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Das Land, welches in Europa geschichtlich berufen war, Deutschland nachfolgend, die gleiche Entwicklung vom „Agrikulturland“ zum „Industrieland“ durchzumachen, war Russland. Es schickte sich auch an, diese ihm geschichtlich zugefallene Mission zu erfüllen. Nach dem Krimkrieg, der für Russland, mutatis mutandis, eine analoge Bedeutung hatte, wie die Napoleonischen Kriege für Deutschland, kam die Bauernbefreiung (1861). Und so stieg denn auch die russische Weizenausfuhr von 7,3 Millionen Hektoliter im Dezennium 1851/60 auf 13,3 im Dezennium 1861/70.
Die Vorbedingungen waren auf dem Weltmarkt durchaus vorhanden, um Russland in die Wechselwirkungen der kapitalistischen Weltproduktion hinein zu beziehen. Und um diese Gelegenheit vollauf auszunützen, baute Russland Eisenbahnen, legte Häfen an und setzte seine Einfuhrzölle herunter.
Die zu erwarteten Wirkungen schienen auch sich einstellen zu wollen. Zunächst freilich gab es nach 1861 eine wirtschaftliche Depression, analog der deutschen Krise der zwanziger Jahre. Aber nachdem schon 1863 der tiefste Punkt erreicht wurde, begann eine rasch aufsteigende Bewegung, die besonders in der Einfuhr von Rohstoffen, Halbfabrikaten und Maschinen zum Ausdruck kam, ein Zeichen, dass sich Ansätze einer russischen Industrie bildeten.
Es ist nicht schwer zu bestimmen, wie die weitere Entwicklung vor sich gegangen wäre, wenn nicht die Ereignisse eingetreten wären, die tatsächlich den Zusammenhang des Weltmarktes ganz anders gestaltet haben und die weiter unten zu erörtern sind. Die Getreideausfuhr Russlands hätte sich immer mehr erweitert damit aber auch sein industrieller Markt und seine eigene Industrie. Dadurch bedingt, wäre eine aufsteigende Bewegung der Getreidepreise, der Grundrente, der Bodenpreise, der „Produktionskosten“ eingetreten. Bis, in näherer oder fernerer Zukunft, ein Ausgleich der Getreidepreise in Europa stattgefunden hätte, hätte jedenfalls die Intensität der Konkurrenz auf dem Getreidemarkt fortwährend abgenommen, nicht aber, wie es in Wirklichkeit der Fall war, unausgesetzt zugenommen. Die Getreidepreise wären, nachdem ihr tiefster Staub etwa während der siebziger Industriekrise erreicht worden wäre, nicht mehr gefallen, sondern gestiegen. In Wirklichkeit sinken die Getreidepreise seit Ende die siebziger Jahre unaufhörlich, was eben das Kennzeichnende der heutigen „Not der Landwirtschaft“ ist.
Die Agrarkrise wäre deshalb Europa und insbesondere Deutschland nicht erspart geblieben. Aber sie wäre aufgetreten und würde vergehen in analoger Weise wie die englischen Agrarkrisen nach den Napoleonischen Kriegen und nach der Aufhebung der Kornzölle. In Deutschland hätte vor allem ein Zurückdrängen des Roggenbaues durch den Weizenbau stattgefunden. Unterdes hätte eine Reduktion der Bodenpreise nebst Anwendung einer verbesserten Produktionstechnik auf Grundalge der allmählich wieder steigenden Getreidepreise eine neue Prosperitätsperiode der kapitalistischen Landwirtschaft inauguriert.
Aber das kam alles ganz anders. Und dass es anders kam, ist vor allem die Schuld der Vereinigten Staaten von Nordamerika. Gerade als die Geschichte die europäischen Verhältnisse vortrefflich zum Klappen arrangierte, da trat der unternehmende Yankee geschäftig dazwischen, stieß respektlos die historischen Vorrechte der einzelnen Länder mit den Füßen nach allen Seiten und mischte die Verhältnisse nach seinem Pläsier.
Die Anbaufläche der Vereinigten Staaten entwickelte sich rasch. Dementsprechend, aber noch viel rascher dehnte sich die amerikanische Weizenausfuhr aus.
