Parvus (Aleksandr Helphand)

Der Weltmarkt und die Agrarkrisis


4. Städte und Eisenbahnen


Während die Eisenbahnen in ihrem ganzen Wesen ihren modernen Ursprung zur Schau tragen, haben die Städte eine Jahrhunderte lange Geschichte hinter sich. Dennoch haben die Städte nunmehr einen ausgeprägt kapitalistischen Charakter und unterscheiden sich wesentlich von den Städten der vorangegangenen Gesellschaftsformen. Nicht nur darauf kommt es an, dass, wie Professor K. Bücher in seiner interessanten Schrift über die inneren Wanderungen es mit Recht hervorgehoben hat, die modernen Städte viel mehr differenziert sind. Das Interessanteste ist der Typus der kapitalistischen Großstadt. Das ist die Großstadt, die Hunderttausende auf Hunderttausende von Einwohnern häuft, alle erdenklichen Berufsarten in sich vereinigt, eine Unzahl neuer Berufsarten schafft, die ausgedehntesten wirtschaftlichen Verbindungen weit über die Grenzen des Inlandes hinaus eingeht, als selbständige wirtschaftliche Organisation innerhalb der Weltproduktion erscheint, ihre eigenartige Stadtwirtschaft, ihre eigenartige Finanzpolitik treibt, unausgesetzt, schrankenlos sich ausdehnen zu können scheint, nur im Grade des Wachstums, nicht im Wachstum selbst durch die allgemeine wirtschaftliche Lage beeinflusst, dabei aber der Grundlage der gesellschaftlichen Existenz, der Erzeugung von Nahrungsmitteln, entbehrt, im Gegenteil durch die stete Aufsaugung der landwirtschaftlichen Bevölkerung die Klasse der Produzenten dieser Lebensmittel im Lande selbst relativ vermindert.

Diese kapitalistische Großstadt, eine der wichtigsten und wunderlichsten Erscheinungen der kapitalistischen Produktion, ist bis jetzt so gut wie unerforscht geblieben. Man weiß wissenschaftlich mehr über die deutschen Städte des Mittelalters als über die deutschen Städte der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts. Und doch verfügt man dort nur über abgerissene Fetzen von Material, während hier ein fast kaum zu bewältigendes statistisches und deskriptives Material unter den Händen liegt.

Nur Eins bildet den Unterschied: um die kapitalistische Städteentwicklung zu begreifen, muss man die kapitalistische Produktion begreifen, – für das Altertum braucht man freilich diese Kenntnis nicht. Auch genügt es hier nicht, im Staub der Archive noch so viele Aktenstöße zu durchwühlen, und es ist ein toter Körper, der auf den wissenschaftlichen Seziertisch gelegt werden kann, – sondern in das Gewühl der Wirklichkeit muss hineingegriffen und an dem stets wandelbaren Leben selbst muss erkannt werden, was dieses Leben ist.

Man verzeihe uns diese Abschweifung. Es ist die Klage eines Publizisten, der, um praktische Fragen zu lösen, sich genötigt sieht, Forschungsgebiete zu streifen, die von Rechtswegen von Anderen so weit wissenschaftlich präpariert werden dürften, dass der Politiker nur noch nach den allgemeinen Ergebnissen zu greifen brauchte. Unsere Charakteristik des industriellen Marktes hätte eine empfindliche Lücke, würden wir die Rolle der Städte und Eisenbahnen bei der Schilderung des inneren Marktes unberücksichtigt lassen. Und nur in diesem Zusammenhang sollen sie behandelt werden.

Wir beginnen mit den Eisenbahnen. Es mag befrieden, dass wir sie hauptsächlich vom Standpunkte des inländischen Verkehrs betrachten. Allein ihre ausgesprochene Aufgabe ist tatsächlich die: im Inlande den Verkehr der Städte untereinander und zwischen den Städten und der Landbevölkerung zu vermitteln. Für den Personenverkehr braucht dies nicht erst besonders nachgewiesen zu werden. Über den Güterverkehr geben folgende Nachweise Aufklärung.

