Parvus (Aleksandr Helphand)

Staatsstreich und politischer Massenstreik



Einleitung

In dem Kampfe der deutschen staatserhaltenden Parteien gegen den „Inneren Feind“ ist eine Pause eingetreten. Ein zeitweiliger Rückzug der Reaktion nach dem kläglichen Ausgang der Umsturzvorlage war ja sehr natürlich. Aber dazu kam noch die Komplikation der äußeren politischen Lage. Die Aufmerksamkeit der Mächtigeren – große Staatsmänner und Weltstürrner in Wort und Bild – ist nach anderen Richtungen abgelenkt worden. Man trägt sich mit großen Plänen herum, über deren Wesenheit man freilich sich selbst noch nicht klar geworden ist. Aber eins ist sicher: diese Pläne erfordern viel Geld. Und so möchte man die Unzufriedenheit der Volksmassen nicht noch mehr steigern. Die Regierung gibt dieser Stimmung der sie umgebenden Kreise nach und zeigt ein freundlicheres Antlitz. So konnten wir denn erleben, dass man einen Streik vom Ministertisch aus rechtfertigte. Andererseits freilich fehlt es auch nicht an spontanen Ausbrüchen der kapitalistischen Klassenwut.

Dieser Zustand wird wohl kaum lange anhalten. Wenn die neuen großen Marinevorlagen erscheinen, werden die „Staatserhaltenden“ die sozialdemokratische Opposition wieder recht unangenehm empfinden, und so werden der alte Hass und Arger wieder mit ursprünglicher Gewalt zum Durchbruch kommen. Und der Kampf gegen den „Umsturz“ wird wieder aufgenommen werden.

Worauf die Bekämpfer des Umsturzes in letzter Linie hinauszielen, hat sich seinerzeit klar gezeigt: es ist der Umsturz der Verfassung. Der Staatsstreich wurde offen proklamiert. Wir erinnern nur an die Broschüre des Generalmajors v. Boguslawski. Dieser Herr z. D. geht sehr resolut zu Werke. Er meint: „Den Straßenräuber, der mich auf einsamem Wege anfällt, oder in mein Haus nachts einbricht, werde ich nicht entwaffnen, indem ich ihm einen Vortrag über die Unrechtmäßigkeit seines Tuns halte, oder ihn aufgrund des Paragraphen X des Strafgesetzes aus dem Hause weisen will, sondern ich werde gut tun, ihm einen Revolver vor die Nase zu halten und ihn bei der geringsten Bewegung niederzuschießen. – Das Eindringen beweist, dass die Türen und Schlösser des Hauses nicht fest genug waren, um dem Räuber den Zugang zu verwehten. Sind aber einmal solche Stellen an dem sozialen Gebäude der Gegenwart zu finden und der Räuber schon in unserem Wohnhause, so vermag nur die äußerste Entschlossenheit, ihn wieder zu vertreiben. – Alsdann können wir daran denken, Türen und Schlösser auszubessern.“ – „Und im Gefühl dessen, was man zu erwarten hat, da soll man nicht zur Waffe greifen?“

Aus dem Programm des resoluten Generals teilen wir folgendes mit: „Verbot der sozialdemokratischen Schriften, Zeitungen und Vereine. – Einführung der Strafe der Verbannung und Expatriierung der Rädelsführer bei sozialdemokratischen Umtrieben, deren Begriff zu erläutern wäre. – Einführung der Deportation, nach Ermessen des Richters anstelle von Gefängnis auf Zuchthaus zu erkennen, für die Verbrechen des Aufruhrs, der Verschwörung oder des Versuchs dazu. – Abschaffung des geheimen Wahlrechts und der Stichwahlen.Errichtung eines Oberhauses mit weitgehenden Rechten.“

Wie aber diese Maßnahmen durchführen? Auf die „Parteien“, anders: den Reichstag, setzt der resolute General z. D. keine großen Hoffnungen mehr. „Nimmt man den Fall an, dass der Reichstag alle ihm gemachten Vorschläge endgültig ablehnte, so wäre das ein Moment, wo eine Ansprache, ein direkter Aufruf von Kaiser und Reich gerechtfertigt erschiene … Nimmt man ferner an, dass auch dieses Mittel nicht zum Ziele führte, so stände man an einem Wendepunkt, wo die gewöhnlichen Mittel eben versagten.“ Und nun konstruiert unser Kämpfer für Sitte und Ordnung sehr resolut ein förmliches Recht auf den Staatsstreich. Der Staatsstreich sei unter Umständen eine geschichtliche Notwendigkeit. „Nach dem Buchstaben des Gesetzes ist ein Staatsstreich ebensowenig gerechtfertigt wie eine Revolution. Er kann aber ebensogut das Kennzeichen innerer Berechtigung an sich tragen wie diese, denn wenn man vom ethischen Standpunkt aus eine Revolution nicht missbilligt, die sich gegen eine in Wahrheit unerträgliche Tyrannei wendet, so wird man gerechterweise auch einen Staatsstreich nicht verurteilen können, der sich gegen eine demagogische Herrschaft wendet, oder mit der Überzeugung unternommen wird, einer solchen vorbeugen zu müssen.“ Und er schließt seine Schrift mit den Worten: „Es handelt sich nicht, wie die Gegner sagen, um kleinliche Polizeimaßregeln – wir hassen nichts mehr wie polizeiliche Willkür –‚ sondern um einen großen, mit gewaltigen Mitteln zu führenden Kampf.“

Die Schrift des Generals v. Boguslawski war, wie man weis, keine Ausnahme. Sie spiegelt nur die allgemeine Stimmung in den staatserhaltenden, besonders militärischen Kreisen wieder. Von diesen letzteren ist sie mit einem grenzenlosen Enthusiasmus aufgenommen worden. Die Redaktion der sehr respektablen „Jahrbücher für die deutsche Armee und Marine“ sagte z. B. in ihrer Besprechung dieser Broschüre: „Sie triff den Nagel auf den Kopf und ist ein Wort zur rechten Zeit, ein ernstes Mahnwort im Kampfe gegen die Sozialdemokratie. … Ich meine, wem jetzt noch nicht klar ist, wohin wir steuern mit dem kläglichen „Mute der Kaltblütigkeit“ einem solchen Gegner gegenüber, dem ist eben nicht zu helfen! Eine Partei, deren Führer selbst sagen, es handle sich um Machtfragen, die auf anderem Gebiet gelöst werden als auf dem parlamentarischen, drückt den staatserhaltenden Parteien selbst ein Schwert in die Hand. Gebe Gott, dass die Stimme Boguslawskis nicht gleich der Stimme des Predigers in der Wüste verhalle.“

So haben wir uns denn an die Aufgabe gemacht, einmal ruhig zu untersuchen, wie die Dinge in Wirklichkeit liegen. Wie weit die Reaktion gehen könnte und welche Folgen sie zeitigen müsste. Und welche Mittel die Arbeiterklasse besitzt, um die Reaktion abzuwehren. Da hat sich aber auch bald gezeigt, dass es sich in diesem Kampfe nicht bloß um die Arbeiterklasse handelt, sondern um den Schutz der politischen Freiheit überhaupt, dass die politische Reaktion, begonnen als Kampf gegen die Sozialdemokratie, zu ihrer letzten Konsequenz die Schaffung einer gewaltigen allgemeinen Protestbewegung haben muss, der sie unfehlbar erliegen wird.

