Parvus (Aleksandr Helphand)

Zur Diskussion über den
Agrarprogrammentwurf

(Sommer 1895)


Aus: Leipziger Volkszeitung, Nr. 165, 166, 167, 169, 175 und 177, 19., 20., 22., 24., 31. Juli und 2. August 1895.
Die ersten vier Artikel erschienen als Leitartikel, mit dem Datum als Überschrift.
Text in geschweiften Klammern ist von der Redaktion der LVZ, in eckigen Klammern von WK, 2004.
Kopiert mit Dank von der Webseite Sozialistische Klassiker 2.0.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.



[I. Einleitung]

{Zur Kritik des Programmentwurfs werden wir an dieser Stelle zunächst eine Reihe von Artikeln eines Parteigenossen veröffentlichen, die wir abdrucken, ohne damit den Standpunkt der Redaktion festzulegen. Eine eigene Stellungnahme behalten wir uns vor. [Bruno Schoenlank, der Herausgeber der LVZ, unterstützte den Programmentwurf]}

Der von der Agrarkommission ausgearbeitete Entwurf eines Agrarprogramms ist nunmehr publiziert worden und fordert zur ernsten Kritik auf.
 

[Agrarprogramm und allgemeines Programm]

Was es jetzt zu schaffen gilt, ist weit wichtiger noch als was [auf den SPD-Parteitagen] in Halle [1890] und Erfurt [1891] geschaffen wurde. Denn damals galt es bloß, auf Grund einer langen und glorreichen Erfahrung und einer klaren theoretischen Erkenntnis die Unkorrektheiten und teilweise durch das Kompromissbedürfnis [des Parteiprogramms] von Gotha [1875] hervorgerufenen Falschheiten auszumerzen – jetzt handelt es sich darum, ein neues Programm aufzustellen, das für eine Anzahl Jahre die Richtschnur abgeben soll für die Tätigkeit der Partei.

Gewiss, diesmal haben wir es nicht mit dem allgemeinen, sondern mit einem Bauernprogramm zu tun. Aber falsch wäre es, deshalb anzunehmen, als handle es sich um eine aparte Angelegenheit, die die eigentliche Arbeiterbewegung wenig beeinflusst bzw. bloß für diejenigen von Interesse ist, die sich mit der Bauernagitation abgeben. Je mehr die Partei sich mit der Bauernagitation beschäftigt – und dazu wird sie immer mehr durch die ökonomische und politische Entwicklung gedrängt, daraus entsprang ja auch das Bedürfnis eines besonderen Agrarprogramms, und zu diesem Zweck wird dieses Programm geschaffen, um die Bauernagitation auf breiterer Grundlage zu entfalten – je ausgedehnter die sozialdemokratische Bauernbewegung, desto größer der Zusammenhang, die Rückwirkungen und Wechselwirkungen zwischen der industriellen Arbeiterbewegung und der Bauernagitation.

Eine einheitliche und prinzipielle Partei, die nicht bloß demagogisch nach dem politischen Augenblickserfolg hascht, die Sozialdemokratie, die sozialrevolutionäre Partei der kapitalistischen Gesellschaft vermag nicht auf die Dauer zwei einander widersprechende Agitationen zu betreiben. Wenn das Agrarprogramm Falschheiten enthält, so werden daraus sehr schnell die entsprechenden Konsequenzen für die Arbeiterbewegung gezogen und auf diese übertragen werden. Die Kritik des Programms wird uns später Gelegenheit geben, dies an konkreten Beispielen zu zeigen. Aber auch der allgemeine Charakter, der Geist der Partei, ihr politisches, revolutionäres Auftreten werden dadurch sofort beeinflusst werden. Es genügt zu erwähnen, dass wir ja nicht zwei gesonderte Fraktionen im Reichstage haben können, die eine für die Arbeiter und die andere für die Bauern bzw. für die Industrie und für die Landwirtschaft. Jede prinzipielle Blöße, die sich etwa die Partei in ihrem Agrarprogramm gegeben hätte, würde von den bürgerlichen Parteien und der Regierung mit jubelndem Triumph auf Schritt und Tritt ausgenutzt werden, um den Widerspruch mit ihrer allgemeinen sozialrevolutionären Stellungnahme aufzuweisen

Es ist also das Agrarprogramm eine Angelegenheit von eminenter allgemeiner Bedeutung für die Partei. Zur Kritik an ihm darf nicht nur vom Standpunkt seiner Wirkung auf die Bauern und Landarbeiter, sondern vor allem vom Standpunkte seiner Rückwirkung auf den Klassenkampf des industriellen Proletariats und seines Zusammenhangs mit dem sozial-revolutionären Charakter der Partei geübt werden.