Von dem gesamten Güterverkehr der Eisenbahnen Deutschlands, das waren 162 Millionen Tonnen im Jahre 1891, entfielen auf den Inlandverkehr 137 Millionen Tonnen, von diesem Inlandsverkehr der Eisenbahnen ist freilich noch die Zufuhr nach den Häfen, um über die See nach fremden Ländern ausgeführt zu werden, sowie die überseeische Einfuhr abzurechnen. Es erreicht aber der gesamte Verkehr der deutschen Eisenbahnen mit den Häfen nicht 20 Millionen Tonnen (1894 circa 18 Millionen).

In den 137 Millionen Tonnen des Inlandsverkehrs der Eisenbahnen bildeten folgende drei Gruppen von Gebrauchsgegenständen die Hauptbestandteile:

 

Millionen Tonnen

 

1. Heizungsmittel

63,1

(darunter 51,6 Millionen Steinkohlen)

2. Baumaterial

20,3

(darunter 12,3 Millionen Bau- und Pflastersteine)

3. Getreide und Kartoffeln

  6,4

 

Zusammen

89,8 Millionen Tonnen

Es handelt sich bei diesen Warengruppen zweifellos in erster Linie um den städtischen Bedarf. Aber auch von dem übrigen Verkehr an Nahrungsmitteln und an industriellen Rohstoffen wird wohl der Löwenanteil den Städten zufallen.

Dieses Verhältnis ist in einem Land wie Deutschland doch sehr begreiflich. Die Landbevölkerung ist hier das gedrückte, hungernde Bauerntum, das elend haust, sich schlecht kleidet, seine Bedürfnisse überhaupt auf ein Minimum beschränkt. Aber es hat auch noch eine andere Erklärung.

Man hat stets den billigen Eisenbahntransport gepriesen. Man dachte dabei stets an den Massentransport. Dieser Massentransport ist aber erst durch die Eisenbahnen geschaffen. Ohne ihn wäre der Eisenbahntransport aus leicht erkenntlichen Gründen sehr kostspielig. Der Massenversand fordert aber große Handelszentren. So strömt alles nach den Städten und von den Städten. Es wachsen die Städte und der städtische Bedarf. Es wächst die städtische Industrie und es wächst der Eisenbahnverkehr.

Die Städte erzeugen Eisenahnen und die Eisenbahnen erzeugen Städte. Selbstverständlich haben wir es weder auf der einen noch auf der anderen Seite mit der einzigen Entstehungsursache zu tun. Aber man schleife die Städte zu Boden und die Eisenbahnen sind ruiniert (selbstverständlich ist die Rede nur von kapitalistischen Zusammenhängen), – man beseitige die Eisenbahnen, und die Städte können nicht mehr bestehen.

Für Berlin gewährt folgende Tabelle einen Einblick in den Zusammenhang:

Im Zeitraum

Länge der neu dem Betrieb übergebenen
Eisenbahnlinien, mit denen Berlin
in Verbindung trat

Durchschnittlicher Wanderungszuwachs
pro 1000 der mittleren Bevölkerung

1841 bis 1850

941 Kilometer

18,1

1851 bis 1860

137 Kilometer

  9,6

1861 bis 1870

684 Kilometer

32,8

1871 bis 1880

987 Kilometer

22,4

Nicht immer freilich bedingt die Verbindung einer Stadt mit einer Eisenbahn einen Bevölkerungsfluss nach dieser Stadt. Eine vor Jahren in den Monatsheften zur Statistik des Deutschen Reichs veröffentlichte, allerdings sehr lückenhafte Untersuchung zeigt sogar für kleinere Städte eine Verminderung des relativen Zuwachses, selbst eine Einbuße durch Auswanderung unmittelbar nach Eröffnung der Eisenbahn. [5] Hier vollzog sich, vermittelt durch die Eisenbahn, der Rückgang des Wachstums der kleineren Städte zu Gunsten der Konzentration der Bevölkerung in den Großstädten. Die neueren österreichischen Arbeiten über Bevölkerungsstatistik haben diesen Prozess der Zurückdrängung der Kleinstädte durch die großen Städte in einem noch grelleren Lichte gezeigt.