Eine Regierung, welche die freie politische Betätigung der kapitalistischen Klassengegensätze mit Gewalt verhindert, macht sich dadurch selbst zum allgemeinen Sündenbock des kapitalistischen Klassenkampfs.

Es gibt für die Reaktion im politischen Kampfe gegen die Arbeiterklasse keinen Ausweg mehr. Das Spiel ist verloren. Je nach der eingeschlagenen Taktik mag es etwas länger oder kürzer dauern. Aber das Ende, und ein rasches Ende, ist außer Zweifel: die Reaktion verliert das Spiel, das Proletariat behauptet als Sieger das Feld. Dann dürfte sie doch wohl am besten tun, das Spiel beizeiten aufzugeben, solange sie noch irgendwie im Stande ist, die stark anwachsende Zeche zu bezahlen!

Die Sozialdemokratie hält ihre Karten offen. Mögen die anderen sehen, wie sie dabei zurechtkommen!

Wir berufen uns in dieser Abhandlung öfters auf Friedrich Engels. Das bedarf an und für sich keiner besonderen Erklärung. Aber es geschah noch aus einem speziellen Grunde: weil Friedrich Engels‘ letzte Ausführungen über die Taktik der Arbeiterbewegung, die er voriges Jahr in seiner Einleitung zu einem Neudruck von K. Marx‘ „Klassenkämpfe in Frankreich“ gemacht hatte, vielfach missverstanden worden sind.
 

1. Der neue Kurs

Seit einigen Jahren will den kapitalistischen Regierungen nichts mehr gelingen. Das nicht nur in Deutschland. In Frankreich, in Österreich, in England, in Italien, überall der gleiche Fall. Die Regierungen befinden sich in permanentem Konflikt entweder mit der Volksvertretung oder mit der öffentlichen Meinung oder mit beiden zugleich.

In Deutschland, in Österreich und in Frankreich steht zweifellos den politischen Machthabern in erster Linie die Sozialdemokratie im Wege. Wie sonderbar: in Österreich die Zwickmühle, weil die Arbeiterklasse das allgemeine Wahlrecht nicht hat, und in den beiden anderen Ländern, weil die Arbeiterklasse im Besitze des allgemeinen Wahlrechts ist! Das sollte doch über manches belehren, wenn der Egoismus einer herrschenden Klasse überhaupt der Vernunft zugänglich wäre.

Nehmen wir Deutschland, das uns am nächsten liegt. Da weis man ja, wie die Dinge stehen. Der „neue Kurs“ zählt noch wenig Jahre, aber viele Niederlagen. Er reitet schnell – von Schlappe zu Schlappe. Er ist unbeständig, wechselnd wie die Launen der Verliebten. Kein Mensch weis, was der nächste Tag in die politische Welt bringen wird. Heute „soziales Königtum“ und morgen der Staat eine Domäne der Agrarier. Heute soll der Staat ein Kulturträger sein, fördernd Kunst und Wissenschaft, und morgen herrschen Pfaffenkutte und Polizeibüttel über Literatur und Kunst. Die geringfügigste Veranlassung kann plötzlich zu einer gewaltigen Staatsaktion aufgebauscht werden. Jeden Augenblick Knalleffekte – der gesamte Staatserhaltungsapparat gerät in Aktion, als ob es gälte, das Vaterland zu retten, die „Patrioten“ werden auf die Beine gebracht, aber nur zu bald zeigt es sich, dass alles blinder Lärm war. Die öffentliche Meinung wird irritiert. Die Bürgerschaft schüttelt den Kopf zu diesem politischen Schaukelspiel und fragt sich mit banger Besorgnis: Was soll denn das? Was will man denn eigentlich? Wo steuern wir hin?

Die leitenden Personen wechseln wie die Puppen im Spiel. Kaum haben sie sich eingearbeitet, so müssen sie fort. Keine weitausschauenden Pläne sind unter solchen Umständen möglich. Die Staatslenker leben vom Augenblick. Wird da nicht ihre Politik zum Spielball des Zufalls und der Laune?

Der politischen Scharlatanerie sind in der Öffentlichkeit Tür und Tor geöffnet. Die Intrige, die Koterie, die Clique, das Strebertum erreichen die größte Geltung.

Ein tiefer Zwiespalt bildet sich zwischen der Staatsleitung und dem Volke. Der „neue Kurs“ hat es mit allen verdorben und niemand befriedigt. Wo ist denn die Partei, auf die er sich stützen kann? Jede hat an ihn große Forderungen, aber keine will sich für ihn engagieren.

Die gesetzgeberische Maschinerie, d. i. der Reichstag, versagt ihre Dienste. Eine Regierungsvorlage nach der anderen wird abgelehnt. Dann kann es auch zutreffen, dass infolgedessen einmal einer Regierung, der nicht der Wille des Volkes als höchstes Gesetz gilt, die ganze Parlamentsordnung als unbequemes, lästiges Ding erscheinen würde. Man erinnere sich nur, welche erbitterte, verletzende Stimmung von den Regierungsvertretern während der vorigen Session dem Reichstag gegenüber offenkundig zur Schau getragen wurde, und man wird diesen Gedanken nicht kurzweg von sich weisen.

Was soll man erst zu Äußerungen sagen, wie die des gewesenen Ministers v. Köller: „Die Regierung bedarf Ihrer nur insoweit, als Sie den Gesetzen, die sie Ihnen vorlegt, zuzustimmen haben und die Gelder zu bewilligen haben.“ Kann man denn diesen Satz nicht so umkehren: „Und wenn Sie den Vorlagen nicht zustimmen und die Gelder nicht bewilligen, dann bedarf Ihrer die Regierung nicht, dann sind Sie ihr lästig und zuwider.“ Das hieße also, dass der Reichstag nur dann willkommen sei, wenn er sich zum Jasagerapparat degradiert. Dass der Reichstag die Vorlagen zu prüfen hat, dass er selbst Vorlagen einbringen kann, dass er mehr noch als der Bundesrat der eigentliche. gesetzgebende Körper ist, dass die Regierung ihm Rechenschaft abzulegen hat, dass er überhaupt nicht der Regierung wegen da, dass er die Vertretung des Volkes ist – das alles wird also durch die erwähnte Äußerung eines Staatsministers des Innern ignoriert.

