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Aus: Ungezeichnete Leitartikel,Sächsische Arbeiter-Zeitung, Nr. 168–170, 23.–25. Juli 1896, aus Anlass des Londoner Kongresses der Zweiten Internationale.
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Die soziale Revolution kann nicht mehr das Werk einer Nation oder eines Staates sein, wenn man sich die Staaten innerhalb ihrer jetzigen politischen Grenzen denkt. Die Entwicklung des Weltmarkts hat die einzelnen Industriestaaten in so innige produktive Verbindungen miteinander gebracht, dass sie weder kapitalistisch noch sozialistisch getrennt von einander existieren können. Die internationale Verbindung des klassenbewussten Proletariats ist deshalb nicht mehr bloß der Ausdruck des aus der Gleichartigkeit der ökonomischen Lage entspringenden Solidaritätsgefühls, sondern das Ergebnis des Zusammenhanges, der gegenseitigen Bedingtheit, der engen Verknüpfung des proletarischen Klassenkampfes der einzelnen Länder. Aber je mehr die sozialrevolutionäre Bewegung wenigstens in Europa zu einem einheitlichen Prozess wird, desto mehr sieht sich die Sozialdemokratie veranlasst, Stellung zu nehmen zu den aus der bestehenden Staaten- und Nationengliederung sich ergebenden Konflikten. Aber nicht allein in Bezug auf das Endziel seines Klassenkampfes, sondern auch in Bezug auf die unmittelbaren Interessen der Gegenwart sieht sich das Proletariat immer mehr in die Interessensphäre der kapitalistischen Staats- und Nationalitätenstreitigkeiten mit hineingezogen. Die Frage z. B., ob England oder Russland im indischen oder im stillen Ozean herrschen soll, ist zugleich eine Frage der Entwicklung nicht nur der englischen, sondern der westeuropäischen Industrie überhaupt, und von der industriellen Entwicklung hängt am wesentlichsten in jedem gegebenen Augenblick die Lage der Arbeiterklasse an. Aber selbst für die politische Entwicklung Westeuropas ist es von der weitgehendsten Bedeutung, welche Stellung Russland innerhalb der internationalen Politik einnimmt.
Diese Fragen haben jetzt ein aktuelles Interesse, weil wir bereits seit Jahr und Tag wieder in eine Periode internationaler politischer Konflikte eingetreten sind. Die europäische Diplomatie ist emsig an der Arbeit, und was sie zusammenbraut, das kann entscheiden über Krieg und Frieden. Das ist uns durchaus nicht gleichgültig. Und so wollen wir uns denn Rechenschaft geben von der Entwicklung, die stattfindet, und Stellung nehmen zu den kommenden Ereignissen.
Eine Änderung im politischen Gleichgewicht Europas ist eingetreten mit dem Aufkommen der russischen-japanischen Freundschaft. Auf dem Dreibund beruhte bekanntlich die Herrschaft Deutschland über Europa. Aber eben deshalb war seine natürliche Folge die „entente cordiale“ zwischen Frankreich und Russland, das unnatürlichste politische Bündnis der Welt. Es war jedoch nicht schwer vorauszusehen, dass, nachdem der Chauvin sich weidlich an der Russenfreundschaft berauscht hat, er davon krepieren müsste. Da zu einem Krieg zwischen Deutschland und Russland keine zwingende Veranlassung vorliegt, Russland daran auch gar nicht denkt, vielmehr nicht aufhört, mit Deutschland zu liebäugeln, so war die Freundschaft zwischen Russland und Frankreich eine rein platonische. Ohne konkrete unmittelbar zu verwirklichende Aufgaben musste die französische Begeisterung für Russland sich desto schneller verflüchtigen, je größer die Rechnung der russischen Anleihen anwuchs und je friedlicher der Dreibund auftrat. Schon waren auch die Zeichen der Ernüchterung und Enttäuschung deutlich wahrnehmbar, als ein Ereignis eintrat, welches dem französisch-russischen Bündnis respektive „Einverständnis“ einen ganz anderen Sinn und Charakter gegeben hat. Dieses Ereignis war der chinesisch-japanische Krieg.
Der chinesisch-japanische Krieg hat den mittel- und ostasiatischen Markt in den Vordergrund der Weltmarktkonkurrenz geschoben. Dies erweckte wieder die alten Streitigkeiten der europäischen Industriestaaten um die Beherrschung des indischen Ozeans. Das bedeutet einen Kampf der beteiligten Industriestaaten gegen England. Und auf diesem gemeinsamen Boden konkreter Interessen raufen sich die französische Bourgeoisie und die russische Regierung als Vertreterin der dynastischen und der industriellen Interessen Russlands zusammen. Währenddem die Ausdehnung der russischen Machtsphäre in Asien auf den hartnäckigen Widerstand Englands stößt, träumt bereits die französische Bourgeoisie davon, England aus Ägypten zu verdrängen. Die französisch-russische „entente“ hat also in ihrer internationalen Stellung eine Drehung um 90 Grad gemacht, und ihre Spitze, die früher gegen Deutschland gerichtet war, ist jetzt England zugekehrt.
Das ist eine widerspruchsvolle Situation. Um die Suprematie Englands zu brechen, ist ein Bündnis mit Deutschland unumgänglich. Der Chauvinismus der französischen Bourgeoisie, der die französisch-russische Allianz geschaffen, wird also durch den Gang der von ihm heraufbeschworenen Entwicklung dazu geführt, sich selbst zu entleiben. Das sind aber Dinge, welche die Volksmassen nicht so leicht begreifen, so befindet sich denn die französische Bourgeoisie in einer recht fatalen Lage. Sie schielt lüstern nach Ägypten, schimpft weidlich auf England und umgeht die Frage eines Einverständnisses mit Deutschland wie die Katze den heißen Brei. So steckt sie zwischen ihren alten Sünden und neuen Gelüsten und sieht keinen Ausweg, ist vor allem zu keinem entschlossenen Handeln fähig.