Die Eisenbahnen begünstigen nicht die Entwicklung der Städte überhaupt, sondern vor allem die Entwicklung der Großstädte. Je mehr das der Fall, desto mehr konzentriert sich der Warenverkehr nach den Großstädten, in denen schließlich das Schwergewicht der gesamten inländischen Produktion liegt. Die Eisenbahnen erscheinen als feinmaschiges Netz von Saugarmen, mittels deren die Großstädte Menschen und Waren aus dem ganzen Lande nach sich zusammenziehen. Dann aber hängt die Entwicklung der Produktion mit der Entwicklung der Großstädte eng zusammen.

Was sind aber diese Großstädte? Wie existieren sie? Um auf diese Fragen Antwort zu geben müssen wir zunächst einen Blick werfen in die städtische Berufsstatistik.

Die amtliche Bearbeitung der Berufszählung von 1882 gibt eine besondere Statistik der Großstädte (Städte mit über 100.000 Einwohnern). Danach betrug der Prozentsatz der Erwerbstätigen:

Berufsabteilung

In den 15 Großstädten

Im Reich

A. Land- und Forstwirtschaft

  1,1

40,4

B. Industrie, inklusive Bergbau und Bauwesen

43,2

31,5

C. Handel und Verkehr, inklusive Gastwirtschaft

20,4

  7,8

D. Häusliche Dienstleistungen [6]

15.7

  8,3

E. Staats-, Gemeindedienst etc. und freie Berufsarten [7]

10,3

  5,0

F. Selbständige ohne Beruf [8]

  9,5

  6,6

Man sieht, der Mangel an landwirtschaftlicher Produktion in den Städten wird nicht durch die Industrie ersetzt. Die deutschen Großstädte sind keine Fabrikstädte, sondern eher wären sie als Handelsstädte zu bezeichnen, da Rubrik C hier relativ fast dreimal so stark vertreten ist als im Reich (auch wenn man die Gastwirtschaft abrechnet, so bleibt das Verhältnis gleich). Allein für sich reicht die Handelstätigkeit bei Weitem nicht aus, um die deutschen Großstädte wirtschaftlich zu charakterisieren.

Folgender allgemeine Unterschied springt in die Augen; Während im Reiche 72 Prozent der Erwerbstätigen in Landwirtschaft und Industrie, also mit der Produktion von Gebrauchsgegenständen beschäftigt sind, sind es in den Großstädten bloß 43 Prozent. [9] Mag nun die Tätigkeit der anderen Erwerbenden gesellschaftlich noch so nützlich sein, sie basiert darauf, dass ihnen die Gebrauchsgegenstände von anderen produziert werden. Sie treten wirtschaftlich als Konsumenten auf und nicht als Produzenten. Insofern diese 47 Prozent der Erwerbstätigen der großstädtischen Bevölkerung in Betracht kommen, wird also der Warenverkehr der Großstädte mit dem Lande ein einseitiger sein: Empfang von Waren, ohne Zurückgabe von Waren.

Bietet nun die produktive Tätigkeit der übrigen 43 Prozent genügend Ersatz für diese Einseitigkeit? Das wollen wir jetzt prüfen.

Die Gesamtzahl der industriellen Erwerbstätigen der Großstädte betrug 744.534. Darunter gibt es aber eine große Anzahl von Berufsarten, die ihrem ganzen Wesen nach ausschließlich dem Bedarf dieser Großstädte selbst dienen. Da ist das Baugewerbe mit seinen Hilfsgewerben, dann Tätigkeiten, die durch die Existenz jeder Großstadt bedingt sind – die Stadtwirtschaft: Gasanstalten, Wasserversorgung etc., dann Berufe, die sich der Befriedigung des unmittelbaren Lebensbedarf widmen, wie Bäckerei, Metzgerei etc., hierher gehören auch die Apotheker, schließlich Produktionsarten, deren Betätigung räumlich von den Käufern des Produkts meistens untrennbar ist, wie die Fotografie. Diese Berufsarten kommen selbstverständlich für den Warenexport der Großstädte nach dem Lande nicht oder nur sehr einig in Betracht. Rechnet man die in ihnen Tätigen zusammen so erhält man die große Zahl von 233.176 Personen, das sind 13,7 Prozent der Erwerbstätigen. Es zahlen also für den Warenverkehr nach Außen nur noch 29,5 Prozent der Erwerbstätigen mit.