Wer aber den Regierungsgenies in Deutschland die parlamentarische Tätigkeit am meisten verleidet, ist die Sozialdemokratie. An der Sozialdemokratie allein hält sich seit 1890 die gesamte politische Opposition im Deutschen Reich. Die Militärvorlage hätte bei weitem nicht die bekannten großen Schwierigkeiten zu überwinden gehabt, die Tabaksteuer wäre schon längst angenommen worden, wenn nicht die Sozialdemokratie da wäre.

Der politische Einfluss, den die Sozialdemokratie ausübt, ist zum Teil ein direkter durch ihre bei der Zersplitterung der bürgerlichen Parteien ansehnliche Vertretungszahl im Reichstag, in der Hauptsache aber ist er indirekt, indem die bürgerlichen Parteien von ihr in steter Angst und Sorge um ihre Reichstagsmandate gehalten werden. Ihre schonungslose Kritik ist es, die der Sozialdemokratie die meiste Kraft verschafft. Durch diese übt sie in politischen Fragen den größten Druck auf die Öffentlichkeit aus. Die bürgerlichen Parteien fürchten, von der Sozialdemokratie vor den Wählern bloßgestellt zu werden, und darum beherrscht sie die politische Situation.

Der Hass gegen die Sozialdemokratie beruht hier also darin, dass sie die unerschrockene und rücksichtslose Vertreterin der Interessen des arbeitenden Volkes ist, das ja unter dem allgemeinen Wahlrecht bei den Wahlen den Ausschlag gibt. Aus dem allgemeinen Wahlrecht schöpft die Sozialdemokratie ihre parlamentarische Macht, und darum eben ist das allgemeine Wahlrecht den bürgerlichen Parteien lästig, denn es gemahnt sie daran, dass sie von ihren Taten dem Volke Rechenschaft abzulegen haben.

Die bürgerlichen Parteien werden deshalb durch die Anwesenheit der Sozialdemokratie förmlich gezwungen, eine oppositionelle Stellung einzunehmen. Die Sozialdemokratie gibt den Ton an. Obwohl formell als Führerin nicht anerkannt, leitet sie in Wirklichkeit die gesamte parlamentarische Opposition.

Darum betrachten die Wortführer des neuen Kurses die Sozialdemokratie als ihren Hauptfeind. Für diese Leute handelt es sich nicht um die Zukunftspläne der Sozialdemokratie, sondern um ihre Gegenwartsbedeutung. Wer sich mit Projekten neuer Verbrauchssteuern, neuer Zölle, neuer Militärbewaffnung, neuer Panzerbauten u. a. herumträgt, dem steht die Sozialdemokratie auf Schritt und Tritt im Wege. Das ist der Kern der Sache.

Der „neue Kurs“, und darunter verstehen wir nicht einzelne Persönlichkeiten, sondern eine politische Geistesrichtung, der neue Kurs, der durch sein unberechnetes, provozierendes, bramarbasierendes Auftreten die öffentliche Meinung gegen sich gekehrt und die Opposition gestärkt hat, gelangt folgerichtig dazu, dass er sich mit aller Macht auf die Sozialdemokratie als die Grundfeste der Opposition stürzt. Man will die Sozialdemokratie beseitigen, um darnach mit der bürgerlichen Opposition desto leichter fertig zu werden.

Doch wie die Sozialdemokratie wenigstens aus dem Reichstage loswerden? Da ist es jedermann klar, dass zu diesem Zweck vor allem das allgemeine Wahlrecht abgeschafft werden müsste.

Das ist auch die Aufgabe, an der sich viele berufene und unberufene Staatsretter seit geraumer Zeit im Schweiße ihres Angesichts abplagen.
 

2. Die Abschaffung des allgemeinen Wahlrechts

Die erste Frage, die einer Aufklärung bedarf, ist also die: ob es möglich sei, das allgemeine Wahlrecht im Deutschen Reiche zu beseitigen?

Die Schwierigkeit liegt nicht in der Zerstörung, sondern in dem Aufbau. Die Schwierigkeit liegt darin, durch welches Wahlsystem das allgemeine Wahlrecht ersetzt werden soll? Und das ist es eben: es gibt kein Wahlsystem, außer dem allgemeinen Wahlrecht, das sämtliche wirtschaftlichen und politischen Gruppierungen innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft befriedigen könnte. Österreich bietet uns ja gerade dafür die trefflichste Bestätigung. Nicht minder als ein volles Schock verschiedener Wahlprojekte sind dort bereits ausgetüftelt worden – dennoch will keines behagen, und nur die Furcht vor der Sozialdemokratie hält die Parteien vor dem allgemeinen Wahlrecht zurück. Und doch ist es leichter, ein schlechtes Wahlsystem, wie in Österreich, durch ein verbessertes zu ersetzen, als ein gutes Wahlsystem, resp. das allgemeine Wahlrecht, wie in Deutschland mit einem schlechteren System zu vertauschen. [1]

In Österreich kommt allerdings auch noch die nationale Zersplitterung in Betracht. Aber in einem geringeren Grade ist dies ja in Deutschland ebenfalls der Fall. Vor allem aber muss der Charakter Deutschlands als Bundesstaat berücksichtigt werden und der konfessionelle Unterschied. Es gibt im Deutschen Reiche eine Trennungslinie der Konfessionen, die als wirtschaftliche, politische und beinahe nationale Trennungslinie gelten kann. Die wirtschaftlichen und politischen Zustände in Ostpreußen oder Pommern sind anders, als im Rheinland oder in Baden oder auch in Bayern. Das alles will aber im Reichstag, bei der Gesetzgebung und Verwaltung, zum Ausdruck kommen. Nur die Wahl nach der Volkszahl kann die gemeinsame Grundlage abgeben für eine so verschiedengestaltige Interessenvertretung.

Es gibt aber in Deutschland noch eine besondere Schwierigkeit zu überwinden. Das wirksamste Mittel, um das Proletariat vom Wahlrecht fernzuhalten, ist ein hoher Einkommenszensus. Da stellt sich aber sofort als unüberwindliches Hindernis heraus, dass es keine Reichseinkommensteuer, überhaupt im Reiche keine direkten Steuern gibt. Was soll denn als Maßstab des Einkommens oder des Vermögens gewählt werden? Die direkten Steuern der einzelnen Bundesstaaten sind sehr verschieden nach Veranlagung und Durchführung – würde man an diese das Wahlrecht knüpfen, so würde es tatsächlich, ebenso viele Unterschiede des Wahlrechts geben, als es Bundesstaaten gibt, und die einen wären im Vorteil resp. im Nachteil gegenüber den anderen.

