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Die Unterschiede der Grundrente und der Getreidepreise in Ländern von verschiedener industrieller Entwicklung bilden die Konkurrenzbedingungen, die für das Zustandekommen einer Agrarkrise unerlässlich sind. Das sind jene ökonomischen Potenzen, welche die Agrarkrise erzeugen. Damit aber die Agrarkrise tatsächlich zu einem bestimmten Moment eintrete, ist außerdem notwendig: einmal, dass die gekennzeichneten Länder in Handelsverbindung mit einander treten, und dann, dass ihre gegenseitige Konkurrenz bis zu jenem Punkt fortschreitet, bei dem der Zusammenbruch eintritt, die erst die Krise kennzeichnet. Die Agrarkrise ist also durch und durch ein Produkt der Entwicklung des Weltmarkts.
Wir haben diese Skizzen mit dem Hinweis darauf eingeleitet, dass die kapitalistische Entwicklung zur Bildung einer Weltproduktion führt. „Die nationalen Produktionen werden miteinander verbunden, aber nur, um dann ihren nationalen Charakter zu verlieren. An Stelle des Internationalismus tritt der Kosmopolitismus. Die nationalen Produktionen verlieren ihre Selbständigkeit. Sie werden zu untergeordneten, zusammenhängenden, einander wechselseitig bedingenden Teilen eines Produktionsganzen, das in keiner Nation liegt, und das ist eben der Weltmarkt. Je mehr die Entwicklung in dieser Richtung fortschreitet, desto weniger ist man im Stande, die Schicksale der nationalen Produktion vom nationalen Standpunkte, selbst unter dem Korrektiv der internationalen Konkurrenz, zu beleuchten, sondern man wird genötigt sein, sie aus der Entwicklung des Weltmarkts abzuleiten.“ [36]
Daraufhin wurde angedeutet, wie die Weltmarktverbindung der nationalen Industrien sich gebildet und wie der industrielle Markt sich entwickelt hat. Dann wurde der allgemeinen Einwirkung der industriellen Entwicklung auf die Entwicklung einer kapitalistischen Landwirtschaft gedacht. Daraus ergaben sich die Konkurrenzbedingungen des Weltmarkts, unter denen die Agrarkrisis entsteht, und es war bereits möglich, ihr Wesen zu charakterisieren. Nunmehr gilt es, die Entwicklung des Getreideweltmarkts in ihrer Wechselwirkung mit der industriellen Entwicklung nachzuweisen, um dadurch zu der Erklärung der gegenwärtigen Agrarkrisis zu gelangen, die unter dem deutschen Namen der „Not der Landwirtschaft“ bereits so rühmlich bekannt ist.
Selbstverständlich kann es sich für uns auch diesmal nur um die ganz allgemeinen theoretischen Zusammenhänge und die gröbsten tatsächlichen Gestaltungen handeln. Wir haben ohnedies schon, ermuntert durch die Zustimmung unserer Leser, von der Gastfreundschaft dieser Zeitschrift für unsere Skizzen einen viel ausgiebigeren Gebrauch macht, als wir anfangs beabsichtigten.
Die Bildung des Getreideweltmarkts beginnt damit, dass die Industrie eines kapitalistischen Landes einen auswärtigen Markt für ihre Produkte sucht. Je mehr ihr das gelingt, in desto höherem Maße geht ihre eigene Entwicklung vor sich. Damit steigt die industrielle, überhaupt die nichtagrikole Bevölkerung. Folglich der Marktbedarf an Getreide. Folglich die Getreidepreise. Je mehr dies der Fall, desto vorteilhafter wird es, aus den Ländern, nach denen sich die industrielle Ausfuhr richtet, Getreide einzuführen.