Aber auch diese 30 Prozent produzieren keineswegs hauptsächlich für auswärts. Im Gegenteil, es gibt darunter Gewerbearten, die nicht einmal dem großstädtischen Bedarf selbst genügen. Um einen weiteren Vergleich zu ermöglichen, haben wir deshalb berechnet, wie viel Einwohner durchschnittlich in den Großstädten und im Reich auf jeden der in den einzelnen Industriegruppen Erwerbstätigen entfallen.

Industriegruppen

Zahl der Einwohner auf einen Erwerbstätigen

 

In den 15 Großstädten

Im Reich

Bergbau, Hütten etc.

490

  103

Industrie der Steine und Erden

281

  136

Textilindustrie

101

    53

Eisenverarbeitung

  97

    99

Nahrungs- und Genussmittel

  46

    68

Bekleidung und Reinigung

  15

    34

Metallverarbeitung (außer Eisen)

177

  632

Maschinen, Werkzeuge etc.

  53

  158

Chemische Industrie

186

  511

Papier und Leder

  78

  206

Holz- und Schnitzstoffe

  51

    86

Polygrafische Gewerbe

108

  650

Künstlerische Gewerbe

512

1892

Je geringer die Zahl der Einwohner, die auf einen Erwerbstätigen entfällt, desto stärker ist die betreffende Industriegruppe vertreten. Unsere Tabelle zeigt, dass in den Großstädten der Bergbau, die Industrie der Steine und Erden, die Textilindustrie verhältnismäßig schwächer als im Reich überhaupt vertreten sind, folglich ist hier eher eine Warenzufuhr als eine Warenausfuhr zu erwarten. Für Berlin lässt sich das auch tatsächlich aus der Statistik der Güterbewegung auf den Eisenbahnen nachweisen.

Die Eisenverarbeitung ist gleichmäßig verteilt. Die Industrie der Nahrungsmittel und Genussmittel ist zwar in den Großstädten zahlreicher, aber das ist wohl bedingt durch den größeren Warenbedarf der Großstädte an diesen Produkten. Schon nicht mehr in demselben Maße gilt das für die Industrie der Bekleidung und Reinigung. [10] Dann erst folgen die auf den Versand berechneten Industriezweige der Großstädte.

Die großstädtischen Exportindustrien beschäftigen zusammen 251.000 Personen, das sind 14,4 Prozent der Gesamtzahl der Erwerbstätigen. Es ist demnach sehr hoch gerechnet, wenn wir annehmen, dass von Gesamtzahl der Erwerbstätigen der Großstädte 10 Prozent damit beschäftigt sind, Waren für den Umtausch der vom Lande empfangenen Gebrauchsgegenstände zu produzieren.

Das gesamte wirtschaftliche Bild der deutschen Großstädte stellt sich nunmehr so dar:

Im Lande selbst aber braucht man von je 100 Erwerbstätigen 40 allein um den Bedarf an landwirtschaftlichen Produkten zu decken. Wozu also die Arbeit von vier Zehntel der Erwerbstätigen notwendig ist und noch darüber hinaus, das soll mit dem Arbeitsprodukt eines Zehntels der Erwerbstätigen der Großstädte ausgetauscht werden. Offenbar ist das als Massenerscheinung undenkbar. Dann aber müssen die Großstädte mehr Waren vom Lande beziehen, als an das Land abgeben, und die Differenz mit Geld bezahlen.