Dazu kommt noch, dass der Entwurf der Agrarkommission keine theoretischen Erörterungen, sondern praktische Forderungen enthält. So sehr eine Partei wie die Sozialdemokratie auf die theoretische Reinheit des Programms zu achten hat, so sind doch etwaige theoretische Ungenauigkeiten von untergeordneter Bedeutung, wenn die praktische Tätigkeit der Partei einer korrekten prinzipiellen Stellungnahme entspricht. Das ist ja die Erfahrung, die die Partei mit dem theoretisch ungenauen Gothaer Programm gemacht hat.

Anders die praktischen Forderungen. Sie stehen nicht bloß auf dem Papier, sind nicht bloß eine mehr oder weniger gelungene literarische Formulierung des politischen Wesens der Partei. Sie geben die Punkte an, auf die sich die politische Agitation, die parlamentarische, womöglich die gesetzgeberische Tätigkeit der Partei zu konzentrieren hat. Sie sind dazu da, um möglichst schnell in der Form von Gesetzen respektive Staatseinrichtungen verwirklicht zu werden. Sie bedeuten also einen unmittelbaren Eingriff in die bestehenden Verhältnisse. Die Partei charakterisiert hier nicht bloß sich selbst, sondern sie übernimmt bestimmte Verpflichtungen und Verbindungen, wofür sie die politische Verantwortung zu tragen hat.

Ist einmal ein praktisches Programm von der Partei aufgestellt worden, so kann es von ihr nicht missachtet werden. Tut sie es nicht selbst, so wird sie von ihren Gegnern gezwungen werden, für die aufgestellten Forderungen einzutreten. Kurz, es handelt sich um die Taktik der Partei, darum, was die Partei in der nächsten Zeit zu tun hat.

Es ist deshalb durchaus notwendig, die Sache von allen Seiten zu betrachten und sie redlich zu erwägen, bevor man zur Aufstellung eines Agrarprogramms schreitet.
 

[Die Tätigkeit der Agrarkommission]

Nun bedenke man folgendes. Als man es nach dem Fall des Ausnahmegesetzes unternahm, das Programm zu revidieren, wobei man so ziemlich einig war darüber, was zu ändern wäre, da unterwarf man zunächst das alte Programm einer eingehenden Kritik in Halle, und dann verging noch ein ganzes Jahr, bis man sich in Erfurt auf der jetzigen Fassung einigte. Und nun bekommen wir 2½ Monate vor dem Parteitag ein fertiges Programm – dass es sich redaktionell als Teil des allgemeinen Programms darstellt, ist gleichgültig, es enthält ein ausgearbeitetes System neuer Forderungen – und während dieser überaus kurzen Zeit soll die Sache spruchreif gemacht werden! Weshalb denn diese sich überstürzende Hast?

Die Agrarkommission hatte keineswegs die strikte Anweisung, ein Programm auszuarbeiten, am allerwenigsten schon bis zum nächsten Parteitag. Nach der Resolution hatte sie nicht einen Programmvorschlag zu machen, sondern „Vorschläge“ von Maßregeln, die in den praktischen Teil des Programms eingefügt werden könnten, woraus sich allerdings dem Sinn nach auch die Befugnis ergab, ein vollständiges Programm vorzulegen. Nebenbei sollte sie aber noch Material sammeln zur Beurteilung der Bauernfrage, sie sollte nach dem Ausdruck Vollmars eine „Studienkommission“ sein. Die Aufgaben waren so groß, dass Vollmar bezweifelte, ob die Kommission in einem Jahre damit fertig würde.

Und was tat die Agrarkommission? Kaum ist sie zusammengekommen, so zergliedert sie sich in Unterabteilungen, die sofort nach allen Weltgegenden auseinanderstreben. Man braucht nicht einmal alle Finger der einen Hand, um die gemeinsamen Sitzungen der Kommission aufzuzählen. Aber wenn man die Ausarbeitung eines Programms im Sinne hatte, so war doch das erste Erfordernis, es wiederholt gemeinsam durchzuberaten.

Wo ist weiter das gesammelte Material? Inwiefern ergeben sich aus ihm die aufgestellten Forderungen? Wird es veröffentlicht werden? Soll es zur Begründung des Programms gebraucht werden? Wir erfahren nichts darüber.