Die industrielle Bourgeoisie Deutschlands, die seit vielen Jahren einen erbitterten Konkurrenzkampf mit England auf dem Weltmarkt führt, lauert nur auf die Gelegenheit eines Kampfes der Industriestaaten gegen England, um ihrerseits noch als festes Beutestück zu erhaschen. Die deutsche Diplomatie katzbuckelt längst vor Russland und sie sucht sich auch bei Frankreich einzuschmeicheln. Aber Deutschland setzt bei diesem Spiel den Dreibund auf die Karte. Denn eine Erweiterung der Macht Russlands, zumal nach dem Mittelmeere zu (Kleinasien, Türkei, slawische Balkanstaaten), ist eine brennende Gefahr für Österreich. Es ist zwar neulich von Kautsky bemerkt worden, der Besitz Konstantinopels sei für Russland nicht mehr so wichtig, da es jetzt hauptsächlich nach Ostasien, Mittelasien und Ostindien sich wendet, allein diese Ansicht ist nicht zutreffend. Der „Schlüssel zum Schwarzen Meere“ sperrt die Seeflotte Russlands gänzlich vom ostasiatischen Gewässer ab, ja ohne Konstantinopel ist Russland überhaupt keine Seemacht. Aber grade um seinen Plänen der Beherrschung Mittelasiens und Ostindiens, nachzugeben, genügt ihm das festländische Vordringen mittels der transkaspischen Bahn etc., das übrigens gerade an der Grenze Ostindiens große natürliche Hindernisse vorfindet, nicht, sondern es muss im Stande sein, eine tüchtige Seemacht in das Gewässer des Mittelmeeres und des indischen Ozeans zu setzen. So ist denn Russland nicht nur an dem Besitz des Ausganges zum Mittelmeer, sondern auch sehr daran interessiert, dass Ägypten den englischen Händen entwinden wird. Darum unterlässt es nicht zu intrigieren, in Griechenland, der Türkei, Bulgarien, Armenien, Persien etc. Andererseits wäre die Festsetzung Frankreichs in Ägypten eine Verschiebung der politischen Machtverhältnisse zu Ungunsten Italiens. Kein Wunder deshalb, dass der Dreibund gar manchem in Österreich wie in Italien „verbesserungsfähig“ erscheint!
Es herrscht deshalb in den diplomatischen Beziehungen der europäischen Industriestaaten eine Unentschiedenheit und Unentschlossenheit, ein schwankendes Gleichgewicht, eine scheinbare Ruhe bei größter Unsicherheit der Situation, so dass der geringste Zufall Ereignisse von eminenter Tragweite zeitigen kann. Den Vorteil von dieser Konstellation der politischen Verhältnisse hat ausschließlich Russland.
Die französische Freundschaft hat den russischen Absolutismus vor dem sicheren Bankrott gerettet. Das war die erzreaktionäre Leistung der französischen Bourgeoisie, die verhängnisvoll wird für die Kultur Europas. Ohne die fast schrankenlose Kreditgewährung Frankreichs, nachdem der deutsche und englische Geldmarkt Russland verschlossen wurden, hätte der Zarismus vielleicht schon vor, aber sehr wahrscheinlich während der Hungersnot kapitulieren resp. seine Landesverteidigung zusammenberufen müssen. Statt den Augenblick der größten wirtschaftlichen Schwäche und des finanziellen Ruins des zarischen Russlands dazu auszunützen, um durch ein gemeinsames Vorgehen der europäischen Kulturstaaten diesen Hort der europäischen Reaktion in seiner politischen Grundlage, dem Absolutismus zu erschüttern, führte der unselige Zwist zwischen Frankreich und Deutschland dazu, dass man dem Zarismus vielmehr über die Klippen hinaushalf. Und als die gefährliche Zeit überstanden war, da wendete sich das Blatt, und das Zarentum, das soeben so sehr der fremden Unterstützung bedurfte, erdrückt förmlich durch seinen politischen Einfluss ganz Europa und Asien. Die Staaten des europäischen Festlandes halten einander gegenseitig und alle zusammen England gebunden – dadurch bekommt Russland freie Hand und mehr braucht es vorläufig nicht. Die Politik Russlands ist für die nächste Zeit durchaus nicht aggressiv im Sinne eines gewaltsamen politischen Vordringens. Die zaristische Politik ist jetzt vor allem bestrebt, durch den Ausbau des Eisenbahnwesens in Sibirien und Zentralasien und die Hand in Hand damit gehende Entwicklung des Handelsverkehrs China, Mittelasien, Persien und Kleinasien mit sich wirtschaftlich zu verbinden. Zugleich sucht Russland Ansiedlungs- und Industriezentren in Sibirien und Zentralasien zu entwickeln. Es vermehrt seine asiatische Bevölkerung, befestigt und erweitert seine strategischen Positionen und sammelt dort Militär und Munition an. Und es intrigiert, wie schon erwähnt, in Europa, um sich den Zugang zum Mittelmeer bzw. zum indischen und zum stillen Ozean zu verschaffen. Die russische Regierung hat nichts Geringeres im Sinne, als seine planmäßige wirtschaftliche Eroberung und regelrechte strategische Umzingelung der genannten asiatischen Gebiete, eine Arbeit, die auf viele Jahre berechnet ist, aber mit eiserner Energie durchgeführt wird und unabwendbar zum Ziele führen muss, wen nicht eine Änderung der politischen und wirtschaftlichen Zustände Europas und die innere politische Entwicklung Russlands selbst diesen hochmütigen Plänen eine Schranke setzen. Die Politik des russischen Zaren ist also für die nächsten Jahre eminent „friedlich“ – so sehr friedlich, dass man es vielleicht mit gutem Erfolg wagen könnte, in Petersburg einen Friedenskongress abzuhalten. Aber das beweist eben nur, wie leer und schal die Idee des Weltfriedens ist, wenn man sie von den allgemeinen ökonomischen und politischen Zusammenhängen losschält. Der allgemeine Friede ist unter den gegebenen Verhältnissen dem russischen Zarismus eine willkommene Gelegenheit, sich die Kräfte zur Knechtung des gesamten kulturellen Europas zu sammeln.