Wir besitzen keine Wertstatistik des inländischen Warenverkehrs, Nach dem Vorausgeschickten dient aber auch die Gewichtsstatistik als ausreichende Illustration. So hat 1894 Berlin im Eisenbahnverkehr 4,4 Millionen Tonnen Güter empfangen und nur 800.000 Tonnen versendet; Breslau hat 2,5 Millionen Tonnen empfangen und 500.000 Tonnen abgeschickt.

Das wirft wieder ein Streiflicht auf die Rolle der Eisenbahnen: sie dienen nicht bloß als Vermittler eines gegenseitigen Verkehrs, sondern als Zufuhrmittel an die Städte.

Woher nehmen aber die Großstädte das Geld, um den fehlenden Warenbedarf einzulaufen? Das zeigt uns wiederum ihre Berufsgliederung.

Zunächst bringt der unverhältnismäßig stark vertretene Handel einen Teil des außerhalb der Städte erzeugten Mehrwerts in Geldform in die Städte hinein. Im Handel ist auch der durch die Banken vermittelte Kreditverkehr in dem Maße enthalten als er für die betreffenden Anstalten einen Profit abwirft. Die zweite Geldquelle sind die Beamtengehälter, die in Gestalt von Steuern erhoben werden. Die dritte Quelle ist der Tribut, den sich die Rentiers für ihr Kapital zahlen lassen. Diese Geldeinnahmen erscheinen aber nur insofern als vermehrte Kaufkraft der Städte gegenüber dem Lande, als sie nicht einer Verteilung der in den Städten produzierten Mehrwerte entspringen, sondern den Städten von außerhalb, oder, solange man beim inländischen Verkehr bleibt, vom Lande zufließen. So ist es das vom Lande bezogene Geld, mit dem die Großstädte ihren überschüssigen Warenbedarf vom Land einkaufen.

Nach der sächsischen Einkommensstatistik bestehen 14 Prozent des städtischen Einkommens aus Renten, in den Dörfern nur 9 Prozent. Aber diese Zahlen zeigen das wirkliche Verhältnis noch nicht an. Denn die sächsische Statistik führt auch in den Städten das Einkommen aus Grundbesitz als besondere Einkommensquelle an, dieses ist aber in den Städten ein abgeleitetes Einkommen, das als Mietzins von den übrigen Einkommensarten abgeleitet wird, und zwar am wenigsten von Renteneinkommen, so wächst selbstverständlich der Prozentsatz des Renteneinkommens. Das Renteneinkommen zerfällt aber seinerseits in zwei große Gruppen: Staatsschulden und Hypotheken. Beide dienen dazu, das gesamte Land den Großstädten tributpflichtig zu machen.

So erscheinen die Großstädte als Sammelbecken der Konsumtion und des Geldes. Der Mehrwert fließt hier zusammen, um zum Teil als Revenue vermehrt, zum Teil vermittelst der Kreditinstitute der Produktion wiedergegeben zu werden. Und darum ist hier auch der Sitz der Börse.

Mittelst der Börse aber werden Verbindungen eingegangen, die viel weiter hinausreichen, als das inländische Eisenbahnnetz. Nunmehr gelangt Mehrwert aus den entferntesten Ländern nach der Großstadt, wird hier verhandelt, hier in Revenue und Kapital gespalten, um zwei verschiedene Zirkulationen zu beginnen. Die Großstadt wirft die nationalen Eierschalen ab und wird zum Knotenpunkt des Weltmarktes. Als Geschäftsführerin des kosmopolitischen Kapitals erscheint sie nun dem Inland gegenüber. Keine nationalen Schranken der Produktion mehr: auf einen Druck des Telegrafenknopfes erscheinen Geld, Produktionsmittel, Rohstoffe, Arbeiter aus den entferntesten Ländern. Und wie die Produktion zur Weltproduktion, so wird die Großstadt zur Weltstadt.

Es kann aber nicht jede Stadt zum Zentralpunkt des Weltmarkts werden, und auf dem Wege zu dieser höchsten Verklärung des Warenverkehrs und der Kapitalakkumulation werden verschiedene Entwicklungsphasen und Entwicklungsformen durchgemacht.