Es drang überhaupt die ganze Zeit hindurch so gut wie gar nichts in die Öffentlichkeit über die Arbeiten und Verhandlungen der Kommission und ihrer Unterabteilungen, ausgenommen die wiederholte Versicherung, dass alles glatt gehe. Alle Welt glaubte, es werde vorläufig nur Material gesammelt. Plötzlich tritt die Kommission wieder zu zwei Sitzungen zusammen, die nicht einmal vollständig sind, weil Vollmar krank darnieder liegt und nicht erscheinen kann, und das Resultat ist das vorgelegte Agrarprogramm.

Dieses soll einstimmig angenommen worden sein. Ob nicht jemand dabei einige Vorbehaltungen gemacht habe, darüber erfährt man nichts. Und doch erscheint uns bei genauer Durchsicht des Entwirf dieser Fall keineswegs für ausgeschlossen, sogar wahrscheinlich. Wie sich aber die Debatten gestalteten, welche Vorschläge noch gemacht wurden, wie die einzelnen Forderungen begründet wurden, was und von wem für und wider angeführt wurde, über all das erfahren wir nichts und wieder nichts!

Schließlich erklärt die Kommission, sie wolle die öffentliche Kritik abwarten, um dann wieder zusammenzutreten und eine endgültige Fassung zu beschließen. Sie ist also noch selbst unsicher.

Abgesehen davon, dass bei diesem Verfahren entweder die Kritik zu kurz kommt, wenn die Sitzung zu früh stattfindet, oder der Parteitag, wenn die Sitzung zu spät einberufen wird und er auf diese Weise durch eine neue Fassung des Programms überrascht wird, die vorher gar nicht mehr wird besprochen werden können, abgesehen von alledem, wäre es denn unter diesen Umständen nicht eher angebracht, statt eines Programms einfach einen Tätigkeitsbericht zu verfassen, den die jetzigen Programmforderungen als gemachte Vorschläge angehängt werden könnten? Zur Debatte stände dann nicht das Agrarprogramm, sondern die Agrarfrage, wobei in der Debatte auch der Kommissionsbericht berücksichtigt werden könnte.

Wir hatten ja bis jetzt noch keine Agrardebatte. In Frankfurt [1894] kam man wegen Zeitmangels kaum über die Begründung der einzelnen Anträge hinaus. Das wäre doch ein außergewöhnliches und umgekehrtes Verfahren, ein Programm zur Erörterung zu bringen, noch bevor eine allgemeine Debatte stattgefunden hat. Es ist klar, dass erst, wenn durch diese die verschiedenen Standpunkte sich geklärt haben und ein prinzipielles Einverständnis erreicht worden ist, man darauf rechnen kann, auch in Bezug auf eine programmatische Fassung eine Übereinstimmung zu erzielen.

Wir werden noch auf diesen Gegenstand am Schluss unserer Erörterungen zurückkommen.

Freilich, wenn es der Agrarkommission gelungen wäre, mit einem Wurf ein Werk zustande zu bringen, das allgemein in der Partei befriedigte, an dem nichts mehr als nur unwesentliches auszusetzen wäre, dann fallen ja alle Bedenken weg und es wäre nichts mehr zu wünschen. Das wollen wir nun prüfen. Jedenfalls ist es im höchsten Interesse der Partei, an dem Entwurf des Agrarprogramms eine ebenso sachliche wie rücksichtslose Kritik zu üben.
 

[II. „Verbesserung der Zustände in Gewerbe, Landwirtschaft, Handel und Verkehr“?]

{Zur Kritik des Programmentwurfs schreibt Parvus weiter:}

Die Forderungen, die an das Agrarprogramm gestellt werden, sind folgende:

    Es muss im Stande sein, das Interesse des Landproletariats und der bei kapitalistischer Produktionsweise zu diesem herabsinkenden Bauernmasse, überhaupt des in der Landwirtschaft tätigen Volks, insofern es direkt oder indirekt vom Kapital ausgebeutet wird, soweit zu erwecken, um eine politische Massenbewegung unter der landwirtschaftlichen Bevölkerung erzeugen zu können.
     
    Es muss geeignet sein, diese Bewegung auf die Dauer aufrecht zu erhalten, solange bis der Klassenkampf des Proletariats mit dem Sturz der kapitalistischen Produktionsweise beendet ist.
     
    Der Klassenkampf des industriellen Proletariats darf dadurch nicht benachteiligt werden.
     