Die amerikanische Weizenausfuhr ging zuerst nach England, dann nach Frankreich, dann nach Belgien und Deutschland, welch letzteres im Jahre 1868 die ersten 4.000 Bushel amerikanischen Weizen eingeführt hat. Wie nun der Konkurrenzkampf auf dem europäischen Getreidemarkt sich entwickelt hat, zeigen die von Sering berechneten Prozentanteile der einzelnen Länder an der Weizenversorgung Englands:
Herkunftsländer |
1846–50 |
1851–55 |
1856–60 |
1861–65 |
1866–70 |
1871–75 |
1876–80 |
1881–85 |
Russland |
19,7 |
16,9 |
19,8 |
20,1 |
33,0 |
27,1 |
14,9 |
15,0 |
Vereinigte Staaten |
6,2 |
11,6 |
18,8 |
32,1 |
22,8 |
40,9 |
54,0 |
48,8 |
Deutschland |
31,7 |
29,2 |
23,5 |
23,2 |
18,2 |
8,2 |
6,9 |
3,4 |
Frankreich |
9,3 |
5,5 |
11,6 |
3,4 |
3,1 |
2,7 |
0,7 |
0,01 |
Andere Länder |
33,1 |
16,8 |
26,3 |
21,2 |
22,9 |
21,2 |
23,5 |
32,8 |
Bis 1861 beherrscht Deutschland den englischen Getreidemarkt und auch die Weizeneinfuhr aus Frankreich ist nicht unbedeutend. 1861 bis 1865 tritt Russland die Führung an, aber ach, die Freude ist nicht ungetrübt, denn schon folgen ihm die Vereinigten Staaten auf die Fersen. Seit 1871 drängt Amerika mit Gewalt vor, schiebt Russland vollkommen bei Seite und nimmt eine Position ein, wie kein anderes Land vorher. Nur in der letzten, oben verzeichneten Periode zeigt sich bereits eine Abschwächung in Folge der aufkommenden Konkurrenz Ostindiens und Australiens.
Es handelt sich bei alledem keineswegs bloß um die Substituierung eines Landes durch das andere auf dem Weltmarkt: Russland durch die Vereinigten Staaten. Es müssen, um die eingetretene Entwicklung des Weltmarkts, vor allem um die landwirtschaftlichen Zustände Europas zu begreifen, in Betracht gezogen werden: der Charakter Amerikas als kapitalistisches Kolonialgebiet, die Wechselwirkung zwischen ihm und den Stammländern, die Verschiebung der gegenseitigen Handelsverhältnisse der europäischen Staaten durch die Dazwischenkunft der amerikanischen Getreidezufuhr, sowie die Wirkungen, welches dieses auf die Entwicklung der europäischen Industrie hatte. Weder die amerikanische Konkurrenz, noch die russische Konkurrenz, noch beide zusammen genügen, um die gegenwärtige „Not der Landwirtschaft“ zu erklären, vielmehr müssen sie als integrierende Teile der kapitalistischen Weltproduktion erfasst werden, in deren Gesamtbewegung allein die Lösung des Problems liegt.
Worauf die landwirtschaftliche Überlegenheit Amerikas im Allgemeinen beruht, braucht nach den vorangehenden theoretischen Darlegungen nicht erst nachgewiesen zu werden. Es genügt, wenn wir unsere weiteren Erörterungen an das Zeugnis des gründlichsten deutschen Erforschers der amerikanischen Landwirtschaft, Max Sering, anzuknüpfen. Dieser kommt in seinen allgemeinen Betrachtungen zum Schlusse:
„Aus dem allem ergibt sich, dass der einzige volkswirtschaftliche Vorzug, welchen die landwirtschaftliche Produktion in Nordamerika vor derjenigen in West- und Mitteleuropa genießt, in dem niedrigen Preise des Grund und Bodens liegt. Mit Rücksicht auf alle anderen Faktoren der Produktion: die Arbeitslöhne, den gebräuchlichen Zinsfuß und den Preis jeder Art beweglichen Kapitals, erscheinen umgekehrt die deutschen, englischen, französischen Landwirte günstiger gestellt als ihre Berufsgenossen jenseits des Ozeans. Die amerikanische Konkurrenz hat ihre volkswirtschaftliche Grundlage in der dünnen Besiedelung und den dadurch bedingten niedrigen Preisen des Grund und Bodens.“ [55]
Die geringen Bodenpreise sind freilich durch die „dünne Besiedelung“ ebenso wenig bedingt, wie etwa die Sommerhitze durch die Ausdehnung des Quecksilbers an der Thermometerskala. Das Buch von Sering selbst enthält Tatsachen genug, die das bestätigen. Der allgemeine Grund dieser Erscheinung liegt, wie wir wissen, in den Verhältnissen zwischen Industrie und Landwirtschaft, worunter selbstverständlich nicht das Verhältnis der industriellen zur landwirtschaftlichen Bevölkerung, sondern jenes der Getreideproduktion zum nicht agrikolen Bedarf respektive zum Marktbedarf an Getreide zu verstehen ist. Wo die Industrie relativ mehr entwickelt ist, da ist dieser Marktbedarf größer, und die Getreidepreise sowie die Bodenpreise sind höher und da drängt sich auch die Bevölkerung auf einem engeren Bodenraum zusammen. Das gilt auch für die Vereinigten Staaten.