Was anders aber könnte als Wahlzensus gewählt werden, wenn nicht das Einkommen? Vielleicht der Grundbesitz? Das würde aber offenbar die gesamte städtische Bevölkerung, ausgenommen die Hauseigentümer, vom Wahlrecht ausschließen. Das würde nicht bloß das Proletariat treffen, sondern auch das industrielle Kapital, und würde die größten Unterschiede bilden zwischen den einzelnen Staaten, je nach ihrer industriellen Entwicklung. Das allgemeine Ergebnis wäre eine klerikal-konservative Mehrheit.

Die Stellung der Regierung dem Parlament gegenüber wäre nicht minder schwierig als jetzt. Die Regierung wäre im Reichstag die Sozialdemokratie losgeworden, hätte aber dafür ein bäuerlich-klerikales Regime eingetauscht. Sie würde dabei die öffentliche Meinung gänzlich von sich abgestoßen und das Volk in ungeheure Aufregung versetzt haben. Zum Klassenkampf würde sich der religiöse Kampf gesellen, und zu dem klassenbewussten Proletariat ein unzufriedenes Bürgertum! Gerade diejenigen Elemente, die jetzt am lautesten die Unterdrückung der Sozialdemokratie fordern, würden dann, überrascht und aufgebracht durch die klerikale Herrschaft und durch die Gärung unter den Volksmassen noch mehr erschreckt als jetzt durch die Wahlsiege der Sozialdemokratie geängstigt, der Regierung an allem die Schuld beimessen und auf ihren Sturz emsig hinarbeiten.

Deshalb, solange man im Deutschen Reiche nicht einmal so weit ist, eine Reichseinkommensteuer einzuführen, kann man auch das allgemeine Wahlrecht nicht abschaffen. Und würde man die Einkommensteuer einführen, dann müsste man erst recht das allgemeine Wahlrecht behalten, denn das Volk zu dem Zwecke zu besteuern, um ihm sein Wahlrecht zu rauben, das wäre ein zu schroffer und verletzender Widerspruch. Würde man es tun, so erhielte man, mag das Wahlsystem noch so kunstvoll konstruiert werden, schon bei den nächsten Wahlen die erbittertste Opposition in den Reichstag.

Diese praktische Unmöglichkeit, im Deutschen Reiche das allgemeine Wahlrecht zu beseitigen, macht es begreiflich, warum bis jetzt, trotz den vielen Wehklagen über die Sozialdemokratie, doch eigentlich kein einziger Vorschlag einer einschneidenden Wahlreform gemacht worden ist. Der Wunsch ist groß, doch klein das Können. Desto mehr verfällt man auf allerlei Halbmaßregeln.

So ist der Vorschlag gemacht worden, die Altersgrenze der Wahlberechtigung auszudehnen. Selbst abgesehen davon, dass dadurch nicht allein die Sozialdemokratie getroffen wäre, so ist doch die Wirkung dieser Maßregel rein temporär. Es mag zutreffen, dass jetzt gerade unter den Fünfundzwanzig- bis Dreißigjährigen der Prozentsatz der Sozialdemokraten besonders groß ist. Würde man aber die Wahlrechtsgrenze bis zum dreißigsten Jahre hinaufschieben, was würde dann eintreten? Schon in fünf Jahren, also bei der nächsten normalen Wahlperiode, würden die jetzigen Fünfundzwanzig- bis Dreißigjährigen sich in Dreißig- bis Fünfunddreißigjährige verwandeln und dadurch den alten Prozentsatz wiederherstellen. Noch mehr: durch die Entziehung des Wahlrechts der Fünfundzwanzig- bis Dreißigjährigen würde man diese offenbar in die Opposition treiben und den parlamentarischen Nachwuchs gegen sich kehren.

Mehr Bedeutung hat der Vorschlag, das Wahlrecht an den festen Wohnsitz zu knüpfen. Viel würde aber auch dadurch nicht erreicht, es sei denn, dass das platte Land gegenüber den Städten, die industriell weniger entwickelten Gebiete gegenüber den industriell mehr entwickelten in Vorteil gesetzt werden. In die gleiche Kategorie fällt der Vorschlag, das Wahlrecht der Ledigen zu beschränken.

Zu erwähnen sind noch die Maßregeln, die nicht an das allgemeine, sondern an das direkte, gleiche und geheime Wahlrecht anknüpfen. Aber das indirekte Wahlrecht hat nur einen Sinn und das ungleiche ist nur möglich auf Grundlage eines Zensus. Was über diesen gesagt wurde, bezieht sich also auch darauf. Würde nun der geheime Charakter des Wahlaktes abgestreift werden, so würde das allerdings zu vielen Drangsalierungen der Arbeiter führen. Doch ist es lächerlich, wenn die Reaktion auf diese Weise mit der Sozialdemokratie fertig werden zu können glaubt. Die Sozialdemokratie vereinigt bereits solche Massen, dass es in den meisten Fällen längst kein Geheimnis mehr ist, wie die Arbeiter wählen. Die Unternehmer müssen sich es schon gefallen lassen. Und so würden sie auch bei offener Wahl schließlich gezwungen werden, den Arbeitern die Betätigung ihres politischen Willens freizulassen.

All diese unzulänglichen Maßnahmen haben das gemeinsam, dass sie das Gegenteil von dem erreichen würden, was sie bezwecken. Sie würden die Stellung der Regierung nicht verbessern, die Sozialdemokratie nicht beseitigen, wohl aber die Erbitterung im Volke steigern und die Opposition stärken. Das ist kein ernster Kampf, das sind Schikanen, entsprungen der Gehirntätigkeit erboster Narren und nicht dem Scharfsinn des Politikers.

Nichts kennzeichnet das besser als das kurzweilige Projekt, das in der allerletzten Zeit aufgetaucht ist und eine rasche Berühmtheit erlangt hat. Man solle einfach dekretieren: „Kein Sozialdemokrat darf wählen und kein Sozialdemokrat darf gewählt werden!“ Also, man glaubt, die Sozialdemokratie dadurch vernichten zu können, dass man den Namen vernichtet! Denn was anderes wird durch diese Zauberformel erreicht? Dann gibt es keine „Sozialdemokratie“ mehr, allerdings – aber dafür gibt es eine „sozialistische Arbeiterpartei“, eine „proletarische Partei“, eine „Partei der Entrechteten oder der Ausgebeuteten“, schließlich eine „namenlose Partei“! Was dann?

Oder will man das Bekenntnis zu einem bestimmten Programm verbieten? Wohlan, dann weg mit dem geschriebenen Programm – die Taktik, die prinzipielle Auffassung werden dadurch nicht geändert, denn diese ergeben sich aus den Verhältnissen.

Glaubt man auf diese Weise den Kampf gegen die kapitalistische Ausbeutung, gegen den Militarismus gegen die Verbrauchssteuern beseitigen zu können? Wie kindisch! Solange dies alles fortbestehen bleibt, gibt es de facto eine Sozialdemokratie, mag sie so heißen oder anders.