    Der allgemeine sozialrevolutionäre Charakter der Partei muss gewahrt bleiben. Man vergesse nicht, dass es sich nicht darum handelt, die landwirtschaftliche Bevölkerung mit allen Mitteln zu gewinnen, sondern vor allem darum, den Klassenkampf aufs platte Land zu verpflanzen.
     
    Schließlich muss die Fassung klar sein, keine Unbestimmtheiten enthalten und keine Missdeutungen zulassen. Das Programm muss jedermann verständlich machen, was wir wollen.

Der Entwurf der Agrarkommission stellt sich zunächst als Einschiebung in das allgemeine Programm dar. Zu diesem Zweck musste der Übergang vom theoretischen zum praktischen Teil durch eine große Einschaltung erweitert werden. Es heißt danach nunmehr, dass die Sozialdemokratie zur „Demokratisierung“ (versteht denn der Bauer dies Wort?) aller öffentlichen Einrichtungen in Reich, Staat und Gemeinde, für die Hebung der sozialen Lage der arbeitenden Klassen und für die Verbesserung der Zustände in Gewerbe, Landwirtschaft, Handel und Verkehr, zunächst fordert“, und nun folgend die einzelnen Punkte.

Wir wollen uns bei rein stilistischen Aussetzungen nicht aufhalten, aber man beachte die gesperrt [hier: fett] gedruckte Stelle „Verbesserung der Zustände in Gewerbe, Landwirtschaft, Handel und Verkehr“. Was wird damit gemeint? Der Satz ist ganz verschwommen. Die Zustände in Gewerbe etc. können ökonomischer, auch technischer, sie können, insofern es sich um die Rückwirkung der ökonomischen Verhältnisse auf die gesamte soziale Lage der dabei beteiligten Personen handelt, so genannter sozialpolitischer, sie können ferner sanitärer oder sogar sittlicher Natur sein.

Da die Hebung der sozialen Lage der Arbeiter schon im Vordersatz enthalten ist, so sind offenbar die ökonomischen Zustände gemeint, d. h. die auf Produktion und Erwerb bezüglichen. Die Verbesserung dieser ökonomischen Zustände in Gewerbe, Landwirtschaft, Handel und Verkehr soll also nach der Darstellung des Entwurfs unter anderem die Aufgabe unsres praktischen Programms sein.

Sieht man nun dieses selbst durch, so findet man, abgesehen von dem neuen agrarischen Teil, keine einzige Forderung, die man unter diese Rubrik stellen könnte. Unsere praktischen Forderungen sind entweder rein politischer Natur, erfassen also den Arbeiter als Bürger, oder sie sind finanzieller Natur, beziehen sich also wieder direkt auf das Verhältnis zwischen Volk und Staat, oder aber, sie sind, wie der Arbeiterschutz, sozialpolitisch, beziehen sich also auf die „Hebung der sozialen Lage der arbeitenden Klassen“, die der Entwurf besonders registriert.

Das ist kein Zufall. Bis jetzt hat es die Sozialdemokratie als ihre Aufgabe betrachtet, nicht die ökonomischen Zustände der herrschenden Gesellschaftsform zu verbessern, sondern sie abzuschaffen. Denn sie betrachtete diese Zustände als das naturnotwendige Ergebnis der gesamten auf dem Privatbesitz an den Produktionsmitteln und der Warenproduktion beruhenden kapitalistischen Produktionsweise.

Das kam auch klar und entschieden im allgemeinen Teil unseres Programms zum Ausdruck. Nachdem hier gezeigt wurde, wie die Entwicklung des kapitalistischen Großbetriebes die Gesellschaft zersetzt, die ökonomischen „zustände“ verschlimmert, wird dann weiter wörtlich fortgefahren: „Nur die Verwandlung des kapitalistischen Privateigentums an Produktionsmitteln, Grund und Boden, Gruben und Bergwerke, Rohstoffe, Werkzeuge, Maschinen, Verkehrsmittel – in gesellschaftliches Eigentum und die Umwandlung der Warenproduktion in sozialistische, für und durch die Gesellschaft betriebene Produktion, kann es bewirken, dass der Großbetrieb und die stets wachsende Ertragsfähigkeit der gesellschaftlichen Arbeit für die bisher ausgebeuteten Klassen aus einer Quelle des Elends und der Unterdrückung zu einer Quelle der höchsten Wohlfahrt und allseitiger, harmonischer Vervollkommnung werde.“

Darum meinte bis jetzt die Sozialdemokratie, dass ihre Aufgaben innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft die sind, durch politische und gewerkschaftliche Organisierung die Arbeiterklasse zu einer Macht herauszubilden, die im Stande wäre, die soziale Revolution zu vollbringen, ferner die politische Unterdrückung der Arbeiterklasse zu beseitigen und schließlich gleichzeitig damit durch gewerkschaftlichen Kampf und sozialpolitische Gesetzgebung, soweit es nur geht, die Lage der Arbeiterklasse zu verbessern.