Der Unterschied der Vereinigten Staaten von Europa, zugleich ihr Kennzeichen als kapitalistische Kolonie, ist nun die geringe Kontinuität in der Entwicklung des Verhältnisses zwischen Industrie und Landwirtschaft. Diese Entwicklung wird hier nämlich fortwährend unterbrochen durch den Strom der Einwanderer, der neues Land okkupiert und die Anbaufläche erweitert. So entsteht immer von Neuem ein Überschuss der Getreideproduktion, der die Getreidepreise nicht aufsteigen lässt. In Europa bedingt die Ausdehnung der Kulturfläche eine Vermehrung der Grundrente – hier, wo der Bodenpreis nicht im Wege steckt, dient sie umgekehrt als Hindernis dieser Vermehrung.
Neben der Einwanderung sind, wie Sering mit Recht hervorhebt, noch die Binnenwanderungen in Betracht zu ziehen. Diese haben aber auf den verschiedenen Stufen der kolonialen Entwicklung verschiedene Ursachen. In dem Zeitabschnitt, von dem wir ausgehen, waren sie bereits durch den Charakter Amerikas als Getreideausfuhrland bedingt. Um billiges Getreide exportieren zu können, wurden die alten Ansiedlungen, sobald der Getreidebau auf ihnen unrentabel wurden, verlassen, um neues Land zu okkupieren, andererseits, wer überhaupt in seiner Erwerbstätigkeit Schiffbruch litt, sattelte schnell um und gründete eine Ansiedlung. Die Krise der siebziger Jahre hat, nach Sering, in dieser Richtung eine gewaltige Wirkung ausgeübt.
Es ist also Amerika, in landwirtschaftlicher Beziehung nicht, wie etwa Preußen oder Russland, als ein abgegrenztes Land mit einer abgegrenzten Bevölkerung aufzufassen, sondern die Entwicklung ging so vor sich, dass währenddem ein Ackerbaudistrikt sich industriell entwickelte, sich schon unterdes eine neue Ackerbauzone bildete, nach dieser eine dritte usw. Es ist, als ob ein ganzer Komplex von Ackerbauländern, eins nach dem anderen, in die Weltmarktverbindung getreten wäre. Dann ist es aber auch klar, dass diese Entwicklung keineswegs etwa an die politischen Grenzen der Vereinigten Staaten gebunden ist, sondern dass dies überhaupt die Bildung Ackerbau treibender kapitalistischer Kolonien darstellt. Wie sehr dies der Fall, zeigte ja die jüngste Entwicklung in dem Auftreten Argentiniens auf dem Weltmarkt.
Auf den ersten Blick scheint es, dass die Entwicklung Ackerbau treibender kapitalistischer Kolonien nur von zwei Faktoren abhängt: der Auswanderung und dem Vorhandensein von fruchtbarem unokkupierten Land unter günstigen klimatischen Verhältnissen. Aber die nähere Betrachtung zeigt, dass eine weitere Bedingung davon die Möglichkeit eines lohnenden Getreideabsatzes ist. Eine nach der Wildnis verschlagene menschliche Ansiedlung, ohne Zusammenhang mit dem Weltmarkt, ist noch keine kapitalistische Kolonie. Dieser Zusammenhang wird für die Getreide bauenden Kolonien hergestellt durch den Getreideabsatz. Findet man, unter Umständen, eine solche Überproduktion an Getreide statt, dass die Getreidepreise einen Stand erreichen, der den Anbau unvorteilhaft macht, so wird offenbar in diesen Kolonien eine Krise eintreten und zugleich wird sich die Einwanderung anderen Zielen zuwenden. Wir haben also wieder eine Wechselwirkung: selbst den Weltmarkt bedingend, werden die Kolonien durch den Weltmarkt bedingt.
Nachdem die eigenartige Rolle, welche Amerika als kapitalistische Kolonie auf dem Getreidemarkt spielt, gekennzeichnet ist, betrachten wir noch, wie sich zahlenmäßig die Einwanderung nach Amerika entwickelt hat.
Es betrug die Einwandererzahl in den Vereinigten Staaten von 1820 bis 1894 17,4 Millionen Personen. Allein in dem in Betracht kommenden Zeitraum seit 1861 sind 12,3 Millionen Menschen nach den Vereinigten Staaten eingewandert. Nun sind auch die früher angeführten Angaben über die Erweiterung der Anbaufläche, das Wachstum der relativen Getreideproduktion und die rasche Vermehrung der amerikanischen Getreideausfuhr kein Rätsel mehr. Man sieht, die amerikanische Getreidekonkurrenz ist das rechtmäßige Produkt des europäischen Kapitals.