An die Folgen der Beseitigung des allgemeinen Wahlrechts denkt man gar nicht. Aber die erste Folge davon wäre die Desorganisation des Deutschen Reiches. Wenn gegenwärtig die partikularistischen Tendenzen auch sehr zurückgetreten sind, so ist doch dieses Ergebnis im wesentlichen gerade dem allgemeinen Wahlrecht zuzuschreiben. Das allgemeine Wahlrecht zerstörte die politischen Schranken der Kleinstaaten, schuf eine Gemeinsamkeit und Gleichartigkeit der politischen Betätigung und dadurch erst machte es Deutschland zur politischen Einheit.

Löst man dieses politische Bindemittel auf, so ersetzt man die Einheit durch Zerwürfnis und Zerstückelung. Die Interessengegensätze der Einzelstaaten, die jetzt im allgemeinen Wahlrecht ausgelöscht werden, sie werden dann entfacht, erweitert. Das Ansehen des also auf Grundlage eines Zensus gewählten Reichstags schwindet. Die Reichsorganisation selbst erscheint nicht mehr als Willensäußerung des deutschen Volkes, sondern als eine polizeilich, resp. militärisch aufgenötigte Verfassung. Und die entstehenden Sonderbestrebungen finden einen mächtigen Resonanzboden in der über die Beraubung ihres politischen Rechtes erbitterten Volksmasse. Allgemeine Gärung, Unzufriedenheit, fortgesetzter, verzweifelter Kampf gegen die Regierung. Der Regierung aber bleibt dann auf dem von ihr einmal beschrittenen Wege auf all das nur eine Antwort: verstärkte Repressalien, polizeiliche Drangsalierung.

Die Beseitigung des allgemeinen Wahlrechts führt also – wenn praktisch ermöglicht – mit Notwendigkeit zur weiteren Verschärfung der Reaktion. Die Beseitigung des allgemeinen Wahlrechts kann nicht eine Maßregel für sich bleiben, sondern ihr folgen auf den Fersen Beschränkung der Presse, der Versammlungen, der politischen Betätigung überhaupt. Ohne allgemeines Wahlrecht weder politische Freiheit noch bürgerliche Verfassung! So wendet sich auch hier der Kampf nicht gegen die Sozialdemokratie allein, sondern gegen die freiheitlichen Grundlagen des Staates überhaupt und gegen die Einheit des Deutschen Reiches.
 

3. Der Polizeikrieg gegen die Sozialdemokratie

Je schwieriger es erscheint, der Sozialdemokratie ein für allemal die Pforten des Reichstags zu verschließen, desto mehr ist zu erwarten, dass das Bestreben entstehen wird, die politische Tätigkeit der Sozialdemokratie im einzelnen zu hemmen. Es soll nicht sozialdemokratisch agitiert werden! Es soll nicht sozialdemokratisch gewählt werden, obwohl das Recht dazu da ist! Es soll nicht sozialdemokratisch gesprochen werden. Es soll nicht sozialdemokratisch gedacht werden! Es soll sich niemand das Aussehen geben, als wäre er Sozialdemokrat! Kurz, die Sozialdemokratie soll aufhören, Sozialdemokratie zu sein. Und zu diesem Zweck soll sie auf Schritt und Tritt beobachtet und verfolgt werden.

Das bedeutet einen Guerillakrieg, einen unorganisierten Kampf der Polizisten und Staatsanwälte gegen die Sozialdemokratie, der von Staat zu Staat, von Gerichtsbezirk zu Gerichtsbezirk, von Polizeidistrikt zu Polizeidistrikt anders geführt werden muss. Eine Jagd nach jedem einzelnen und nach jeder einzelnen Äußerung! Und das bei einer Partei von zirka zwei Millionen Wählern, die über mehr als drei Dutzend Tageblätter und eine große Menge anderer Zeitungen verfügt, über das ganze Reich bis in die kleinsten Nester verbreitet ist und jährlich Tausende von Versammlungen abhält! Und bei alledem geht das taktische Bestreben dieser Partei nicht etwa dahin, die Gesetze zu verletzen,sondern im Gegenteil, sie auf das Peinlichste einzuhalten! Ist es denn so schwer, vorherzusagen, dass ein derartiger Kampf mit der stets anschwellenden sozialdemokratischen Masse für die Staatsorgane völlig aussichtslos sein müsste?

Wohlan, wir wollen einmal untersuchen, was auf diesem Wege der kapitalistische Staat gegenüber der Sozialdemokratie zu erreichen vermag!

Ein solcher Polizeikrieg gegen die Sozialdemokratie geht nach zwei Richtungen: einmal gegen die Vereine und Versammlungen, dann gegen die Presse.

Es ist bereits im Deutschen Reich von der Polizei in bezug auf die Beschränkung der politischen Vereinsbildung schier das Menschenmögliche erreicht worden. Außer den Wahlvereinen gibt es unter der Arbeiterschaft so gut wie gar keine politischen Vereine mehr. Und was ist das Resultat davon? Das Schwergewicht der politischen Aktion ist aus dem Verein in die Versammlung verlegt. Statt sich in kleinen Gruppen zu verzetteln, gewinnt sie von vornherein einen allgemeinen, einen Massencharakter. Die Sektenbildung, das gefährlichste für die einheitliche Entwicklung jeder politischen Bewegung, wird erschwert. Weil der Wahlverein fast die einzige mögliche Form der politischen Organisation, so ist die politische Tätigkeit von der parlamentarischen Vertretung unzertrennbar. Und weil der Reichstag eben eine Vertretung des gesamten Reiches ist, so wird dadurch eine das gesamte Reich umfassende Partei geschaffen. Statt die Sozialdemokratie zu desorganisieren, wird sie also dadurch vielmehr zu einem einheitlichen Gebilde zusammengefasst.

Wir wollen damit keineswegs behaupten, dass etwa die sächsische oder preußische Vereinsgesetzgebung lauter Segen seien für die Sozialdemokratie. Die politische Schulung der einzelnen Arbeiter würde zweifellos durch die freie Entfaltung der politischen Klubs sehr gefördert werden. Aber erstens findet sich Ersatz dafür, vor allem in der Presse, sodann wird gerade das, was man mittels dieser Maßregeln zu verhindern sucht, die Bildung einer großen parlamentarischen Arbeiterpartei, in Wahrheit dadurch gefördert.

Viel schwieriger schon als mit den Vereinen, wird die Polizei mit den Versammlungen fertig. Wird ein Verein aus irgendwelchen Gründen aufgelöst, so ist es eine umständliche Sache, an seiner Stelle einen anderen zu gründen, aber nach jeder verbotenen Versammlung ist es verhältnismäßig ein leichtes, eine andere einzuberufen. Immer lassen sich auch bei der zweckdienlichen Auslegung selbst des preußischen oder sächsischen Versammlungsgesetzes Versammlungen nicht verhindern. So finden denn zahllose Versammlungen statt, und mit je größeren Schwierigkeiten ihr Zustandekommen verbunden ist, desto besser werden sie besucht. Da bleibt nun nichts mehr übrig, als den Angriff auf einzelne Personen zu konzentrieren, also vor allem auf den Agitator, der in der Versammlung spricht.