Die Verfasser des Agrarprogramms haben nun ganz richtig erkannt, dass durch all das die ökonomischen Verhältnisse nicht verändert werden. Wird doch z. B. selbst durch Verkürzung des Arbeitstags und Erhöhung des Arbeitslohnes das ökonomische Verhältnis zwischen Kapitalisten und Arbeitern gar nicht beeinträchtigt. Selbst quantitativ kann dabei die Ausbeutung respektive der Profit des Kapitalisten steigen. So beweisen seit langem schon zahlreiche bürgerliche Ökonomen auf Grund eines zahlreichen Materials, dass durch diese beiden Umstände die Konkurrenzfähigkeit des Kapitals nicht vermindert sondern im Gegenteil gesteigert wird. Und wie oft wurde bereits in der Parteipresse der Beweis geführt, dass durch die Verkürzung der Arbeitszeit die Unternehmer keinen Schaden leiden, sondern, dass also die ökonomische Stellung des Kapitals die gleiche bleibt?

Weil die Schöpfer des Programmentwurfs das erkannt haben, so fügten sie zu der „Hebung der sozialen Lage der arbeitenden Klassen“ noch die „Verbesserung der Zustände in Gewerbe, Landwirtschaft, Handel und Verkehr“ hinzu. Und indem sie das hinzusetzten, setzten sie sich in einen eklatanten Widerspruch zu der klaren prinzipiellen Auffassung unseres Programms, mit der Geschichte und der Zukunft des proletarischen Klassenkampfes. Denn wenn wir die Möglichkeit hätten, innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft die ökonomischen Zustände zu verbessern, zu welchem Zweck dann der sozialrevolutionäre Kampf? Dann würden wir einfach allmählich, Tag für Tag bald dieses, bald jenes aufbessern, bis ganz allmählich ein Zustand geschaffen worden ist, in dem es allen leidlich wohl geht.

Man glaube nun nicht, es handle sich bloß um einen redaktionellen Missgriff. Mit Nichten, so sehr auch die Fassung an Klarheit zu Wünschen lässt. Aber der neue, agrarische Teil enthält tatsächlich solche Forderungen, die eine „Verbesserung der Zustände, lies: der ökonomischen Zustände, in der Landwirtschaft“ bezwecken. Sind aber einmal diese Forderungen im Programm, so ist es gleichgültig, ob sie vorher, wie es der Entwurf tut, ihrem Wesen nach im Allgemeinen charakterisiert sind, oder nicht. Die Tatsache bleibt doch bestehen.

Und nehmen wir in Bezug auf die Landwirtschaft eine solche Stellung ein, so ist es nur folgerichtig, dasselbe auch auf Gewerbe, Handel und Verkehr zu übertragen. Die Verfasser des Entwurfs zogen alle bloß die richtige Konsequenz aus ihrer prinzipiellen Stellungnahme der Landwirtschaft, indem sie den kritisierten Passus schrieben. Hätten sie es nicht selbst getan, so würde es von anderen besorgt werden, vor allem von denen, die daran wirtschaftlich oder politisch interessiert sind.

So haben wir denn den ersten klaren und sehr bezeichnenden Fall, wie das Agrarprogramm auf die Arbeiterbewegung und die allgemeine sozialrevolutionäre Stellung der Partei zurückwirkt.

Zum Schluss versuchen wir es doch, uns konkret vorzustellen, was das für ökonomische Zustände sind, die es zu verbessern gilt.

Da ist zunächst etwas, das in fast gleichem Maße „Gewerbe, Landwirtschaft, Handel und Verkehr“ betrifft – die Krise. Sie wirkt verheerend. Gibt es hier nicht etwas zu „verbessern“? Nach unserem Programm ist zwar die Krise „im Wesen der kapitalistischen Produktionsweise begründet“, aber könnten wir nicht die Verbesserung damit anfangen, dass wir diesen Passus des Programms streichen?