Dann aber steigt die industrielle Ausfuhr erst recht. Denn so lange sie einseitig blieb, ohne entsprechende Einfuhr, hatte sie ihre enge Schranke in der geringen Kauffähigkeit des industriell wenig entwickelten Landes. Nun erst entwickelt sich ein regelrechtes kapitalistisches Tauschverhältnis. Das industrielle Land führt nach dem Agrikulturland Industriewaren aus und kauft gleichzeitig dort landwirtschaftliche Produkte, um die Kaufsumme dieser Produkte vermehrt es dadurch die Kauffähigkeit des Agrikulturlandes. Es erreicht also durch diese „Erschließung“ des auswärtigen Marktes zweierlei: das es seinen eigenen Getreidemarkt dem fremden Lande „erschließt“, dass es in diesem fremden Lande einen industriellen Markt schafft. Das Industrieland sorgt in solch selbstaufopfernder Weise für das wirtschaftliche Gedeihen des Agrikulturlandes, dass es ihm sogar regelmäßig mehr Getreide abkauft als der Wert der dorthin ausgeführten Industriewaren beträgt. [37] Dennoch hat zunächst die Industrie des ursprünglichen kapitalistischen Landes den Vorteil davon: sie bekommt relativ billiges Getreide und zugleich einen Markt für ihre Waren.
Das war das Verhältnis, in dem England als das ursprüngliche industrielle Land zu den übrigen europäischen Ländern bis in die Mitte der sechziger Jahre stand. [38] Newmarch gibt in Tooke und Newmarchs Preisgeschichte eine ziemlich vollständige Übersicht der Weizenversorgung Englands, die die damalige Situation klar beleuchtet. Wir teilen daraus die wichtigsten Zahlen mit.
Einfuhr von Weizen und Weizenmehl nach England durchschnittlich pro Jahr in 1.000 Imperial-Quarter aus:
In den Jahren |
Russland |
Dänemark |
Preußen |
ÜbrigesĀ§nbsp;Deutschland |
Frankreich |
Vereinigte Staaten |
Total |
1828–1830 |
198 |
71 |
374 |
272 |
31 |
104 |
1.355 |
1831–1835 |
115 |
24 |
113 |
74 |
– |
105 |
660 |
1836–1840 |
138 |
109 |
526 |
270 |
84 |
98 |
1.496 |
1841–1845 |
111 |
113 |
652 |
250 |
159 |
88 |
1.879 |
1846–1850 |
563 |
146 |
567 |
339 |
492 |
818 |
4.111 |
1851–1855 |
602 |
251 |
702 |
361 |
445 |
1.640 |
4.700 |
Man sieht, dass Länder, die jetzt selbst einer Getreidezufuhr bedürfen, Frankreich, Deutschland, Dänemark, damals England gegenüber als Agrikulturländer fungierten. Deutschland besonders steht während des ganzen Zeitraumes an der Spitze der Getreide ausführenden Länder, übertrifft Russland und selbst die Vereinigten Staaten. Damals also scheinen noch die „Produktionskosten“ des Getreides in Deutschland so gering gewesen zu sein, dass es selbst auf einem auswärtigen Markte mit Russland und den Vereinigten Staaten konkurrieren konnte. Wir werden später nachweisen, wie diese „Produktionskosten“ sich geändert haben.
Diese Länder hatten England gegenüber ein Übergewicht auf dem Getreidemarkte, nicht nur weil ihre industrielle, sondern weil dementsprechend auch ihre agrikulturelle Entwicklung eine rückständige war. In England hat sich, unter hoher Grundrente, folglich hohen Bodenpreisen, der intensive maschinelle landwirtschaftliche Großbetrieb entwickelt. Begünstigt wurde diese Entwicklung durch das landwirtschaftliche Pachtsystem, das freilich andererseits selbst ihr Produkt ist. In der gleichen Richtung wirkte der Abzug der Landbevölkerung nach den Industriezentren und ihr Auszug nach Amerika. Die ganze landwirtschaftliche Betriebsweise passte sich als hier den hohen Getreidepreisen an. [39] Diese konnte deshalb nach anderen Ländern ebenso wenig ohne weiteres übertragen werden, wie das politische Repräsentativsystem, die Londoner Börse und die englischen Banknoten. [40]