Der Druck der amerikanischen Weizenausfuhr auf den Weltmarkt bedingte vor allem eine Hemmung der russischen Weizenausfuhr. Weil aber die Bedingungen der Konkurrenz auf dem Weizenmarkt erschwert wurden, so verlegte sich Russland noch mehr als früher auf die Roggenausfuhr. Dadurch wurde die Richtung seiner Ausfuhr abgelenkt und ein größerer Druck auf den deutschen Getreidemarkt ausgeübt.
Von viel größerer Tragweite war der Umstand, dass Russland gezwungen war, sein Getreide zum amerikanischen Preise zu verkaufen. Dadurch wurde der mehrfach geschilderte Prozess der Steigerung der Grundrente und deren Fixierung im Bodenpreis in seiner Entwicklung gehemmt. Statt der kapitalistischen Gutswirtschaft bildeten sich daher irische Zustände heraus, gekennzeichnet durch die Auspressung des kleinen Pächters. Statt den Bauer zum Lohnarbeiter zu machen, zog es der spekulative Gutsbesitzer vor, das Gutsland den Bauern zu horrenden Preisen zu verpachten. Wo er nicht selbst in Verbindung trat mit der Bauerngemeinde, besorgte der Zwischenpächter das Geschäft. Ein Teil der adeligen Gutsbesitzer wurde auch ruiniert. An ihre Stelle trat der kleinstädtische Kapitalist, eine Zwittergestalt von Kaufmann und Wucherer, der mit einem noch größeren Schwunge das System der Ausbeutung mittels Verpachtung betrieb. So wurde die Möglichkeit geschaffen, mit Amerika zu konkurrieren, und so wurde auch seitens Russlands ein gewaltiger Druck auf den Getreidemarkt ausgeübt. Die gesamte Getreideausfuhr Russlands beruhte auf einer Volksschinderei in des Wortes verwegenster Bedeutung, auf einer grausamen Aushungerung der Bauernmasse, auf einer grenzenlosen Devastierung und Ausraubung des Bodens. Der Abschluss dieser Entwicklung war die Katastrophe von 1892 und 1893.
Eine weitere Folge dieser Verhältnisse war die Verlangsamung der industriellen Entwicklung Russlands.
Die auswärtige Einfuhr Russlands hat seit dem Ausgang der siebziger Jahre stark abgenommen. Sie betrug in der fünfjährigen Periode 1876/80 2414 Millionen Silberrubel, in den Jahren 1886/90 dagegen nur 1783 Millionen! Die Einfuhr aus Deutschland betrug 1871/75 903 Millionen Silberrubel, 1876/80 1150 Millionen und 1886/90 608 Millionen Rubel. [56]
Das Sinken der Getreidepreise – die Inauguration der „Not der Landwirtschaft“ – begann mit der siebziger Handelskrisis. Der Verlauf der akuten Krisis war 1879 ziemlich abgeschlossen, dennoch wollte die zu erwartende Prosperitätsperiode sich nicht einstellen. Damit dies geschah, war allerdings die Gründung afrikanischer Kolonien, nach denen nur Schnaps und preußische Offiziere abgesetzt werden können, nicht genügend. Es war die Eröffnung eines großen Absatzgebietes für Textilprodukte, Maschinen und Gegenstände des kulturellen Bedarfs notwendig. Hätte die kapitalistische Entwicklung Russlands in der gleichen Weise fortgedauert, wie sie sich in den sechziger Jahren zeigte, so wäre dadurch ein derartiger Markt von immensem Umfang geschaffen worden. Und neben Russland kommen noch in Betracht Ungarn, Galizien und die Donaufürstentümer. Aber durch die Konkurrenz Amerikas, respektive durch die Entwicklung der kapitalistischen Kolonialbildung, wurde die kapitalistische Entwicklung der Landwirtschaft und Industrie dieses größten Teils von Europa gehemmt. Amerika hat allerdings einen wichtigen und wachsenden industriellen Markt, doch konnte dieser jenes gewaltige europäische Absatzgebiet nicht ersetzen. Und dabei wurde die Rückwirkung der industriellen Entwicklung Amerikas auf den europäischen Markt, wie bereits auseinandergesetzt, durch die unablässige Ausdehnung der Anbaufläche immer von Neuem durchbrochen. Jede Steigerung der wirtschaftlichen Prosperität Amerikas wurde begleitet von einer Steigerung der europäischen Auswanderung nach Amerika. Auf jedem Dampfschiff, welches Industriewaren nach Amerika führte, kam ein anderes, das Bauern und Arbeiter transportierte.