Da ist ferner der sehr traurige, verbesserungsbedürftige Zustand, in dem sich der Kleinbetrieb in Gewerbe und Handel befindet. Sollen wir nicht auch hier mit Verbesserungen eingreifen? Da gibt’s eine zahlreiche Gesellschaftsschicht zu gewinnen. Und wiederum müssten wir einiges aus dem prinzipiellen Teil des Programms streichen, denn nach diesem ist der Untergang des Kleinbetriebs die unvermeidliche Folge der Entwicklung der kapitalistischen Produktion.

Und ähnliches mehr! Vor allem würde es notwendig sein, bevor man diesen Weg beschreitet, einen dicken Strich durch den prinzipiellen Teil unseres Programms zu machen.

Oder ist vielleicht damit doch etwas anderes gemeint? Was denn? Wir verlangen klare Auskunft, was das für „Zustände“ sind in „Gewerbe, Landwirtschaft, Handel und Verkehr“, die es zu „verbessern“ gilt und wie das geschehen soll? Die Partei muss doch wissen, woran sie ist, was von ihr gefordert, was ihr zugemutet wird? Und wir glauben, dass es von großem Interesse für die weitere Diskussion ist, möglichst schnell den Sachverhalt aufzuklären.

Unterdessen wollen wir untersuchen, wie der Programmentwurf „den Zustand in der Landwirtschaft“ zu „verbessern“ trachtet.
 

[III. Einzelforderungen]

Der Programmentwurf der Agrarkommission trägt auch formell den Stempel größter Eile auf sich. Die Gruppierung der einzelnen Forderungen ist wenig übersichtlich und manchmal sind in einem Paragraph Sachen vereinigt, die nur lose miteinander zusammenhängen. Wir werden uns daher im Folgenden nicht strikt an die gegebene Anordnung halten können.

Zunächst seien die Erweiterungen und Erläuterungen erwähnt, die zu den bereits im praktischen Programm enthaltenen Aufstellungen gemacht werden.

Da ist die „Beseitigung aller Ertragssteuern“, die sich von selbst aus der Forderung einer einzigen Einkommens- und Vermögenssteuer ergibt. Ausdehnung der Arbeiterschutzgesetzgebung auf die Landwirtschaft. Neben den gewerblichen Errichtung von landwirtschaftlichen Arbeitsämtern.

Im Anschluss an den letzten Punkt enthält das jetzige Programm noch die Forderung einer „durchgreifenden gewerblichen Hygiene“. Stattdessen soll es nunmehr heißen: „Durchgreifende Fürsorge für die Gesundheitsverhältnisse der Arbeiter in Stadt und Land“. Die Änderung ist offenbar hervorgerufen durch das Bedürfnis, die Landwirtschaft hinein zu beziehen und ein Fremdwort zu beseitigen. Allein die neue Fassung ist eine sehr unglückliche. Wollte man „durchgreifend für die Gesundheitsverhältnisse der Arbeiter“ sorgen, so müsste man vor allem für die Abschaffung der langen Arbeitszeit, der geringen Löhne und der schlechten und überfüllten Wohnungen Sorge tragen. Diese Aufgaben in ihrer Gesamtheit können wir dem kapitalistischen Staat nicht stellen, denn er ist außer Stande, sie zu erfüllen. Aber darum handelt es sich gar nicht an dieser Stelle. Es ist in Wirklichkeit bloß die Beseitigung jener Schäden für die Gesundheit gemeint, die sich aus dem öffentlichen Verkehr, dem gedrängten Zusammenwohnen in größeren Ansiedlungen, besonders in den Städten, aus der gemeinsamen Arbeit in der gesundheitlich schlecht eingerichteten Fabrik oder Werkstatt ergeben, kurz die öffentliche Gesundheitspflege. Das musste aber vor allem klar gesagt werden.

Es ist uns jedoch überhaupt nicht recht verständlich, wie die gesundheitliche Besserstellung des platten Landes in der kapitalistischen Gesellschaft vor sich gehen könnte. Ein Umbau der Dörfer würde mit großen Schädigungen für die vielen kleinen Haus- und Hofbesitzer verbunden sein. Eine sanitäre Beaufsichtigung der Bauernhöfe ist unmöglich. Und dann, wer sollte die Kosten tragen? Die Gemeinden? Die sind auch jetzt arm genug. Es ist also eine Sache, die sehr vorsichtig angefasst werden muss.