Jeder Augenblick, den man Russland ruhig gewähren lässt, steigert dessen Macht in einem ungeahnten, unberechenbaren Grade. Wenn aber früher die Gefahr für Europa bloß in der politischen Macht Russlands lag, die zwar absolut sehr groß, aber relativ, im Verhältnis zur Volkszahl, infolge der Armut des Landes, äußerst gering war, so tritt jetzt als neuer und noch gewaltigerer Faktor die wirtschaftliche bzw. industrielle Macht Russlands auf. Jeder schritt vorwärts auf dem gekennzeichneten Wege der wirtschaftlichen Eroberung Asiens macht Russland zu einem desto gefährlicheren Konkurrenten des industriellen Europas. Dieses ungeheure Landgebiet, das fast sämtliche geographische Zonen umfasst, wird mit der Zeit im Stande sein, ebenso sehr mit der englischen Baumwollindustrie wie mit der deutschen Wollenmanufaktur und der französischen Seidenweberei zu konkurrieren. Ansätze dazu, und zum Teil sehr bedeutende und kennzeichnende Ansätze, sind schon jetzt vorhanden. Andererseits mit der wirtschaftlichen Entwicklung steigt auch die politische Macht Russlands.
Erst das industrielle Russland wird zeigen, welche politische Gewalt dieser Staat, der eine Bevölkerung von über 100 Millionen umfasst, zu entdecken vermag.
Dies ist die Gefahr, welche der Zwist und Hader der kapitalistischen Industriestaaten für Westeuropa heraufbeschwören. Sie ist längst vorausgesehen worden, aber jetzt nimmt sie greifbare Gestalten an, und sie ist viel schrecklicher noch als die Invasion der Mongolen, die vorläufig nur noch auf dem Bilde des Herrn Knackfuß existiert.
Wo ist ein Ausweg?
Um die Stellung der Sozialdemokratie zu den diplomatischen Konflikten der letzten Zeit zu präzisieren, muss man vor allem diese Konflikte auf ihre allgemeine wirtschaftliche Grundlage zurückführen. Und diese gemeinsame Grundlage ist der Wettbewerb um die kolonialen Märkte.
Man gelangt mit der idealistischen Verurteilung der kolonialen Frage nicht weit. Wir können das Kolonialwesen noch so sehr moralisch verdammen, über die Tatsache, dass der auswärtige Markt für die kapitalistische Produktion eine unerlässliche Notwendigkeit ist, kommen wir nicht hinaus. Freilich nach der Beseitigung des Kapitalismus hört diese Frage auf zu existieren. Die relative Überproduktion, die jetzt die kapitalistische Industrie zum Aufsuchen der entferntesten Märkte treibt, wird es in der sozialistischen Gesellschaft nicht geben. Statt ihre Fabrikate an die Kaffern und Hottentotten, an die Turkmemen und Chinesen zu verschleudern, um sie ja nur loszuwerden, wird sie die produzierende Gesellschaft selbst genießen, sofern sie nicht vorzieht, dafür andere Produkte einzutauschen. Eine zufällige absolute Überproduktion in der sozialistischen Gesellschaft, entstanden durch eine unvorhergesehen günstige Konstellation der Produktivkräfte, kann nur zu einem reichlicheren Genuss führen – dagegen die relative Überproduktion der kapitalistischen Gesellschaft, dieses regelmäßige Produkt der Ausbeutung des Proletariats, führt zur Krise, d. h. zur Verelendung, zur Verminderung des Genusses. Aber wir können die Taktik der Gegenwart nicht so gestalten, als ob die Zukunft bereits Gegenwart wäre. In der kapitalistischen Gesellschaft tritt, wenn der auswärtige Markt sich nicht genügend ausdehnt, Geschäftsstockung ein, folglich Arbeitsentlassung, Reduktion der Löhne etc. Die Kolonialfrage ist uns nicht bloß die Frage des Schicksals der Neger, Chinesen etc., sondern sie ist eine Frage der gegenwärtige Kampfesinteressen des klassenbewussten Proletariats. Wir können uns ihr gegenüber nicht mit einer allgemeinen Negation begnügen, sondern wir müssen diese Verwicklungen praktisch und für die Gegenwart lösen.
Die Frage des auswärtigen Marktes, stets wichtig für die kapitalistische Produktion, ist jetzt für die Industriestaaten Europas zu einer brennenden geworden. Denn ihre Absatzgebiete: Amerika, Ostindien, Russland, Australien werden selbst zu industriellen Ländern. Währenddem die Notwendigkeit der Ausdehnung des Absatzes wächst, haben die Industriestaaten Europas immer mehr mit der Konkurrenz der jungen Industriegebiete zu rechnen. Die Situation ist die, dass jedem einzelnen Industriestaat Europas sämtliche europäische Industriestaaten und obendrein noch die neu aufkommenden Industrieländer im Wege stehen. Jeder einzelne Staat sucht sich oder seine etwaigen Kolonien durch ein Zollsystem und sonstige Schutzmaßnahmen von den anderen handelspolitisch abzuschließen. Aber jedem einzelnen Staat genügt eben dieses beschränkte Gebiet des „nationalen“ Marktes nicht mehr, und so durchbricht jeder die von den anderen aufgestellten Schranken. Der internationale Handelsverkehr entwickelt sich, trotz der Zollschranken, aber er entwickelt sich langsam. Und je langsamer er sich entwickelt, desto größer das Bedürfnis nach Eröffnung „neuer“ Märkte. Ist das nun nicht ein beweis dafür, dass die Zeit gekommen ist, mit den Schutzzöllen überhaupt zu brechen? Wir wollen den Nachweis führen dass dies tatsächlich der Fall ist, – und dass darin nicht bloß der beste, sondern der einzige Ausweg liegt, aus den kolonialen Wirrungen herauszukommen. Ein Ausweg, zu dem die kapitalistische Produktionsentwicklung unfehlbar führt.