So bildete sich jener Zustand der verlangsamten industriellen Entwicklung heraus, den man als wirtschaftliche Depression bezeichnet und der bereits seit mehr als anderthalb Dezennien anhält. Zur Illustration dieser Verhältnisse, die ja allgemein bekannt sind, nur folgender Vergleich:
Es betrug der Gesamtwert des auswärtigen Handels in Millionen Pfund Sterling:
Land |
1883 |
1887 |
1892 |
Unterschied 1892 |
Deutschland |
326,8 |
313,0 |
349,6 |
+6,0 % |
Frankreich |
330,2 |
291,0 |
305,9 |
−7,0 % |
England |
731,3 |
643,4 |
715,4 |
−2,0 % |
Zusammen |
1388,3 |
1247,4 |
1370,9 |
−1,3 % |
Die Tabelle zeigt deutlich eine Stagnation des Handelsverkehrs dieser wichtigen Industrieländer.
Einmal vorhanden, wirkte die industrielle Stagnation ihrerseits auf den Getreidemarkt, und zwar zunächst in der Weise, dass sie die Getreidezufuhr steigerte. Die Agrarier vergessen nur zu gern, dass das Sinken der Getreidepreise in Gefolgschaft der Handelskrisis auftrat, dass, so lange der industrielle Aufschwung anhielt, die Getreidepreise, trotz der gewaltigen und rasch anwachsenden amerikanischen und russischen Zufuhr, stiegen. Als nun die industrielle Stockung die Getreidepreise zum Sinken brachte, da mussten doch offenbar der amerikanische Farmer wie der russische Bauer mehr Getreide zur Ausfuhr abgeben, um auf ihre gewöhnliche Geldeinnahme aus dem Getreideverkauf zu kommen. 1877 war der Weizenzins um 30 Prozent höher als 1879 – so hat denn auch der amerikanische Farmer, der im Jahre 1877 bloß 25 Prozent seiner Weizenproduktion nach Europa einschiffte, im Jahre 1879 volle 40 Prozent nach Europa abgeliefert! Da dies durchschnittlich jeder Farmer tat und zu gleicher Zeit die Anbaufläche sich ausdehnte, so vermehrte sich die amerikanische Weizenausfuhr um genau 100 Prozent! Dies die Erklärung der plötzlichen Steigerung der amerikanischen Getreidezufuhr 1878 und 1879, die zur unmittelbaren Folge die Einführung von Getreidezöllen auf dem europäischen Festlande hatte. [57]
Die Getreidezölle selbst erscheinen als ein weiterer Faktor, der den Druck auf dem Getreidemarkt vermehrte. Je wirksamer dieser Druck, desto unwirksamer die Getreidezölle für die heimische Landwirtschaft – gelingt es aber tatsächlich, vermittelst der Zölle die Getreidezufuhr in bedeutendem Maße zurückzuhalten, so wird dadurch die industrielle Ausfuhr und damit die Entwicklung der heimischen Industrie gehemmt und in der Folge wiederum ein Druck auf die Getreidepreise ausgeübt. Je weniger Getreide Amerika und Russland ausführen, desto weniger Industriewaren können sie einführen. Als Deutschland im Jahre 1885 seine hohen Getreidezölle ansetzte, sank allerdings seine Getreideeinfuhr 1886 gegenüber 1884 um 213 Millionen Mark, aber zu gleicher Zeit sank seine Warenausfuhr um 219 Millionen Mark und damit im Zusammenhang die allgemeine Wareneinfuhr, außer der Verminderung des Getreideimports, um noch weitere 159 Millionen Mark.
Durch die gekennzeichnete Konstellation des Weltmarkts wurde bedingt, dass während diesem Zeitraum der inländische Markt relativ mehr zur Geltung kam. An dem Eisenbahnnetz wurde rüstig weiter gebaut, und die Großstädte wuchsen. Die Eisenbahnlänge betrug in Deutschland 27.981 Kilometer Ende 1875 und 42.908 Kilometer im Jahre 1892/93. Die Städte mit mehr als je 100.000 Einwohnern umfassten 1875 6,2 Prozent der Bevölkerung, 1890 dagegen 12,1 Prozent. Dementsprechend stieg auch der städtische Verbrauch an industriellen und landwirtschaftlichen Produkten. In Bremen z. B., für das sich eine statistische Berechnung aufstellen lässt, betrug der Verbrauch an Mehl und Brot aus Roggen und Weizen: 1872/76 im Jahresdurchschnitt 105.589 Meterzentner, dagegen im Jahre 1887/88 132.482 Meterzentner, eine Steigerung um 25 Prozent. [58]
Allein auch die Entwicklung der Städte, die bis zu einem gewissen Grad gleichsam selbständig vor sich gehen kann, hat schließlich ihre Schranken in der Entwicklung der Industrie, folglich des Weltmarkts. Je mehr die Städte als bloße Geldakkumulations- und Konsumtionszentren erscheinen, desto mehr führen sie ein reines Parasitendasein. Ihre Bevölkerung besteht dann aus Rentiers und ihrem Korrelat, den Lumpenproletariern. Neben dem reichsten Villenviertel besitzen sie das vollständige Verbrecheralbum. Sie werden zur Zufluchtsstätte einer Masse von Schwindelexistenzen. Und statt ein Zeichen der Prosperität zu sein, wird ihr Wachstum vielmehr zum Zeichen der Stagnation.
