Parvus (Aleksandr Helphand)

Der Weltmarkt und die Agrarkrisis


5. Agrarische Widersprüche


Die landwirtschaftlichen Verhältnisse bieten in diesem Moment eine Menge einander widersprechender Erscheinungen. Wir wollen auf einige dieser Widersprüche kurz hinweisen, bevor wir eine positive Darlegung der landwirtschaftlichen Entwicklung geben.

    Man klagt über den Druck, den die ausländische Getreidekonkurrenz auf dem Markt ausübt. Als solche Konkurrenten kamen bis auf die letzte Zeit vor allem in Betracht: Russland und die Vereinigten Staaten. Tatsächlich war auch ihre Konkurrenz so stark, dass sie aller Zollschranken spottete. Und doch haben wir soeben gesehen, wie Russland sich in eine Hungersnot hineinwirtschaftete. Und die Vereinigten Staaten, der mächtigste Konkurrent in der Weizenzufuhr, haben ihre Weizenanbaufläche in den letzten 15 Jahren, trotzdem die Bevölkerung dieses Landes um 25 Prozent gewachsen und der relative Produktionsertrag gleich geblieben ist, nicht ausgedehnt, im Gegenteil, sie ist in den letzten Jahren zurückgegangen.
     
    Die Weltmarktproduktion an Brotfrüchten, sowie im Besonderen die Produktion Europas und der für den europäischen Markt in Betracht kommenden Länder zusammengenommen zeigt seit Jahren in absoluten Zahlen keine Steigerung, sie geht vielmehr im Verhältnis zur Bevölkerung zurück, auch sind die Produktionskosten weder in den Vereinigten Staaten noch in Europa gesunken (seit 1885 sind auch die Frachtsätze in den Vereinigten Staaten gleich geblieben), und dennoch sinken die Getreidepreise.
     
    Nimmt man größere Perioden, so zeigt sich für Deutschland, dass, obwohl die Getreidepreise sinken, der Getreidekonsum zurückgeht.
     
    Obwohl die Getreidepreise sinken und der Konsum pro Kopf der Bevölkerung zurückgeht, steigt in Deutschland der inländische Getreideverkehr.

Diese agrarischen Widersprüche lösen sich von selbst, wenn an die landwirtschaftliche Entwicklung in Zusammenhang bringt mit der allgemeinen kapitalistischen Produktionsentwicklung. Der landwirtschaftliche Warenverkehr für sich, ohne Zusammenhang mit der Industrie und mit der kapitalistischen Weltproduktion überhaupt, ist ebenso wenig zu ergreifen wie die Blutzirkulation ohne Kenntnis der Herztätigkeit und des Atmungsprozesses.


Zuletzt aktualisiert am 16. April 2024