Die produktive Entwicklung der Industriestaaten Europas ist soweit vorgeschritten, dass sie einander sehr wohl auch bei freier Konkurrenz die Waagschale halten können. Konkurrieren sie doch miteinander auf dem Weltmarkte unter Verhältnissen, die sie handelspolitisch gleichstellen. Und wenn z. B. Deutschland mit der englischen Industrie selbst in Ostindien erfolgreich konkurriert, so hat es doch sicher nicht zu befürchten, dass es der freien Zufuhr englischer Fabrikate nach Deutschland nicht wird begegnen können! Wenn die europäischen Industriestaaten bei handelspolitischer Gleichstellung miteinander einen Wettbewerb in China wagen, so werden sie auch in den respektiven eigenen Ländern einander das Gleichgewicht halten können. Die industriellen Schutzzölle, wie sie auf dem europäischen Festlande nach der 70er Krise eingeführt wurden, hatten auch viel weniger zur Grundlage die produktive Minderwertigkeit der respektiven nationalen Industrien als den Wunsch, der Geschäftsstockung durch Abschließung des nationalen Marktes abzuhelfen. Die relativ langsame Entwicklung der Produktion zur Zeit der politischen Depression brachte es mit sich, dass auch handelspolitisch der Schlendrian beibehalten wurde. In dem Maße jedoch, als ganz besonders Deutschland, aber auch die andren europäischen Länder ihren überseeischen Handelsverkehr ausgedehnt haben, trat auch die frage des Schutzes des industriellen inneren Marktes mehr in den Hintergrund. Waren schon gleich zu Anfang in Deutschland und Frankreich die Getreidezölle die Grundlage des ganzen Zollsystems, so hängt jetzt alles an und um diese agrarischen Zölle. In dem Moment, wo in diesen Ländern die Getreidezölle abgeschafft werden, verschwindet auf der Stelle auch das industrielle Anhängsel des Zollsystems.
Die europäische Industrie versöhnte sich leicht mit den Getreidezöllen, so lange sie für sich keinen unmittelbaren Nachteil daraus entspringen sah. Die Getreidepreise konnten nicht auf die Dauer erhöht werden, im Gegenteil, sie sanken unter dem Drucke der amerikanischen Konkurrenz. Und obwohl sich mit der Zeit ein sehr beträchtlicher Unterschied des Getreidepreises zwischen England und den Schutzzolländern herausgebildet hat, so blieben doch in England die Arbeitslöhne dank der vorzüglichen Organisation der Gewerkschaften trotz der ungünstigen Geschäftslage viel höher als in Deutschland. Aber mit der Zeit begannen die Getreidezölle, sich in einer ganz ungewohnten Weise bemerkbar zu machen: in der verlangsamten Entwicklung der industriellen Nachfrage aus Amerika und aus Russland, in dem verstärkten Wettbewerb der eigenen Industrie auf dem amerikanischen Markte, in dem industriellen Hochschutzzoll in Amerika wie in Russland. Diese Umstände mussten selbstverständlich desto fühlbarer werden, je mehr die Industrien nach auswärtigem Absatz suchten. Darum war es auch kein Zufall, dass Deutschland sich bereits veranlasst sah, die Getreidezölle heraufzusetzen.
Man schaffe jetzt die Zölle einschließlich der Getreidezölle ab und man verhilft dadurch allein der europäischen Industrie zu einem mächtigen Aufschwung. Die industrielle Nachfrage Amerikas und Russlands steigt mit der Getreideausfuhr nach Europa. Infolge der Verbilligung des Brotes steigt die industrielle Nachfrage der Arbeiterklasse Europas, es steigt zugleich ihre Nachfrage nach besseren Lebensmitteln, die dem Bauerntum zu Gute kommt. Der Handelsverkehr der Industriestaaten Europas wird inniger, vielseitiger, umfassender. Die freie Konkurrenz bedeutet auch an und für sich keineswegs die Verdrängung einer Industrie durch eine andere, sie bedeutet vor allem Entwicklung der Industrie. Wenn z. B. billige englische Garne nach Deutschland kommen, so ist das Resultat eine Hebung der Weberei, und der Konsum an deutschen Garnen braucht folglich keineswegs zurückzugehen. So gibt es keine einzige Ware, die nicht ihre komplementäre Produktion hätte. Eine Industrie spornt die andere an – aber wie weit das fortgeht, hängt von der allgemeinen Konstellation des Weltmarktes ab.
Der Übergang zur freien Konkurrenz würde die europäische Industrie auf eine neue, höhere Produktionsstufe heben. Den langsam innerhalb der Stagnation sich abquälenden und absterbenden Kleinbetrieben würde dann allerdings durch die Großindustrie rasch den Garaus gemacht werden. Gleichzeitig aber kann sich erst auf Grundlage des freien Handelsverkehrs eine wirklich europäische Arbeitsteilung herausbilden, die sich den natürlichen, technischen, nationalen Eigentümlichkeiten anpasst und nicht durch die Zollschranken beengt und verkrüppelt wird. Dann tritt Europa als ein einheitlicher Wirtschaftskomplex auf, und nur als solches kann es die Konkurrenz aufnehmen mit den großen Produktionsgebieten, die jetzt den Weltmarkt betreten. Die freie Konkurrenz der Nationen hebt die internationale Konkurrenz auf, d.h. die Konkurrenz ganzer Industriebranchen und Produktionsgebiete miteinander. Sie setzt an ihre stelle die gesellschaftliche Arbeitsteilung und die Konkurrenz, wie sie innerhalb der einzelnen Industriezweige auf dem „inneren Markt“ besteht. Kein einziger europäischer Industriestaat vermag allein der wachsenden produktiven Macht Amerikas und Russlands auf die Dauer zu widerstehen – aber Europa als gemeinsames Industriegebiet, geeinigt und gestärkt durch die Entwicklung des inneren Handelsverkehrs, verfügt noch immer mehr Produktivkräfte als Amerika und Russland zusammen. Andererseits werden durch die Beseitigung der Getreidezölle Amerika und Russland handelspolitisch an Europa gefesselt. Kein besseres Mittel, die Schutzzölle dieser Länder herabzusetzen als seinerseits die Getreidezölle abzuschaffen.
