Parvus (Aleksandr Helphand)

Der Weltmarkt und die Agrarkrisis


1. Zur Einleitung


Der Einfluss des Weltmarkts auf die Produktion innerhalb der einzelnen Nationen ist bereits zum Gemeinplatz geworden. Dennoch ist dieser Einfluss noch sehr wenig erforscht. Die gewöhnliche Auffassung begnügt sich hier mit der einfachen Konstatierung der einzelnen Erscheinungen. Man weiß, der europäische Getreidebau leidet unter der Entwicklung des Getreideweltmarkts, man weiß, dass die europäische Schafzucht zurückgeht in Folge der Entwicklung des australischen Wollexports, dass die Lage der europäischen Baumwollindustrie wesentlich bestimmt wird durch den Ausfall der amerikanischen und ostindischen Baumwollernten, und Ähnliches mehr. Das sind aber nur die augenfälligen Zusammenhänge, die sich schon aus der Analogie mit der inneren Entwicklung des nationalen Markts aufdrängen. Der Weltmarkt erscheint hier nur als erweitertes Absatzgebiet und Produktionsfeld und nicht in seinen kapitalistischen Eigenschaften, als spezifisch kapitalistischer Markt. Die Konkurrenz, die hier ins Auge gefasst wird, ergibt sich schon aus der Entwicklung der Verkehrsmittel und verrät in nichts, dass es sich dabei um Entwicklungserscheinungen der kapitalistischen Weltproduktion handelt.

Es gibt aber andere Zusammenhänge. Der Weltmarkt kann, und selbst in seinen Einzelerscheinungen, nur begriffen werden, wenn man ihn als Ganzes fasst, in der ungeheuren Mannigfaltigkeit seiner Beziehungen, Verbindungen und Verhältnisse, die aber zusammen nur der Ausdruck sind der kapitalistischen Produktion.

Es ist eine große revolutionäre Eigenschaft des Kapitalismus, dass er die lokalen, natürlichen und technischen Abgrenzungen der Produktion ökonomisch überwindet und so erst eine gesellschaftliche Produktion in großem Maßstabe schafft. Dieses Ergebnis wird erzielt nicht bloß durch die gesellschaftliche Arbeitsteilung, nicht bloß durch die Verkehrsmittel und nicht bloß durch die Warenproduktion, sondern außerdem und dies alles durchdringend und bestimmend durch die Reproduktion und Akkumulation des Kapitals.

Die erweiterte Reproduktion des Kapitals, die Notwendigkeit, den Produktionsprozess stets in erweitertem Umfange zu erneuern ist es, die das Absatzgebiet und das Produktionsfeld fortgesetzt ausdehnt, die Produktion identifiziert, die alten Produktionsarten zerstört oder kapitalistisch umgestaltet, die entferntesten Länder in den Produktionsbereich des Kapitals zieht.

Die nationalen Produktionen werden miteinander verbunden, aber nur, um dann ihren nationalen Charakter zu verlieren. An Stelle des Internationalismus tritt der Kosmopolitismus. Die nationalen Produktionen verlieren ihre Selbständigkeit. Sie werden zu untergeordneten, zusammenhängenden, einander wechselseitig bedingenden Teilen eines Produktionsganzen, das in keiner Nation liegt, und das ist eben der Weltmarkt.

Je mehr die Entwicklung in dieser Richtung fortschreitet, desto weniger ist man im Stande, die Schicksale der nationalen Produktion vom nationalen Standpunkte, selbst unter dem Korrektiv der internationalen Konkurrenz, zu beleuchten, sondern man wird genötigt sein, sie aus der Entwicklung des Weltmarkts abzuleiten.

Wir sind auch jetzt schon so weit, dass die ernste Erforschung jener ökonomischen Erscheinung von größerer Tragweite mit Notwendigkeit auf den Weltmarkt, als den Knotenpunkt der Produktionsbeziehungen zurückführt. Vieles, was soeben erst klar erschien, zeigt sich dann als ein vertracktes, kompliziertes Ding. Man sagt zum Beispiel, der niedrige Getreidepreis sei bedingt durch den großen Zufluss amerikanischen Getreides nach Europa. Es genügt zu fragen: Aber wodurch wird diese Zufuhr bedingt und wo liegen die Grenzen der normalen gegenüber der übermäßigen Zufuhr? – und man wird in eine Masse von Zusammenhängen eingeführt, die unentwirrbar ist, so lange man nicht die im Weltmarkt sich vollziehende große Verallgemeinerung und Vereinheitlichung der kapitalistischen Produktion begreift. Dann aber zeigt es sich, dass dieser Zusammenhang zwischen Getreidepreis und Getreidezufuhr ein sehr oberflächlicher ist, dass man mit fast dem gleichen Recht das Umgekehrte sagen könnte, nämlich, dass die große amerikanische Zufuhr durch die niedrigen europäischen Preise bedingt sei, dass aber vor allem, obwohl zweifellos der landwirtschaftliche Produktionscharakter Europas und Amerikas bestimmend sei für die Getreidepreise, dennoch diese und die Bewegungen des Getreidemarkts noch von einer Menge anderer Umstände abhängen, kurz, dass die landwirtschaftliche Produktionsentwicklung der einzelnen Länder nur im Zusammenhange der kapitalistischen Weltproduktion zu begreifen sei.

Die Produktion wird zur Weltproduktion. Die ökonomischen Zustände der einzelnen Länder werden immer mehr durch Zusammenhänge bestimmt, die außerhalb ihrer politischen Machtsphäre liegen. Die Staatspolitik wird zum Spielball des Weltmarkts. Die Bourgeoisie zeigt sich immer weniger im Stande, ihre eigenen Schicksale zu meistern, und um ihre nationalen politischen Richtungen zu begreifen, wird es notwendig, die Lage des Weltmarkts zu studieren.

Es soll nun der Versuch gemacht werden, die jetzige ökonomische und politische Situation in Europa und besonders in Deutschland auf Grund der tatsächlichen Entwicklung des Weltmarkts zu beleuchten. Es werden dadurch auch die landwirtschaftlichen Zustände und die damit zusammenhängenden politischen Bewegungen von einem Gesichtspunkte aus aufgeklärt, der bis jetzt außer Acht gelassen wurde.

Selbstverständlich kann es sich hier nicht darum handeln, im Rahmen einer Wochenschrift eine vollkommene und umfassende wissenschaftliche Darlegung dieser äußerst komplizierten Verhältnisse zu geben. Wir werden uns damit begnügen, die allgemeinen Zusammenhänge anzudeuten.


Zuletzt aktualisiert am 16. April 2024