Im Allgemeinen lassen sich drei Erscheinungsformen der kapitalistischen Städte unterscheiden, die aber auch als ebenso viele Entwicklungsformen der einen Stadt auftreten können.

    Die Handels- und Gewerbestadt, die fremdländische Waren und Produkte der heimischen Gewerbetätigkeit der Landbevölkerung vermittelt. Voraussetzung ist eine große Ausfuhr von landwirtschaftlichen Produkten. Ihr reinster Typus ist in Amerika zu studieren.
     
    Die Fabrikstadt, die meistens einen bestimmten Industriezweig in sich konzentriert. Sie setzt meistens einen kolonialen Absatz voraus. Jedenfalls erfordert sie diesen, um mehr zu sein als eine vereinzelte Erscheinung. Diese Art hat sich am vollendetsten in England entwickelt.
     
    Die Großstadt als Konsumtions- und Geldakkumulationszentrum. Die kapitalistische Entwicklung Deutschlands, dem weder eine alles beherrschende landwirtschaftliche Ausfuhr noch ein koloniales Absatzgebiet zu Gebote stand, bildete diese Städteform relativ früh aus. War diese Entwicklung auch begünstigt durch die spezifischen Eigenschaften des preußisch-deutschen Beamten- und Garnisonsstaat, so dient sie ihm andererseits als Stütze.

Die deutschen Großstädte üben eine ungemein revolutionäre Wirkung auf die deutsche Landwirtschaft. Durch die kapitalistischen Verbindungen, die sie mit ihr eingehen, zerstören sie ihre Naturalwirtschaft. Sie bilden das erste Absatzgebiet für die an die Landwirtschaft anknüpfenden Industriezweige Sie liefern aber auch das Kapital, um diese Industriezweige zu entwickeln. Schließlich verknüpfen sie mittels des Warenverkehrs und mittels des Kreditverkehrs das Schicksal der Landwirtschaft aufs engste mit ihrem eigenen Schicksal. Die Zeiten sind vorbei, wo die Landwirtschaft die wirtschaftliche Grundlage des Staats bildete. Die Städte können jetzt auch ohne einheimische Landwirtschaft existieren. Aber ohne Städte keine Landwirtschaft. Man kann nicht aus der Entwicklung der Landwirtschaft die Entwicklung der Städte ableiten, wohl aber begreift man die Entwicklung der Landwirtschaft nicht mehr, wenn man nicht die Entwicklung der Städte in Betracht zieht.

Mit der Charakteristik der Städte und Eisenbahnen schließen wir vorläufig die Betrachtung der industriellen Verhältnisse, um uns der Landwirtschaft zuzuwenden.

* * *

Anmerkung

5. Monatshefte zur Statistik des Deutschen Reichs, 1884, V, S. 9

6. In der Hauptsache Dienstboten. Die amtliche Statistik zählt sonderbarerweise die Dienstboten nicht zu den „Erwerbstätigen“, wohl aber – das Militär. Wir haben dieses insofern ignoriert, als wir die Dienstboten zu den Erwerbstätigen gerechnet haben. Darum stimmen unsere Prozentsätze nicht ganz mit den amtlichen überein. Im Übrigen handelt es sich für uns nicht bloß um die Erwerbstätigen, sondern um die Erwerbsfähigen.

7. Darunter das stehende Heer.

8. In den Großstädten wie im Reich hauptsächlich Rentiers.

9. Selbst jede einzelne deutsche Großstadt für sich zeigte 1882 ungefähr das gleiche Verhältnis. So betrug die respektive Prozentsatz: in Berlin 50,8, in Hamburg 40,8, Breslau 41,5, München 40,4, Dresden 41, Leipzig 41,4, Köln 41, Königsberg 30,8, Frankfurt am Main 35,7, Hannover 45, Stuttgart 42,5, Bremen 44, Danzig 36,7, Straßburg 40,3, Nürnberg 51,9.

10. Für einzelne Großstädte, wie Berlin, ist die Konfektion eine bedeutende Exportindustrie.


Zuletzt aktualisiert am 16. April 2024