Dem Redner wird aufgelauert. Die Präventivmaßregeln der Polizei sind tatsächlich erschöpft. Die Agitation ist im vollen Zuge. Die Polizei selbst hat. dazu beigetragen, das Interesse der Versammelten zu steigern. Nun wird aufgepasst, ob sich nicht im Redefluss etwas zeigt, woran man irgendeinen Strafgesetzbuchparagraphen festhalten könnte. Schließlich reduziert sich die ganze staatsretterische Aktion darauf, dass es zwei preußischen Unteroffizieren vielleicht gelingt, ein Wort aufzuschnappen, das als jemandes Ehrenkränkung aufgefasst werden könnte. Und damit soll eine große politische Bewegung, die in tiefen wirtschaftlichen Interessen wurzelt, vernichtet werden?

In unzähligen Fällen gelingt auch das nicht, aber wenn auch, was dann? Die Versammlung wird aufgelöst. Die Erbitterung der Masse steigt aufs höchste: der Erfolg der Agitation ist gesichert. Der Agitator wird eingesperrt. Aber anstelle des einen treten sofort zehn andere auf!

So hascht die Polizei bald nach dieser, bald nach jener Richtung, hat tausenderlei zu tun, wird gar nicht fertig, regt überall das Volk auf, erweckt Erbitterung, reizt die Massen gegen sich und gegen die Regierung auf, und das nennt man: Bekämpfung der Sozialdemokratie!

Eins ist doch auf den ersten Blick klar: so lange es ein allgemeines Wahlrecht gibt, lassen sich die Vereine und Versammlungen nicht gänzlich ausrotten. Das war ja auch für die Regierung das Fatale des Sozialistengesetzes, woran es zugrunde ging. Einerseits zersprengte sie die Organisationen, verbot Versammlungen, hinderte die Agitation, aber auf der anderen Seite musste sie allmählich die gesetzlichen Mittel der Wahlorganisationen, der Wahlversammlungen, der Wahlagitation freilassen. Und da sie keine anderen Wege der politischen Betätigung zuließ als diese, schuf sie mit Gewalt eine große politische Partei. Dies um so mehr, als ja im allgemeinen Wahlrecht auch das Mittel gegeben ward, das Sozialistengesetz zu beseitigen.

Und wiederum, wo die Vereine und Versammlungen aus diesen oder jenen Gründen in der Agitation versagen, da springt sofort das dritte Glied der politischen Dreieinigkeit helfend ein: die Presse. Von den Dreien ist die Presse das mächtigste Agitationsmittel, das imstande ist, die übrigen zwei zu ersetzen.

Hat die Zeitung einmal ihren Leser erfasst, so lässt sie ihn nicht mehr los. Sie dringt zu ihm ins Haus von Tag zu Tag. Sie ist seine Leiterin und Ratgeberin in allen öffentlichen Angelegenheiten. Sie unterrichtet ihn. Sie lässt ihn die Dinge so betrachten, wie sie es will. Sie beherrscht sein Denken. Sie bildet zugleich, wenn sie im Dienste einer Partei steht, die geistige Verbindung zwischen den Anhängern dieser Partei. Sie agitiert und organisiert in gleichem Masse und weicht nicht von der Stelle, bleibt als die Verbindung selbst stets bestehen, immer neu in ihrem Inhalt und doch gleich in ihrer Grundlage.

Dabei lässt sich der Journalist noch viel schwieriger in den Netzen des Strafgesetzbuchs, mag dieses noch so verrückt ausgelegt werden, einfangen als der Redner, dem eher in der Hitze der Diskussion ein unvorsichtiges, gereiztes Wort entschlüpfen kann. Den Willen, Ungesetzlichkeiten zu begehen, hat weder der sozialdemokratische Redner, noch der sozialdemokratische Zeitungsmensch. Das weis jetzt jedes Kind. Weshalb denn auch, da die Partei auf dem gesetzlichen Boden so vorzüglich gedeiht?

Keine Schlingen und kunstgerechten Widerhaken der Strafgesetze vermöchten die sozialdemokratische Bewegung zu hindern. Wie kläglich müsste es doch um die deutsche Literatur, um den Begriff- und Wortschatz der deutschen Sprache bestellt sein, wenn es tatsächlich gelingen könnte, dem Leben entsprossene und täglich aufs neue entsprießende Ideenkreise durch juristische Formeln aus der Öffentlichkeit zu bannen! Nur die Worte sind durch Gesetzesparagraphen fassbar, die Begriffe nicht. Denn die Zahl der Ausdrucksformen der Begriffe ist unendlich. Sie lassen sich in stets neue Zusammenhänge und Gegensätze bringen. Sie sind wandlungsreich wie das Leben. Und je entwickelter die Literatur, desto veränderungsfähiger die Begriffe in ihrer Ausdrucksform.

Vor mehr als einem Jahrhundert schrieb Klopstock die stolzen Worte:

„Dass keine, welche lebt, mit Deutschlands Sprache sich
In den zu kühnen Wettstreit wage!
Sie ist – damit ich’s kurz, mit ihrer Kraft es sage –
An mannigfalt’ger Uranlage
Zu immer neuer und doch deutscher Wendung reich.“

Und nun, nachdem Klopstock, Lessing, Goethe, Schiller, Fichte, Heine, Lassalle usw. gewirkt haben, nunmehr sollte es möglich sein, eine großartige, durch Jahrzehnte sich entwickelnde kulturelle Bewegung dadurch zu vernichten, dass man das Aussprechen einiger Worte und Wortverbindungen unter Strafe stellt? Mehr als das ist aber ein solcher Polizeikrieg in seiner Grundlage nicht.

Der Erfolg jeder Verschärfung der strafrechtlichen Verfolgung der Sozialdemokratie ist höchstens ein temporärer. Solange die Anpassung an die neuen gesetzgeberischen oder administrativen Normen noch nicht fertig ist, fallen der Staatsanwaltschaft zahlreichere Opfer zu. Aber schließlich wird die gesetzlich zulässige Ausdrucksform unbedingt herausgefunden, das Publikum lernt die Agitatoren auch in der veränderten Weise verstehen – und die polizeilichen Streiche sausen widerstandslos durch die Luft.