In dem Maße nun, wie in dem Agrikulturland selbst die Industrie sich entwickelt, büßt es selbstverständlich seine bevorzugte Stellung ein. Dass aber dies geschehe, dafür sorgt das kapitalistische Stammland, England: einmal indem es, wie früher aufgeführt, ihm den eigenen Markt eröffnet für eine Anzahl industrieller Konsumartikel, also insofern ihm einen auswärtigen Markt schafft, sodann indem es in diesem Agrikulturland selbst, auf ebenfalls bereits angegebene Weise, den inneren industriellen Markt erzeugt. Dazu kommen noch eine Menge anderer Umstände: Der Unterschied der Profitraten, der Unterschied der Arbeitslöhne, zum Teil bedingt durch den Unterschied der Getreide- und Lebensmittelpreise überhaupt. Der Überfluss an Geldkapital im Industrieland, der einerseits ein regelrechtes Produkt der Mehrwertbildung ist, andererseits durch die Entwicklung des Kredits gesteigert wird. Die Überproduktion an Technikern, die die Weltwanderung der Ingenieure erzeugt. Die ungleiche Entwicklung der einzelnen industriellen Produktionszweige: wir haben bereits gezeigt, wie die englische Garnausfuhr die deutsche Weberei förderte. Und anderes mehr! [41]
Wir haben an anderer Stelle gezeigt, wie England aus einem Getreide ausführenden in ein Getreide einführendes Land sich verwandelte. Jetzt wissen wir auch, wie es dazu kam, dass Frankreich und Deutschland und die anderen Industriestaaten Europas ihm folgten. Jedes dieser Länder hatte eine Periode der großen Prosperität der kapitalistischen Grundbesitzer, die durch die industrielle Entwicklung erzeugt wurde.
36. Neue Zeit, Heft 7, S. 198
37. Von 1856 bis 1894, also während 39 Jahren, hat Großbritannien um mindestens rund 400 Millionen Pfund Sterling, das sind 8 Milliarden Mark, mehr Waren aus Russland eingeführt als nach Russland ausgeführt Dieser Geldüberschuss, den zunächst hauptsächlich der Grundbesitz einheimste, kam aber nicht etwa der russischen Industrie zu Gute, sondern dem russischen Absolutismus, der das Geld in Gestalt von drückenden Steuern dem Bauerntum abpresste.
Es ist zwar richtig, dass die Geldsteuern die Naturalwirtschaft zersetzen. Aber wenn diese Zersetzung in der einseitigen Weise vor sich geht, dass der Bauer gezwungen wird, immer mehr zu verkaufen, gleichzeitig aber das Bleigewicht der „rückständigen“ Steuern ihm jede Aussicht raubt, seine Kaufkraft zu erweitern, so wird dadurch allein zwar die Ausbeutung, aber nicht die industrielle Entwicklung gefördert. Diese hängt vielmehr davon ab, welche Verwendung das also dem Bauern abgepresste Geld findet, bzw. an welche Gesellschaftsklassen es gelangt.
Der russische Absolutismus tat noch ein Übriges, indem er die industrielle Einfuhr mit Zöllen belegte. Weit entfernt, damit die heimische Industrie zu schützen, die noch nicht da war, hat er dadurch vielmehr die Entwicklung des industriellen Bedarfs, folglich indirekt der heimischen Industrie, verhindert.
Beides geschah nicht bloß aus Einsichtslosigkeit, sondern weil das Zarentum genötigt war, einen kapitalistischen Militarismus zu entwickeln, noch bevor das Zarenreich die ökonomische Voraussetzung dieses Militarismus, die kapitalistische Industrie, gebildet hatte.
38. Vergl. Unsere Skizze 2: England und Europa, Neue Zeit, Heft 7, S. 199ff.
39. Der Großbetrieb bei der Getreideproduktion hatte übrigens in England eine geschichtliche Vorbedingung in dem auf der Schafzucht beruhenden Großbetrieb, der seinerseits bekanntlich durch die Entwicklung der Wollmanufaktur bedingt war.
Im Allgemeinen entwickelt sich die kapitalistische Landwirtschaft nur als Umformung bestehender Besitzverhältnisse, währenddem die kapitalistische Industrie rechtlich nur der allgemeinen Voraussetzung des Privateigentums bedarf.