Das Bestreben, den inländischen Gemeindemarkt zu schützen, nahm unter diesen Verhältnissen sehr leicht die Form des Schutzes des inländischen Marktes überhaupt an.
Dies sind die allgemeinen Zusammenhänge der jüngsten europäischen Handelspolitik: weil die industrielle Entwicklung nicht rasch genug vor sich ging, um wenigstens ein Sinken der Getreidepreise zu verhindern, so führte man Getreidezölle ein, wodurch die industrielle Entwicklung erst recht gehemmt wurde, und dann verbarrikadierte man den inländischen Markt, dadurch die Entwicklung des Weltmarkts, folglich der Industrie aufhaltend. „Im europäischen Zollschutz kommt der Zusammenhang der kapitalistischen Produktion zum Ausdruck, deshalb auch der Zusammenhang zwischen Industrie und Landwirtschaft, dies alles aber, dem Anspruch der kapitalistischen Produktion entsprechend, als Gegensatz und Widerspruch.“ [59]
Die wirtschaftliche Depression bedingte eine verlangsamte Entwicklung der kapitalistischen Gegensätze. In dieser Beziehung übte auch die Auswanderung eine sehr große Wirkung aus. Man bedenke nur, was eintreten würde, wenn die zwölf Millionen, die während eines Menschenalters ausgewandert sind, im Lande geblieben wären? Welche ungeheure Parzellierung des sonst schon parzellierten Bauernbesitzes, welche massenhafte Proletarisierung würde das bedeuten! Dies ist die wahre Ursache der zeitweiligen „Erhaltung“ der Bauernschaft. Andererseits schuf die europäische Auswanderung nicht nur den amerikanischen Farmer und dadurch die amerikanische Getreidekonkurrenz, sondern auch die amerikanische Industrie. Nach der amerikanischen Zählung von 1880 waren von den aus Deutschland Eingewanderten 293.722 in der Landwirtschaft beschäftigt, aber 739.468 in anderen Produktionszweigen und zwar: Handwerk und persönliche Dienste 218.867, Handel und Verkehr 152.491, Bergwerk und Industrie 368.110. Dieses muss sich seither noch mehr zu Ungunsten der Landwirtschaft verschoben haben. Und die Entwicklung der Vereinigten Staaten zu einem Industrieland macht sich bereits Europa gegenüber recht fühlbar auf den Märkten Zentralamerikas, Südamerikas, Ostindiens und in Ostasien. Doch dies gehört bereits zu den Ansätzen einer neuen Entwicklung des Weltmarkts.
Die wirtschaftliche Depression und die „Not der Landwirtschaft“ hängen eng zusammen. Beide bedingen wechselseitig einander. Die industrielle Ausfuhr entwickelt sich langsam. Die industrielle Tätigkeit richtet sich hauptsächlich auf Gegensätze des inländischen Bedarfs. Der inländische Handelsverkehr wird durch Geschäftsreisende, Versandgeschäfte etc. stark entwickelt. Der Warenkredit nimmt die gewagtesten Formen an. Das Geldkapital vermehrt sich rasch. Die Fondsbörse zeigt eine anhaltende Steigerung. Der Zinsfuß fällt. Die Entwicklung des rationellen landwirtschaftlichen Großbetriebs ist gehemmt. Ins Ungeheure entwickeln sich dagegen die industriellen landwirtschaftlichen Nebenbetriebe. Das Bauerntum verelendet, aber es bleibt noch an der Scholle. Die Bauernparzelle wird weniger zersplittert, weil die Bauernfamilie reduziert wird. Die Verwandlung der bäuerlichen Naturalwirtschaft in Warenproduktion greift indes um sich. Dem Gutsbesitzer wird die Hypothek zur unerträglichen Last, Dennoch kommt es verhältnismäßig selten zur Subhastation: der Gutsbesitzer bemüht sich, die Zinsen aufzubringen, weil er fürchtet, bei der Versteigerung ohne jeglichen Rest zu bleiben, und seinerseits fürchtet der Hypothekengläubiger, beim Verkauf sein Kapital einzubüßen. Die Arbeitslöhne sinken nicht, aber ihre gelegentliche Steigerung ist sehr geringfügig. Die Hausindustrie entwickelt sich, auf dem platten Lande, wie in den Städten.