Es leuchtet ein, dass dieser Entwicklung vor allem die agrarischen Interessen im Wege stehen. Der kapitalistische Großgrundbesitz wird sich eben eine Reduktion seiner Renten gefallen lassen müssen. Das ist schon längst im Interesse selbst der Landwirtschaft notwendig. Auch der Aufsaugungsprozess des Bauerntums durch die Industrie wird rascher vor sich gehen. Das ist unabwendbar. Bei alledem, wenn wir auch gern zugeben, dass der rein naturalwirtschaftende, selbständige, unverschuldete, genügend mit Land und Arbeitsvieh versehene Bauer ich in einer viel besseren wirtschaftlichen Lage befindet als der Fabrikarbeiter, so dürfen wir doch nicht verkennen, dass die Lage des Parzellenbauern, der immer mehr auf den industriellen Nebenerwerb angewiesen wird, eine ganz andre ist. Hier handelt es sich oft nur um einen Übergang von Hausindustrie zur Fabrikarbeit, folglich um eine wirtschaftliche Besserstellung.
Je mehr die Entwicklung des Weltmarkts die Einigung der europäischen Industrie zur Existenzfrage der kapitalistischen Produktion Europas macht, desto mehr werden die Agrarier zurückweichen müssen. Desto größeren Lärm werden sie freilich machen – aber ihre Zeit ist vorbei!
Die wirtschaftliche Einigung wird Europa nicht nur konkurrenzfähig auf dem Weltmarkt machen, sondern sie wird auch von eminenter sozialpolitischer Bedeutung sein. Sie wird es erst dem europäischen Proletariat ermöglichen, durch ein gemeinsames Vorgehen den Arbeiterschutz vor allem die Frage des Arbeitstages international zu regeln. Sie wird auch zur politischen Einigung Europas führen im Sinne einer Föderation auf demokratischer Grundlage. Dadurch wird u. a. die elsass-lothringische Frage aus der Welt geschafft.
Nach alledem ist das internationale Programm der Sozialdemokratie für die nächste Zeit kurz gefasst folgendes: Abschaffung der Schutzzölle und vor allem der Getreidezölle. Internationale Arbeiterschutzgesetzgebung. Politische Einigung Europas. Internationales Zusammenwirken des Proletariats an Stelle des Zwistes und des Haders der nationalen Bourgeoisien.
Nun wollen wir noch die aus diesem Programm sich für die einzelnen Staaten ergebende Politik andeuten.
In England muss vor allem gegen die handelspolitische Abschließung der Kolonien gekämpft werden. Dieses Handelsmonopol ist ja auch bereits de facto total durchlöchert. Wohin nur der englische Einfluss reicht, da muss der Freihandel herrschen. Stattdessen wird England der europäische Markt vollkommen geöffnet.
In Frankreich wie auf dem gesamten Festland ein Kampf gegen die Zölle. Politisch muss das französisch-russische Bündnis, durch welches Frankreich finanziell ausgebeutet und politisch lahmgelegt wird, mit aller Energie bekämpft werden.
In Deutschland eine Agitation gegen die Liebedienerei vor Russland und für eine Freundschaft mit England. Dies ist hier um so leichter, als Deutschland vor der Alternative steht: entweder ein Kampf gegen England und dann muss es seine Marine der englischen gleichwertig machen, was unzählige Millionen verschlingen wird, oder ein Bündnis mit England, und dann spart es seine Millionen und ist für alle Eventualitäten eines Weltkriegs gesichert.
In Österreich und Italien Festhalten an dem Dreibund, der insofern „verbessert“ werden muss, als seine Spitze sich mit aller Entschiedenheit gegen Russland zu wenden hat.
Auf allen Gebieten Bekämpfung des russischen Einflusses.
Je mehr die wirtschaftliche Konkurrenz Russlands sich geltend machen und seine politische Macht steigern wird, desto mehr wird sich auch die Bourgeoisie gezwungen sehen, mit her jetzigen Politik zu brechen und den soeben skizzierten Weg betreten. Aber sie folgt nur den augenblicklichen Impulsen, weil sie nicht im Stande ist, ihre eigene Entwicklung vorauszusehen. Desto mehr Grund hat die Sozialdemokratie, sich nicht durch die Augenblicksstimmung der bürgerlichen Öffentlichkeit über den wirklichen Zusammenhang der Dinge täuschen zu lassen.
Für die von der Sozialdemokratie einzuschlagende Politik ist aber noch ein wichtiger Umstand maßgebend: die Entwicklung des Weltmarktes ist so weit fortgeschritten, dass die wirtschaftliche und politische Einigung Europas zur unerlässlichen Vorbedingung der sozialen Revolution, d. h. der Beseitigung des Kapitalismus geworden ist.
Soweit über die „diplomatischen“ Verwicklungen.
Es bleibt uns noch, die Stellung der Sozialdemokratie zu den
verschiedenen „nationalen“ Fragen zu kennzeichnen.
Die nächsten politischen Aufgaben der Sozialdemokratie bestehen nicht darin, die politische Zersplitterung Europas zu vermehren, sondern sie zu beseitigen. Schon dadurch erhalten die verschiedenen nationalen Bestrebungen, sofern sie darauf hinausgehen, in Europa neue Kleinstaaten zu schaffen, eine eigene Beleuchtung. Von diesen Fragen hat momentan eine aktuelle Bedeutung die der Wiederherstellung Polens.
Die Frage der kulturellen Einheit Polens hat mit dem proletarischen Klassenkampf nichts zu tun – für uns handelt es sich nur darum, welchen politischen Nutzen die europäische Sozialdemokratie von dieser Bewegung haben könnte?