Ferner werden gefordert „obligatorische Gewerbegerichte sowohl für gewerbliche als auch für landwirtschaftliche Arbeiter“. Nette Stilisierung das! „Gewerbe“gerichte für „Landwirtschaft“. Das ist genauso wie eine Agrarkommission für Gewerbe. Es müsste heißen „Arbeitsgerichte“ oder ähnlich. Aber die Kommission hatte Eile!

Sodann die Vereinheitlichung und Verallgemeinerung der Arbeiterversicherung.

Eine größere Erweiterung hat der Passus über das Schulwesen erfahren. Da werden zunächst „Fortbildungs“schulen gefordert. Ferner: „Errichtung ausreichender gewerblicher und landwirtschaftlicher Fachschulen, Musterwirtschaften und Versuchsstationen: Abhaltung regelmäßiger landwirtschaftlicher Unterrichtskurse“.

Jede Erweiterung des Volksunterrichts wird von vornherein der Zustimmung der Sozialdemokratie sicher sein. Speziell die Forderung von Fachschulen ist schon seinerzeit von der Internationale erhoben worden. Auch gegen die Musterwirtschaften und Versuchsstationen lässt sich an und für sic nichts einwenden, es sei denn, dass man hier offene Türen anrennt, da der kapitalistische Staat bereits von selbst nach dieser Richtung hin beträchtliches geleistet hat und beide Forderungen seit langem auf dem Regierungsprogramm stehen. Es wäre ein Schauspiel nicht ohne ergötzlichen Beigeschmack, den konservativen Herrn von Schultz-Lupitz als Hauptredner für eine Forderung des sozialdemokratischen Programms auftreten zu sehen.

Aber das ist sehr kennzeichnend für den Geist, der das Programm redigierte, jenen Geist, der sich in Kleinigkeiten verliert und im Kleinen möglichst viel leisten möchte. Wir sehen zum Beispiel nicht ein, warum nicht ähnliches für das Gewerbe gefordert werden sollte? Als Gegenstück zu den landwirtschaftlichen Versuchsstationen und Musterwirtschaften wären dann etwa: Gewerbemuseen, Gewerbeausstellungen, Verteilung von Arbeitsmustern an Hausindustrielle, z. B. von Stickereimustern, Holzschneidemustern u.ä.m. zu verlangen.

Das können alles sehr nützliche Sachen sind, und es ist nicht ausgeschlossen, dass die Sozialdemokratie in den Gemeinde- und Landesvertretungen, auch im Reichstage bei einem einschlägigen Antrag dafür eintritt. Aber anderes ist es, sie zur Programmforderung zu erheben. Der sozialrevolutionäre Charakter der Partei muss auch in ihrem praktischen Programm gewahrt werden. Deshalb kann dieses nur Maßregeln enthalten, die durchgreifende gesellschaftliche Änderungen bezwecken bzw. geeignet sind, in bedeutendem Maß die soziale Revolution vorzubereiten.

Wir verweisen bisher auf die bisherige Fassung des praktischen Programmteils, die vollkommen prinzipiell ist. Warum werden hier nicht die kleinen Maßregeln gefordert, die wir oben als Beispiel angeführt haben? Warum enthält er nichts über Armenunterstützung, über die Organisation öffentlicher Pfandleihanstalten und ähnliche, innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft zweifellos nützliche Einrichtungen? Weil eben die Partei ihre praktische Betätigung innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft nicht im Sinne einer seichten Reformisterei, sondern als Vorbereitung der sozialen Revolution betrachtete.

Aber wenn man von der Absicht ausgeht, die ökonomischen Zustände in der Landwirtschaft schon innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft zu verbessern, dann gerät man unbedingt in das Fahrwasser kleinlicher Reformen. Denn im Großen ist hier nichts zu machen, und so bleibt nur die Flickarbeit am Bei- und Nebenwerk. Deshalb die Versuchsstationen, Musterwirtschaften etc., weil man glaubt, den Bauern helfen zu können, wenn man seine landwirtschaftlichen Kenntnisse erweitert. Als ob die ungenügenden landwirtschaftlichen Kenntnisse die Ursache der Not der Bauern sind und nicht die Not die Ursache seiner Unkenntnis, die wirtschaftliche Not, die dem Bauern kein ausreichendes Produktionsgebiet, keine Mittel einer rationellen Wirtschaft, keine Mittel und Möglichkeit des Unterrichts gibt?!