Die Frage drängt sich auf: wo ist der Ausweg aus diesen Zuständen? Die Antwort darauf liegt in den sich bildenden Kombinationen des Weltmarkts. Sie kann daher auch nicht in einem spekulativen Ausspruch bestehen sondern sie muss gegeben werden durch die Schilderung der vermutlichen weiteren Entwicklung der kapitalistischen Weltproduktion. Diese neuen Verhältnisse sind auch bereits reif genug, um gezeichnet werden zu können.
In Bezug auf die „Not der Landwirtschaft“ ist jedenfalls Folgendes klar:
Der letzte und eigentliche Grund der Agrarkrisis sind einzig die durch die kapitalistische Entwicklung hochgetriebenen Grundrenten respektive Bodenpreise. Man beseitige diese Bodenpreise und die europäische Landwirtschaft kann wieder die Konkurrenz aufnehmen mit der russischen und amerikanischen. Beseitigt man die Bodenpreise, so kommt wieder der produktive Unterschied der Bodenqualitäten zur Geltung und damit ist die jetzige fast unterschiedslose Wirkung der Krise auf Boden jeder Art auf jeden Fall beseitigt. Höchstens wird also dann der schlechteste Boden dem Anbau entzogen, während der Rest konkurrenzfähig bleibt.
Schon daraus ergibt sich, dass die Darstellung der amerikanischen landwirtschaftlichen Konkurrenz als einer natürlichen Geißel Europas höchst abgeschmackt ist. Diese Konkurrenz ist eine durchaus kapitalistische Erscheinung. In dem Moment, wo man das Privateigentum an Grund und Boden in gesellschaftliches verwandelt, gibt es auch keine Bodenpreise mehr, und damit hört die devastierende Wirkung der amerikanischen Getreidekonkurrenz auf. Sie wird schon bedeutend herabgesetzt, wenn die Auswanderung aufhört. Und die Auswanderung hört auf, wenn die Arbeiter im Lande selbst eine lohnende Beschäftigung finden. Dass dies jetzt nicht der Fall, liegt im Wesen nicht der Produktion überhaupt, sondern der kapitalistischen Produktion.
Die kapitalistische Gesellschaft, die auf dem Privateigentum basiert, kann dessen Schäden nur beseitigen, indem sie den Privateigentümer ruiniert und beseitigt, respektive durch einen anderen ersetzt. Der Privateigentümer muss vernichtet werden, damit das Privateigentum gerettet werde. Ihr einziges Mittel gegen die Agrarkrisis, sieht man von einer etwaigen günstigen Gestaltung des Weltmarkts an, ist deshalb: Subhastation des gesamten kapitalistischen Grundbesitzes. Dann würden die Bodenpreise auf die den neuen Bedingungen entsprechende Höhe reduziert werden und die europäische Landwirtschaft würde konkurrenzfähig gemacht. Statt das Getreide mit Zöllen zu belegen, müsste man vielmehr um den entsprechenden Prozentsatz die Bodenpreise sich verringern lassen. Noch keine Krisis ist durch den Zollschutz beseitigt worden, sondern das kapitalistische Mittel gegen dieses kapitalistische Übel ist nur die freie Konkurrenz, die die Tauschwerte auf ihr durch die neuen Weltmarktverhältnisse gegebenes Niveau reduziert und zugleich den Handelsverkehr und die Produktion erweitert. Dem stehen freilich entgegen die Interessen des jeweiligen Grundbesitzers und des Hypothekengläubigers. Aber nur deren Interessen und nicht einmal die der kapitalistischen Produktion, sei es in der Industrie oder in der Landwirtschaft.
Die Hypotheken sind der Reflex der Bodenpreise. Würde man die Hypotheken verstaatlichen, so würde man dadurch nur den Hypothekengläubigern Sicherheit verschaffen, aber den Grundbesitzern nicht nützen. Denn die Last der Hypothek liegt nicht im Zinsfuß, sondern in der hohen Schuldsumme, die das Ergebnis der hohen Bodenpreise ist.
Auch die Tilgung der Hypotheken ist eine Illusion. Hätte der Grundbesitzer, außer seinem standesgemäßen Einkommen, noch so viel übrig, um die Hypothekarschuld zu amortisieren, würde er die Hypothek gar nicht als eine Last empfinden, dann würde er schon eher eine neue Hypothek aufnehmen.
Würde man den Grund und Boden durch Ankauf zu seinem jetzigen Preise verstaatlichen, so würde man dadurch den Gutsbesitzern die hohe Rente, den Hypothekengläubigern ihr Kapital retten und dem Staat die ganze Last aufbürden. Das würde heißen, die hohe Grundrente, die sich durch Reduktion der Arbeitslöhne und Steigerung des Brotpreises gebildet hat, verewigen zu wollen. Das würde selbstverständlich der kapitalistische Staat, der Entwicklung des Weltmarkts entgegen, ebenso wenig zu Stande bringen können wie der kapitalistische Gutsbesitzer. Und so würde er als Landwirt ebenso ruiniert wie dieser.