Die Anhänger der polnischen „Einheit“ appellieren besonders an die Deutschen, die ja auch seiner Zeit für die Einheit Deutschlands gekämpft haben. Sie vergessen, dass das gleiche politische Schlagwort nicht immer den gleichen realen Inhalt hat. Bei der deutschen Einheit handelte es sich um die Umwandlung eines Bündels von Kleinstaaten zu einem Großstaat. Und eine politische Großbildung war auch die italienische Einheit. Die Polen aber wollen aus den bestehenden Großstaaten einen neuen Kleinstaat herausschnitzeln. Und das gibt einen politischen Unterschied!
Die politische Bedeutung eines unabhängigen Polens liegt in einem: in seiner Eigenschaft als Pufferstaat gegenüber Russland. In diesem Sinne hat auch das internationale Proletariat 1863 in London für den Aufstand in Russisch-Polen demonstriert. Aber seitdem haben sich die Verhältnisse geändert. Zu den Ausführungen, welche in dieser Beziehung Genossin Luxemburg und Kautsky in der Neuen Zeit gemacht haben, wollen wir nur folgendes hinzufügen:
Die Zusammenfassung der zerrissenen Teile Polens zu einem politischen Ganzen würde selbstverständlich nicht bloß auf Kosten Russlands geschehen. 1863 hätte das auf Kosten Preußens und Österreichs stattfinden müssen. Das wäre insofern ein gesunder Prozess, als dadurch die beiden reaktionären und rivalisierenden Mächte Deutschlands geschwächt werden und darunter schließlich eine Einigung Deutschlands geschwächt worden und darunter schließlich eine Einigung Deutschlands auf einer viel weiteren Grundlage und unter mehr demokratischen Bedingungen erreicht worden wäre, als nunmehr der Fall ist. Jetzt aber ist die politische Konstellation eine andere. Eine Schwächung des deutschen Reichs durch Losreißung seiner polnischen Provinzen wäre alles weniger denn erwünscht Und für Österreich in seiner jetzigen Gestalt wäre die Amputation Galiziens geradezu verhängnisvoll. Wenn es aber einen Staat gibt, welcher der Natur der Dinge nach Russland feindlich gesinnt ist, so ist das Österreich. Das österreichische Gegengewicht zu Russland ist uns viel wichtiger als der etwaige Pufferstaat Polen.
Aber würde denn ein unabhängiges Polen tatsächlich ein Puffer gegen Russland abgeben? Wie sonderbar, dass man sich nicht die Mühe gegeben hat, diesen Kernpunkt der ganzen Frage einer Analyse zu unterwerfen! Ein unabhängiges Polen ist jetzt nur denkbar als ein industrielles Polen. Dieses unabhängige industrielle Polen wird aber sich in die unangenehme Lage versetzt sehen, hermetisch von allen großen Handelswegen abgeschlossen zu sein. Es wird in ihm das natürliche Bestreben entstehen, sich nach dem Norden dem Meere zu und nach dem Süden der Donau zu auszudehnen. Ein Krieg, der Polen von Russland lostrennt, wirft unfehlbar die russischen Ostseeprovinzen Deutschland in den Schoß (ein teilweiser Ersatz für den Verlust der polnischen Provinzen. So wird schon aus am anderen Tage der polnischen Selbständigkeit ein Konflikt zwischen Polen und Deutschland um den Zugang zum Meere entstehen. Und auf der anderen Seite wird Polen unter den Slawen Österreichs intrigieren. Man glaubt, Russland würde nichts Besseres zu tun wissen als das unabhängige Polen bis aufs Messer zu bekämpfen. Richtig ist nur, dass der russische Zarismus seine Niederlagen nie vergibt, aber auch andererseits versteht sich kein Staat so sehr darauf, seine Ziele auf großen Umwegen zu erreichen als diese halbasiatische Monarchie. Einmal in solchem Grade geschwächt, würde Russland an eine sofortige Zurückeroberung Polens nicht denken können. Dagegen würde es für die nächste Zeit einen gemeinsamen Interessenboden mit dem selbständigen Polen finden in der Unterwühlung der Selbständigkeit Österreichs. Eine Allianz zwischen Russland und Polen, um zwei große slawische Reiche zu bilden, deren Grenzen im Süden längs der Donau laufen, wäre deshalb nicht undenkbar. Polen wäre aber noch deshalb der russischen Freundschaft zugeneigt, weil es sehr interessiert ist an den kontinentalen Wegen Russlands, um auf den russischen und asiatischen Markt zu gelangen.
Die Politik des Proletariats besteht nicht darin, eine slawische Allianz zur Beherrschung des Weltmarktes, sondern eine europäische Föderation zur Bekämpfung Russlands zu bilden.
Wir glauben nach alledem auch nicht, dass die europäische Diplomatie je auf den Gedanken verfallen wird, ein unabhängiges Polen zu bilden – vielmehr würde das einzige Resultat der militärischen Niederwerfung Russlands sein die Annexion Russisch-Polens und der russischen Ostseeprovinzen durch Deutschland.