„Ein landwirtschaftlicher Großbetrieb bedarf in der heutigen Gesellschaft noch einer weiteren Vorbedingung: eines Großgrundbesitzes; dieser aber kann in einem Lande mit kleinbäuerlicher Produktionsweise nur geschaffen werden durch Vernichtung von Kleinbetrieben. In der Industrie ist diese Vernichtung die Folge der Entwicklung des Großbetriebs, in der Landwirtschaft deren Vorbedingung. Der kapitalistische Betrieb der Landwirtschaft entwickelt sich daher zuerst in den Ländern kapitalistischer Produktion, in denen von vornherein ein Großgrundbesitz bestand, wie in England. ... Dieser Großgrundbesitz wurde geschaffen durch Gewalt, durch gewaltsame Verletzung der Gesetze des Privateigentums.“ K. Kautsky[: Ein Nachtrag zu der Diskussion über die Konkurrenzfähigkeit des Kleinbetriebs in der Landwirtschaft] in Heft 2 der Neuen Zeit dieses Jahrgangs (1895/96, XIV. Jahrgang, Band I, [S. 45–52, hier] S. 51).
40. Das haben die russischen Gutsbesitzer erfahren, als sie anfangs der sechziger Jahre, nach der Bauernbefreiung, den spontanen Wunsch bekamen, den ihnen abhanden gekommenen Bauer durch die „Maschine“ zu ersetzen. Aber die Einführung englischer Agrikulturtechnik auf den Feldern, auf denen soeben der leibeigene Bauer schweißtriefend mit seinem elenden Gespann den Hakenpflug zog, hatte ein rasches Ende mit Schrecken. Zweifellos spielten dabei auch Unwissenheit und Borniertheit eine große Rolle. Aber schließlich hätte man doch auch in Russland ebenso gut gelernt, die landwirtschaftlichen Maschinen zu leiten, wie der Kaffer und der Chinese gelernt hatten, das komplizierte moderne Gewehr zu gebrauchen oder wie der russische Fabrikarbeiter gelernt hat, an der Mule-Jenny und dem Jacquard-Stuhl zu arbeiten – wenn eben die ökonomische Vorbedingung eines intensiven maschinellen landwirtschaftlichen Großbetriebs nach englischer Art in Russland vorhanden wären.
Dass das Repräsentativsystem sich nicht schlichtweg übertragen lässt, davon haben die Dekabristen nach 1825 einen ruhmreichen Beweis abgelegt, und die englischen Banknoten, ins Russische übersetzt, heißen – Assignaten.
Aber die Zustände entwickeln sich selbst in Russland. Die Anwendung landwirtschaftlicher Maschinen greift rasch um sich. Es ist sogar eine russische Agronomie entstanden, die die wesentlichen technischen Mittel des rationellen Großbetriebs in Russland bereits entdeckt. Die Abschaffung des Papierrubels ist zu einer dringenden Notwendigkeit geworden. Und man eröffne heute ein russisches Parlament, so wird es sofort überschwemmt von Juristen und Professoren. Quod erat demonstrandum! [=Was zu beweisen war!]
41. Es sind also nicht die Schutzzölle, die die nationale Industrie schaffen. Die Schutzzölle sind vielmehr das Zeichen eines bereits erreichten Grades der industriellen Entwicklung. Die Schutzzölle werden nicht dazu geschaffen, um das heimische Handwerk, sondern um die heimischen Fabriken zu schützen – folglich müssen diese schon da sein. Die Schutzzölle sind bereits der Ausdruck des Konflikts zweier nationaler Industrien. Sie sind ein Mittel der treibhausmäßigen Förderung der nationalen Produktion. Sie sind ein Mittel, sich die Vorteile des Handelsverkehrs mit einem industriell mehr entwickelten Lande zu sichern und sich gleichzeitig vor dessen Nachteilen zu bewahren. Würde man aber nicht einseitig verfahren, sondern sich von diesem Handelsverkehr gänzlich abschließen, so würde man, statt einer industriellen Entwicklung, eine industrielle Stagnation erhalten – ein Beweis, dass diese Entwicklung von den Schutzzöllen ebenso wenig gemacht ist wie der Rahm von dem Löffel, mit dem er abgeschöpft wird. Ohne den Handelsverkehr Deutschlands und Amerikas mit England gäbe es keine deutsche und keine amerikanische Industrie.
Zuletzt aktualisiert am 16. April 2024