So lange weder an der Konstellation des Weltmarkts noch an den hohen Bodenpreisen nebst Hypotheken etwas geändert ist, nützen offenbar auch die „kleinen Mittel“: Meliorationen, Maschinen, Kreditinstitute, Genossenschaften umso weniger.
Um die Agrarkrisen zu verhüten, die „Not der Landwirtschaft“ ein für alle Mal zu beseitigen, ist Folgendes notwendig:
Die Verwandlung des Privateigentums an Grund und Boden in gesellschaftliches Eigentum. Mit dem Privateigentum fällt auch die Schuldbelastung dieses Privateigentums, die Hypothek weg. Ferner muss an Stelle der individuellen Produktionspreise, deren Unterschied die Grundrente bildet, ein gesellschaftlicher Produktionspreis gesetzt werden. Dies ist nur möglich, indem man die Landwirtschaft des gesamten Landes als einzige Unternehmung betrachtet, also durch Übergang von kapitalistischer Warenproduktion zur sozialistischen Naturalwirtschaft. Sodann muss eine Übervölkerung der Landwirtschaft durch industrielle Verwendung der überschüssigen Landbevölkerung respektive durch ein rationelles Verteilen der gesellschaftlichen Arbeiterzahl und Arbeitszeit auf die einzelnen Produktionszweige, verhütet werden. Dazu würde noch, schließlich, hinzukommen die technische Organisation und Ausrüstung des landwirtschaftlichen Betriebs.
Wie dieses Programm zu entwickeln und im Einzelnen zu verwirklichen wäre, soll bei anderer Gelegenheit erörtert werden.
Wir sind am Schluss unserer Untersuchung. Sie macht, schon aus Rücksicht auf den Raum der Neuen Zeit. von vornherein keinen Anspruch auf wissenschaftliche Vollständigkeit. Viele einschlägige Fragen von Wichtigkeit mussten entweder ganz übergangen werden oder sie wurden nur mit ein paar Strichen gezeichnet. Da sind vor allem hervorzuheben: der Konkurrenzkampf zwischen Großgrundbesitz und Kleingrundbesitz, die Industrialisierung der Landwirtschaft, die Bedingungen der Auswanderung, die Gesetze der kolonialen Entwicklung nebst den Bedingungen der kapitalistischen Überproduktion. Auch die Erörterung der politischen Bewegungen, die sich, nach dem Plane der Arbeit, an die Schilderung der ökonomischen Entwicklung anschließen sollte, muss, so verlockend sie ist, für diesmal ausfallen.
Es handelt sich für uns nur um die ganz allgemeinen Zusammenhänge, weil eben diese es sind, die am meisten übersehen werden.
55. Max Sering, Die landwirtschaftliche Konkurrenz Nordamerikas. S. 181
56. Die während dieses Zeitraums dreimal stattgehabte Erhöhung der russischen Einfuhrzölle, die reine Finanzzölle waren, ist ihrerseits als Ergebnis der industriellen Stockung zu betrachten.
57. So erklärt sich das scheinbare Paradoxon, das wir in der Einleitung zu unserer Untersuchung hervorhoben: „dass die große amerikanische Zufuhr durch die niedrigen europäischen Preise bedingt sei“ (Neue Zeit, Heft 7, S. 198). Von 1869 bis inklusive 1877 führten die Vereinigten Staaten circa 23 Prozent ihrer Weizenproduktion aus, von 1878 bis 1893 aber etwa 31 Prozent.
58. Dabei hat der relative Konsum abgenommen von 114,6 Kilogramm auf 109 Kilogramm pro Kopf der Bevölkerung Bremens. Das ist aber keine Ausnahme. Nach Juraschek verminderte sich der durchschnittliche jährliche Getreideverbrauch Deutschlands von 185 Kilogramm pro Kopf der Bevölkerung in den Jahren 1880/81 bis 1884/85 auf 176 Kilogramm in den Jahren 1885/87 bis 1889/90. Da also eine relative Verminderung der verfügbaren Getreidemenge stattfand, andererseits der Getreideverbrauch der Städte, betrachtet man Bremen als Typus, bedeutend mehr wuchs als die Gesamtbevölkerung des Landes – diese vermehrte sich während des im Text angegebenen Zeitraums nur um etwa 16 Prozent – so musste folglich die Landbevölkerung einen immer größeren Teil des produzierten Getreides an die Städte abgegeben haben. Bei sinkenden Getreidepreisen ging der Getreidekonsum zurück, und bei zurückgehendem Getreidekonsum stieg der inländische Getreideverkehr. Vgl. unsere Skizze 5: Agrarische Widersprüche unter 3 und 4.
59. Neue Zeit, Heft 9, S. 283.
Zuletzt aktualisiert am 16. April 2024