Wie steht es nun mit den nationalen Kräften selbst, welche die zerrissenen Teile Polens, der Gewalt der Großmächte entgegen, wiedervereinigen sollen? Genossin Luxemburg hat durchaus sachlich, klar und überzeugend nachgewiesen, wie die ökonomische Entwicklung die verschiedenen Volksschichten mit den wirtschaftlichen und politischen Interessen der Annexionsländer immer mehr verbindet und dadurch der Idee eines selbständigen Polens der reale Inhalt entzogen wird, bis sie zum Spielball wird kleinbürgerlicher Ideologen. Diese Beweisführung vermochte auch die offizielle polnische Entgegnung im Vorwärts nicht zu widerlegen. Diese offizielle Entgegnung fällt vor allem dadurch auf, dass sie die deutschen und österreichischen Teile Polens so gut wie gänzlich außer der Debatte lässt, ja aus einer Äußerung könnte man sogar entnehmen, dass es sich überhaupt nur um die politische Selbständigkeit von Russisch-Polen handelt. Dadurch würde die ganze Frage ins Grotesk-Winzige gezogen worden sein. Denn ein neues Warschauer Fürstentum würde ungefährliche gleiche politische Bedeutung haben wie etwa jetzt Rumänien, das heißt gleich Null. Dagegen würde die Industrie Polens, abgeschnitten vom Weltmarkt und von allen Seiten eingeengt durch Schutzzölle, total verkümmern, und dadurch würde der Lebensnerv der kapitalistischen Entwicklung, mit ihr aber auch der sozialrevolutionären und der kulturellen Entwicklung Polens überhaupt unterbunden worden sein. Jedenfalls gibt die offizielle Entgegnung zu, dass die polnische Bevölkerung in Posen und Galizien nicht mehr separatistisch gesinnt sei und dass auch in Russisch-Polen die große Bourgeoisie und der Großgrundbesitz, das heißt die herrschenden Klassen „loyal“ gesinnt seien. Ob das Proletariat national gesinnt sei, diese Frage umgeht der offizielle Opponent, wohl aber empfiehlt er dem Proletariat, für die nationale Selbständigkeit Polens einzutreten, indem er ihm einen utopischen Polenstaat vormalt, in welchem die reinste demokratische Glückseligkeit herrscht. Das ist keine neue Manier, Fragen der realen Politik vom Standpunkte eines Wolkenkuckucksheims zu behandeln!
Kautsky, der zweite Opponent der Genossin Luxemburg, ist selbstverständlich von diesem utopischen Verfahren frei und sucht einen realen Boden für seine Ausführungen in irgendeiner Gesellschaftsschicht. Er findet aber keine außer dem Kleinbürgertum und die „Intelligenz“. Kein Wunder! Wir kennen keine einzige politische Schrulle, von der Idee der Konservierung des Nationalisiertes, wie man eine Fledermaus im Spiritus konserviert, bis zur staatlichen Ausrottung der Hühneraugen, für die man nicht unter dem Kleinbürgertum und der „Intelligenz“ eine Anhängerschaft finden könnte. Und wie immer in solchen Fällen, so sieht sich auch Kautsky genötigt, das Kleinbürgertum für die Parade etwas aufzuputzen. Das Handwerkertum gehe nicht ohne weiteres unter, an Stelle des Meisters trete der „Flicker“ etc. – kurz, es sind Erörterungen, die manchem sozialreformerischen deutschen Professor wie aus dem Sitzleder geschnitten sind. Vergessen aber hat Kautsky, nachzuweisen, wie dieser Auflauf heterogener Volkselemente, zum Teil von wirtschaftlichen und politischen Krüppeln und Invaliden, der dabei noch unter drei Staaten verteilt ist, unter verschiedenen ökonomischen und politischen Verhältnissen lebt, eine derartige politische Großtat wie die Wiederherstellung Polens durchführen kann? Das ist der Kern der Frage.
Da Kautsky selbst die Unzulänglichkeit seines politischen Stützpunktes herausfühlt, so konstruiert er sich aus der jetzt, wie er unumwunden zugibt, antinational gesinnten Bourgeoisie für die Zukunft eine national begeisterte Bourgeoisie. Diese Wandlung soll vor sich gehen unter dem Einfluss der handelspolitischen Bedrängung der polnischen Industrie seitens des in Russland tonangebenden orthodoxen Kapitals. Auch Kautsky reduziert hier die allgemeine Polenfrage auf das Russisch-Polen, was ihr hier jeden Sinn raubt. Die Posenschen Grundbesitzer werden doch nicht deshalb für ein eigenes Polen eintreten, weil die Warschauer Fabrikanten unter allerlei Schikanen leiden. Aber dieser Wechsel auf die Zukunft ist überhaupt uneinlösbar. Um auf dem russischen Markt zu konkurrieren, wird es der polnischen Industrie nie vorteilhaft sein, sich von Russland politisch zu separieren. Denn dadurch würde sie zwischen sich und Russland Zollschranken errichten, die viel schlimmer sein würden als aller Unterschied der Eisenbahntarife in Russland. „Arbeitet“ doch die innerhalb der russischen Zollschranken befindliche polnische Industrie trotz der Schikanen mit Profiten, von denen die deutsche Industrie, die erst die russische Zolllinie passieren muss, bis sie auf den russischen Markt dringt, keine blasse Ahnung hat! Die russische Regierung möchte Polen nicht entbehren, aber die Moskauer Fabrikanten würden einem separierten Polen mit der größten Freude begegnen. Bei alledem ist es eine durchaus beschränkte Auffassung der industriellen Entwicklung eines Landes, will man darin nichts anderes sehen als gegenseitige Konkurrenz der einzelnen Produktionsgebiete. Moskau und Lodz vertragen sich jetzt schon viel besser als früher. Oder hat denn Deutschland die Annexion Elsaß-Lothringens dazu ausgenützt, um dessen Textilindustrie zu vernichten?
Die handelspolitische Benachteiligung der polnischen Industrie gegenüber der russischen seitens der zarischen Regierung führt nicht zur Erweckung des nationalen Gefühls, sondern zur Opposition gegen den Zarismus. Und das ist es, worauf es ankommt und was den Angelpunkt der Ausführungen der Genossin Luxemburg bildet: die nationale polnische Frage wird für Russland durch die allgemeine russische Frage der Beseitigung des Absolutismus ersetzt.
