des militärischen Regierungsmechanismus aufbaut, dessen Räderwerk die getrennte, aber doch fest zusammengehaltene Menge zur Bewegung nötigt.

Die einzelne Truppenabteilung fühlt sich deshalb bloß als willenloses Glied der Gesamtorganisation, die von einer höheren Macht geleitet wird. Dagegen tritt die Militärverwaltung jeder Truppenabteilung und jedem einzelnen Soldaten stets als Gesamtheit gegenüber, als einheitliche, feingegliederte, umfangreiche, überall anwesende, allwissende Regierungsgewalt, ausgerüstet mit allen Attributen der Herrschaft: Polizei, Richtern und Gefängnissen.

Die ungeheure Macht der Disziplin ist viel erörtert worden. Der durch die militärische Organisation geschaffenen Form passt sie den Inhalt an. Ihr Schlusseffekt ist blinder Gehorsam, ihr Verfahren ist folgendes: Die Tätigkeit des Soldaten wird in eine Anzahl klar bestimmter Verrichtungen zerlegt, die in unverrückbarer Reihenfolge Tag für Tag mit der genauesten Korrektheit verrichtet werden müssen. Für den Soldaten gibt es im Dienste keine Wahl, keine Selbstbestimmung, keine reflektierende Tätigkeit. Es geht alles darauf hinaus, ihn in einen Automaten zu verwandeln, der mit der Genauigkeit eines Uhrwerks funktioniert.

Durch die gemeinsame gleiche Abrichtung werden die individuellen Besonderheiten abgeschliffen, und es wird der Herdentypus des Soldaten herausgebildet.

Den Abschluss bildet dann die Erzeugung von Massenbewegungen. Hier wird der Wille des einzelnen gänzlich aufgelöst. Nach dem Takte, nach dem Kommandowort rückt die geschlossene Reihe vorwärts, rückwärts, schwenkt sie nach der Seite, wird das Gewehr mit einem gemeinsamen Ruck der zahlreichen Arme gehandhabt usw. Kein Denken mehr – instinktives, bewusstloses, gewohnheitsmäßiges Sichanpassen, das Zusammengreifen und Sichbetätigen der zu einem gemeinsamen Körper verschmolzenen Volksmenge. Die Truppe wird zum blinden Werkzeug in den Händen ihres Kommandeurs.

Die Aufgabe der militärischen Führung besteht darin, die durch die Organisation und Disziplin zu einem Organismus mit bestimmten Massenfunktionen herausgebildete Soldatenmenge in der Bewegung zu leiten. In der Bewegung ist die militärische Truppe noch mehr willenlos, als in der Ruhe. Durch den taktmäßigen Marsch in Reih‘ und Glied, die Spannung, die durch das gemeinsame, unaufhaltsame Vorwärtsdrängen erzeugt wird, „wird das Bewusstsein gelähmt, und obendrein wird noch jede Gedankenregung durch Trommelschlag oder lärmende, betäubende Musik erstickt.

Der im Grunde des Herzens etwa vorhandenen oppositionellen Stimmung steht also beim Militär eine durch die Organisation, die Disziplin und die Führung planmäßig erzeugte Vernichtung der Willensbetätigung des Soldaten entgegen, die Auflösung seiner Persönlichkeit in der Gesamtheit der Truppenabteilung, die sich instinktmäßig dem Kommandowort unterwirft.

Bei den bisherigen Revolutionen galt es stets, diesen Zauber zu brechen, damit der Soldat mit seiner Gesinnung, Stimmung und folglich seinem Willen zur Geltung kommen konnte.

Das war die Rolle, die der Barrikade zufiel. Sie hielt die marschierenden Truppen auf und brachte sie dadurch in Verwirrung und zur Besinnung. Aber was würde denn heute bei einem etwaigen Staatsstreich dem Militär im Wege stehen, da nunmehr jede Barrikade aus der weitesten Ferne hinweggefegt werden könnte?


Zuletzt aktualisiert am 22. April 2024