Aber anderes wird dadurch erreicht! Je weniger es gelingen würde, die sozialdemokratische Agitation mittels strafgesetzlicher Vorschriften zu fassen, desto mehr müsste das Bestreben entstehen, diese Gesetze so auszulegen, dass sie dennoch auf den erwünschten Fall passen. Dann aber wird das Gesetz in ein Prokrustesbett gelegt: bald gekürzt, bald in die Länge gezogen, immer aber von den Rechtsprechenden selbst verletzt! Man ginge aus, Ungesetzlichkeit zu ahnden, und endete damit, dass man Ungesetzlichkeit übt. Man setzte schließlich anstelle des Gesetzes Willkür, anstelle des Richters den Polizeibüttel.

Was wäre die Folge davon? Die Achtung vor den Richtern und vor der Rechtsprechung würde schwinden. Statt in ihnen die vermittelnde und regelnde Kraft in den aufeinanderprallenden gesellschaftlichen Widersprüchen zu erblicken, gewöhnte man sich unter solchen Umständen daran, die Richter als Diener einer bestimmten Klasse, der Klasse der Reichen, der Kapitalisten, der Ausbeuter zu betrachten. Der Klassencharakter des Staates wäre entlarvt. Das Volk sähe im Staate nur die Organisation, durch die es beherrscht wird. Es würde misstrauisch, unzufrieden. Und wenn die neue Reichstagswahl kommt, wächst die Stimmenzahl der Sozialdemokratie! Wäre das etwa ein Wunder?

Die Beseitigung des allgemeinen Wahlrechts würde zur Desorganisation des Deutschen Reiches führen, der Polizeikrieg gegen die Sozialdemokratie aber hat, wenn konsequent durchgeführt, zur Folge die Desorganisation des Staates überhaupt, die Unterwühlung der gesetzlichen Grundlagen seines Bestandes.
 

4. Konstitutionalismus oder Absolutismus?

Es gibt ein ehernes Muss der Konsequenzen. Die Folgen stellen sich ein, ob man es will oder nicht. Und dann muss das verhängnisvolle Dilemma entschieden werden: vorwärts oder rückwärts, fortgesetzter Kampf oder Rückzug!

Richtet der Polizeikrieg gegen die Sozialdemokratie wenig aus, so wird er dann desto erbitterter geführt. Und je erbitterter er geführt wird, desto mehr zersetzt er die politischen Rechtsverhältnisse. Und je weiter diese Zersetzung der politischen Rechtsverhältnisse fortschreitet, je weniger von der gesetzlich garantierten Freiheit der politischen Betätigung übrigbleibt, desto notwendiger wird es, weitere gesetzliche Einschränkungen der politischen Freiheit herbeizuführen, oder aber der Polizeiwillkür ein Ende zu setzen. Ins Unendliche kann der Zwiespalt und der Widerspruch nicht geführt werden: Entweder man passt die polizeiliche Handhabung den Gesetzen an, oder die Gesetze der polizeilichen Praxis.

Welches sind aber die äußersten Konsequenzen der Beschränkungen der Presse, der Vereine und der Versammlungen?

Für die Presse ist diese äußerste Konsequenz: die Präventivzensur. Wenn es ein wirksames Mittel der Beschränkung der Presse gibt, so ist es zweifellos nur die Präventivzensur.

Solange die Veröffentlichung von vornherein erlaubt ist und erst nachher die strafrechtliche Verfolgung eintritt, ist die Presse, wie schon dargelegt worden ist, im allgemeinen unfassbar. Denn dann liegt es auf seiten der vollziehenden Gewalt, den Beweis zu führen, dass etwas gegen die Gesetze Verstoßendes gedruckt worden ist. Es lässt sich aber für jedes Ding eine Ausdrucksform finden, die gegen die Strafgesetze nicht verstößt.

Dagegen herrscht unter der Präventivzensur der Grundsatz: Jede Publikation ist verboten, oder anders: nur mit Erlaubnis des Zensor, darf gedruckt werden. Wenn nun aber der Zensor die Veröffentlichung nicht erlaubt, so ist es auf seiten des Verfassers, den Beweis zu führen, dass die Deutung des Zensor, falsch sei. Er hat der vollziehenden Gewalt den Prozess zu machen, während früher das Umgekehrte eintraf. Die Situation ist total verändert.

Unter der Präventivzensur erscheint also überhaupt nur das, was der vollziehenden Gewalt genehm ist, bzw. den Instruktionen des Zensors entspricht. Das ist nicht mehr bloß Einschränkung, sondern Aufhebung der Pressefreiheit.

Am Ende gelingt es freilich auch der Präventivzensur nicht, die der Regierung unliebsame Literatur zu vernichten. Das beweist die Erfahrung. Man muss sich wahrlich schämen, dass man zum Schlusse des Jahrhunderts dergleichen banale Sachen noch zu erörtern hat. So herrlich weit hat es die Bourgeoisie gebracht.

Einmal sind auch Zensoren Menschen, folglich können sie düpiert werden. Sodann bildet in solchen Fällen die Literatur die absonderlichsten Arten des indirekten Meinungsaustausches mit dem Publikum heraus, so in der Gestalt der Satire, des Theaterstücks usw. Schließlich bleibt die Möglichkeit der geheimen Publikation und des Einschmuggelns vom Ausland. Das eklatanteste Beispiel dieser letzteren Art ist bekanntlich der Zürcher „Sozialdemokrat“, der trotz aller Hindernisse regelmäßig allwöchentlich in Zehntausenden von Exemplaren in Deutschland eintraf und verbreitet wurde.

Vollends versagt die Präventivzensur selbstverständlich ihre Wirkung, wenn neben ihr die Redefreiheit fortbestehen bleibt. Also erfordert die Präventivzensur als unvermeidliches Gegenstück die Aufhebung der Vereins- und Versammlungsfreiheit.

Aufhebung, nicht bloß Einschränkung. Wie bei der Presse, so müsste auch bei den Vereinen und Versammlungen das Verbot als Grundsatz gelten. Die Dispensation von diesem Verbot, die Erlaubnis, Vereine zu gründen, Versammlungen abzuhalten, müsste vollständig in die Hände der vollziehenden Gewalt, der Regierung, gelegt werden. Und auf diese Weise lässt sich allerdings die Vereins- und Versammlungstätigkeit, sieht man von den wenig bedeutenden geheimen Organisationen ab, nach dem Wunsche der Regierung regeln. Beispiele: Russland, die Türkei und China.

Aber es ist klar, dass, wenn diese äußeren Konsequenzen der politischen Reaktion gezogen sind, dann die Aufhebung des allgemeinen Wahlrechts erst recht als staatserhaltende Notwendigkeit sich erweist. Denn der gesamte Groll, der durch die politischen Beschränkungen erzeugt worden wäre, würde bei den Wahlen zu einem explosiven Ausdruck kommen, um so mehr als er sonst kein Ausdrucksmittel hätte. So zieht eins das andere in einer unverbrüchlichen Kettenfolge nach sich.