Luxemburg meint: da ein gemeinsames politisches Vorgehen der getrennten Teile Polens unter den gegebenen Verhältnissen unmöglich, die Idee der Wiederherstellung Polens zur Utopie geworden ist, so haben sich die polnischen Arbeiter in jedem einzelnen Lande vollkommen politisch mit der respektiven sozialistischen Arbeiterpartei zu vereinigen. Zweifellos führt die Entwicklung selbst dazu. Der polnische sozialdemokratische Agitator in Deutschland zum Beispiel kann doch das politische Leben dieses Landes nicht ignorieren, sondern er muss eben mitmachen. Er muss zu den Vorlagen und Maßnahmen der deutschen Regierung, zu den parlamentarischen Verhandlungen, zu den politischen Tagesfragen Stellung nehmen. Er muss sich an den Wahlen beteiligen, und gelangt einmal ein polnischer Arbeiter in den Reichstag, so wird er sich nicht der polnischen, sondern der sozialdemokratischen Fraktion anschließen. Und wie im politischen, so zeigt sich auch im gewerkschaftlichen Kampf auf Schritt und Tritt die Gemeinsamkeit der Interessen der deutschen und der polnischen Arbeiter. Wo bleibt hier noch Raum für die nationale Absonderung, wenn die Aufmerksamkeit des polnischen Arbeiters Tag für Tag auf die deutschen politischen und gewerkschaftlichen Interessen gelenkt wird und es in der Praxis keine besonderen polnischen Interessen gibt? Damit der Pole sich in Deutschland vollkommen als Sozialdemokrat betätige, muss er sich als deutscher Bürger fühlen. Im gleichen Maße entfernt er sich von dem Traum eines polnischen Reichs. Nun bedenke man, wie es erst werden wird, wenn es einmal gelingen sollte, einige polnische Arbeitervertreter in den Reichstag zu schicken. Wären die polnischen Separatisten konsequent, so müsste sie darauf drängen, dass die polnischen Abgeordneten gar nicht im Reichstag auftreten, wie es die Elsässer praktiziert haben. Für die deutsche Sozialdemokratie wäre das freilich nicht gerade erwünscht.
Wenn man die polnische Diskussion kritisch untersucht, so findet man es nicht schwer heraus, dass die Grundlage des Streites unter unseren polnischen Parteigenossen das verschiedene Verhalten zum russischen Absolutismus bildet. Hier ist die eigentliche Quelle, die nun zur großen Flut ausgewachsen ist.
Genossin Luxemburg fordert einen entschiedenen und unmittelbaren Kampf gegen den russischen Zarismus respektive für die Änderung des russischen politischen Systems. Dagegen will die jetzige polnische Parteivertretung diesem direkten Kampf möglichst ausweichen. Heißt es doch in der mehrfach erwähnten offiziellen Entgegnung, dass die Parteileitung Russisch-Polens sich „gegen die Aufstellung der Forderung einer russischen Konstitution seitens der polnischen Sozialdemokratie entschieden habe.“
Die jetzige polnische Parteileitung will gegen den russischen Zarismus nur indirekt kämpfen, indem sie die Lostrennung Polens vorbereitet. Dagegen fordert Genossin Luxemburg, dass der politische Kampf gegen den Absolutismus nicht in dem streben nach einem utopischen und abseits liegenden Ziele sich äußere, sondern auf dem realen Boden der gegebenen politischen Verhältnisse sich abspiele, in Reih’ und Glied der russischen sozialrevolutionären Bewegung. Sie fordert, dass dem polnischen Proletariat nicht die Illusion eines zukünftigen polnischen Eldorados, sondern die Notwendigkeit der Erringung einer Konstitution in Russland beigebracht wird.
Die Konsequenz dieses „nationalen“ Verhaltens der polnischen Parteileitung muss die sein, dass sie den Augenblick einer Revolution in Russland dazu ausnutzen wird, um Polen von Russland zu separieren. Heißt es doch jetzt schon in der offiziellen Entgegnung, dass die polnische Nation auch von einem konstitutionellen Russland nichts Gutes zu erwarten habe, dass das einzige Heil in der Selbständigkeit Polens liege. Aber der beste Beweis für die Absicht die der erwähnte Verzicht auf die Aufstellung einer polnischen Konstitution, die doch unentbehrlich ist, wenn man bei der Revolution zusammenwirken will! Welch schädigende Wirkung das haben muss, wenn im Augenblick der höchsten Kraftanspannung ein Teil der revolutionären Armee sich vom Ganzen lostrennt und zur Seite schlägt, braucht nicht erst erörtert zu werden. So verhält sich das nationalistische Kleinbürgertum, Freund Kautsky!
Der Verfasser der offiziellen Entgegnung meint freilich, dass an eine Revolution in Russland für absehbare Zeit überhaupt nicht zu denken sei. Dadurch wirft er aber sein eigenes Gebäude über den Haufen. Denn ohne den Zustand revolutionärer Wirren kommt Polen aus eigener Macht nie zur Separation. Auch die Behauptung, die russischen Sozialdemokraten erwarteten eine (politische) Besserung von der ökonomischen Umwälzung, die erst eine konstitutionelle Bewegung in den Massen der Bourgeoisie schaffen soll, ist grundfalsch. Die russischen Sozialdemokraten behaupten nur, dass man die Arbeiterklasse organisieren muss, wenn man in Russland die politische Freiheit erobern will. Diese Arbeiterklasse ist vorhanden und braucht ebenso wenig wie die russische Bourgeoisie erst durch eine „ökonomische Umwälzung“ vorbereitet zu werden. Wir persönlich sind der Meinung, dass die nächste russische Handelskrisis, zu der dessen industrieller Aufschwung mit Gewalt drängt, eine grundsätzliche Änderung des politischen Systems mit sich bringen wird.
Wir gelangen zu folgenden Schlüssen: Das europäische Proletariat hat in diesem Augenblick kein Interesse an der Wiederherstellung Polens. Dieselbe liegt auch nicht mehr im Interesse der kapitalistischen Großstaaten Europas. Die Entwicklung der einzelnen Landesteile Polens fesselt sie immer mehr und verbindet sie innig mit den Staaten, denen sie angegliedert sind. In Russisch-Polen können sich die nationalistischen Bestrebungen der Polen als recht störend erweisen im Kampf gegen den russischen Absolutismus, ein Kampf, der die nächste gemeinsame Aufgabe aller Nationen Russlands sein müsste und der von größtem politischen Wert ist für das europäische Proletariat.
Zuletzt aktualisiert am 21. April 2024