Aber es ist sehr zweifelhaft, ob selbst die Aufhebung des allgemeinen Wahlrechts bei einem solchen Zustand extremer Reaktion, die alles getroffen hätte, was nur irgendwie freiheitlich oder demokratisch denkt, ausreichen würde, um auf die Dauer eine der Regierung genehme Reichstagsmajorität aufrechtzuhalten. Denn eine solche politische Ordnung würde ja die öffentliche Betätigung jeder Opposition außerhalb des Reichstags unmöglich machen, folglich bei der großen Mannigfaltigkeit der bürgerlichen Interessen eine parlamentarische Opposition förmlich erzwingen.

Andererseits haben wir bereits gezeigt, mit welchen fast unüberwindlichen Schwierigkeiten die Einführung einer Zensuswahl im Deutschen Reiche verbunden ist.

Das ist der Widerspruch: weil man die Opposition aus dem Reichstag nicht hinausdrängen kann, so sucht man ihre öffentliche Tätigkeit durch Einschränkung der politischen Freiheit zu hemmen – aber je mehr man die politische Tätigkeit außerhalb des Parlamentshauses erschwert, desto mehr stärkt man die parlamentarische Opposition; und hebt man die politische Freiheit gänzlich auf, dann hat man erst recht die Opposition im Hause!

Gibt es nun keinen Ausweg aus diesem fatalen Dilemma? Doch, man muss nur die weitere Konsequenz der Reaktion ziehen. Wenn man nun einmal die Opposition im Reichstag nicht los werden kann, so muss man offenbar suchen, ihre politische Wirksamkeit innerhalb des Reichstags zu beschränken. Diese Aufgabe ist juristisch sehr leicht zu lösen. Die gesetzgeberische Initiative des Reichstags ist bekanntlich auch jetzt in enge Bahnen geleitet: kein Reichtagsbeschluss kann Gesetz werden, wenn es der Bundesrat nicht will. Man braucht dies bloß in der Weise zu vervollständigen, dass man das Ablehnungsrecht des Reichstags beschränkt. So z. B.: Wenn eine Regierungsvorlage vom Reichstag dreimal abgelehnt, aber vom Bundesrat angenommen wird, so soll sie dennoch Gesetzeskraft haben. Mit anderen Worten, das Ablehnungsrecht des Reichstags soll nur bis zum dritten Male gelten. Wird das durchgeführt, so hat die Regierung allerdings keine parlamentarische Opposition mehr zu fürchten, aber zugleich ist sie es nunmehr allein, die die Gesetze macht, und der Reichstag hört auf, der gesetzgebende Körper des Landes zu sein,

Also: Aufhebung der Pressefreiheit, Aufhebung der Koalitions- und Versammlungsfreiheit, Aufhebung des allgemeinen Wahlrechts, Aufhebung der gesetzgeberischen Kompetenz des Reichstags – das alles hängt eng miteinander zusammen, hat eins das andere zur unabwendbaren Folge.

Bei diesem reaktionären Paternoster ist es ganz gleich, an welcher Stelle man das Abzählen beginnt. Unmerklich gelangt man weiter, zählt die ganze Reihe ab, und schließlich weis man gar nicht mehr, wo der Anfang ist und wo das Ende. Man beginne mit der Einschränkung der Kompetenz des Reichstags. Es ist klar, dass man dann auch sofort das allgemeine Wahlrecht würde abschaffen müssen, sonst würde es einen unausgesetzten erbitterten Kampf geben zwischen Reichstag und Regierung. Oder man mache den Anfang mit der Einführung der Zensuswahl. Dann wird die Opposition mit desto größerer Wucht sich in die Presse und Versammlungen werfen. Folglich Aufhebung der Pressefreiheit usw. Es bestätigt sich, was wir schon früher erörtert haben: dass die Aufhebung des allgemeinen Wahlrechts nicht eine Maßregel für sich bleiben kann, sondern die brutalste allgemeine politische Reaktion nach sich ziehen muss.

Die Reaktionäre denken diese Folgen nicht aus. Sie steuern darauf los ins Blaue hinein. Aber die Wirklichkeit kümmert sich nicht um die Logik der Staatsmänner. Sie hat ihre eigene Logik. Und sie zwingt den Höchsten wie den Niedrigsten, ihr zu folgen oder auf halbem Wege umzukehren.

Der Kampf gegen die Sozialdemokratie, wenn in angegebener Weise fortgeführt, verwandelt sich mit unerbittlicher Konsequenz in einen Kampf zweier politischer Systeme, zweier politischer Gesellschaftsordnungen. Das ist doch wahrlich kein Wunder. Die Sozialdemokratie tut nichts anderes, als dass sie innerhalb der gegebenen politischen Verfassung sich betätigt. Folglich, wenn man diese Tätigkeit hindern will, so muss man die Verfassung einschränken. Indem man gegen die politische Organisation der Arbeiterklasse kämpft, kämpft man schließlich gegen den Konstitutionalismus überhaupt, der erst diese Organisation in breitem Maßstab ermöglichte. Die gesamte deutsche Reaktion erscheint von diesem Standpunkt aus als Rückkehr zu den alten Zeiten. Man will Stufe für Stufe die Leiter heruntersteigen, die man früher aufgestiegen ist – was Wunder, dass man dann schließlich dort anlangt, woher man ausgegangen ist – beim Absolutismus?

Darum, wenn die politische Verfolgung der Sozialdemokratie auf eine solche Weise weiter fortschreitet, so muss unbedingt einmal nicht nur die Sozialdemokratie, sondern auch das Bürgertum wieder vor der Frage stehen: Konstitutionalismus oder Absolutismus?
 

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Anmerkung

1. Da die politische Bedeutung der Landtage, neben dem Reichstag eine sehr untergeordnete ist, so kommen hier die Gegensätze unter den bürgerlichen Parteien weniger scharf zur Geltung. Dennoch hütete man sich in Sachsen wohl, das allgemeine Wahlrecht zu beseitigen, sondern man führte die Dreiklassenwahlen in preußischer Art. also mit gemeinsamer Abgeordnetenwahl, ein, wodurch nur erreicht wird, dass weder die Arbeiterklasse, noch der Mittelstand, noch die Kapitalistenklasse ihre Abgeordneten selbständig wählen können. Das ist ein Wahlsystem, das sich selbst aufhebt, das überhaupt nur funktionieren kann, wenn eine Wählerklasse freiwillig auf ihre Selbständigkeit oder ihr Wahlrecht verzichtet. Die sächsische Bourgeoisie spekulierte, ermuntert durch die preußischen Erfahrungen, darauf, dass die Sozialdemokratie diese Kasteiung an sich üben wird. Schon bei den nächsten Wahlen wird sich der reaktionäre Rausch verfliegen – desto bitterer wird der Katzenjammer sein.


Zuletzt aktualisiert am 22. April 2024