Von den selbständigen Forderungen des Agrarprogramms wollen wir an dieser Stelle nur die folgenden erwähnen:

„§ 11. Abschaffung aller mit dem Grundbesitz verbundenen behördlichen Funktionen und Privilegien. Entschädigungslose Aufhebung jeglicher Art noch bestehender Erbuntertänigkeit und der aus derselben herstammenden Lasten und Pflichten.“ Politische Freiheit und Gleichberechtigung sind allerdings die Vorbedingungen des modernen Klassenkampfes.

Von apartem Interesse ist der Absatz 2 von § 17: „Freies Jagdrecht auf eigenem und gepachtetem Boden. Verhütung, gegebenenfalls volle Entschädigung für Wild- und Jagdschäden.“

Der Wild- und Jagdschaden ist eine große Plage in Süddeutschland, besonders in Bayern. Aber seine Bedeutung für das Reich ist minim[al], der Zusammenhang mit unserer allgemeinen Parteitätigkeit so gut wie gar keiner. Wenn die bayerischen Genossen durch den Landtag nach dieser Richtung Remedur zu schaffen suchen, so tun sie gut daran. Aber in das Parteiprogramm passt das nicht hinein.

Übrigens, es kommt nicht bloß darauf an, die „volle“ Entschädigung zu fordern, sondern noch mehr darauf, sie zu sichern. Und das kann nur geschehen, indem man ihre Bemessung in strittigen Fällen der Entscheidung der Gemeinde überlässt. Und das ist es, was zu fordern war.

„Freies Jagdrecht auf eigenem und gepachtetem Boden.“ Es ist der erste Fall, dass der Schutz des Privateigentums als Forderung des Parteiprogramms aufgestellt wird. Weit näher als das läge es uns doch, so glauben wir, den bestehenden Schutz des respektiven Privateigentums etwas zu mildern. Wir meinen die harten Strafen für unbefugtes Jagen. Diese werden durch das privateigentümliche „freie“ Jagdrecht nicht aus der Welt geschafft. Im Gegenteil, je mehr Privatrechte, desto mehr Übertretungen.

Das gleiche spielt bereits auf das Gebiet des Strafrechts herüber. Wollten wir uns damit abgeben, so müssten wir das ganze bürgerliche Gesetzbuch und das Strafgesetzbuch in das Parteiprogramm aufnehmen.
 

[IV. Verstaatlichung der Hypotheken]

Eine Forderung von größter Tragweite, die das Agrarprogramm enthält, ist die „Verstaatlichung der Hypotheken- und Grundschulden unter Herabsetzung des Zinsfußes auf die Höhe der Selbstkosten“.

Kein geringerer als Friedrich Engels war es, der diese Maßregel bereits 1869 als Mittel zur Bauernagitation empfohlen hat. Bekanntlich hat später die Pariser Kommune eine radikale Änderung in den Anschauungen von Marx und Engels über die Rolle des Staates bei der sozialistischen Umgestaltung der Produktion hervorgerufen. Seit 1871 hat sich dann noch vieles geändert, die ökonomische Entwicklung ist viel weiter fortgeschritten und mit ihr auch die Verschuldung der Landwirtschaft. Wir wissen nicht, ob Friedrich Engels jetzt noch zu den Verfechtern dieser Forderung zu rechnen ist. Jedenfalls aber ist sie gründlich verfehlt.

Zunächst ist es klar, dass sie einer Vervollständigung bedarf. Hat man einmal die Hypotheken verstaatlicht, so wäre es nur folgerichtig, dass man es dann wiederholt tut, sobald sich wieder eine beträchtliche Summe Privatverpflichtungen angesammelt hat, und das würde nicht viel Zeit erfordern. Dann ist es doch viel einfacher, die Hypothekenverstaatlichung von vornherein durch Organisation von staatlichen Bodenkreditinstituten zu ergänzen.

Der Hypothekarkredit bezieht sich bekanntlich nicht bloß auf den bäuerlichen, sondern auch auf den gutsherrlichen, städtischen und gewerblichen Grundbesitz. Es ist klar, dass die kapitalistischen Grundbesitzer eine große Freude an dem billigen Staatskredit hätten, nicht minder aber auch, dass wir keine Veranlassung haben, ihnen diese Freude zu verschaffen. Sollen wir den ostpreußischen Junkern durch staatliche Übernahme ihrer großen Schulden aus ihrer „Not“ helfen, um dadurch die finstere ökonomische Macht dieses Horts der Reaktion in Deutschland auf eine Zeitlang künstlich zu stärken? Sollen wir der städtischen Bauspekulation zu einem neuen Aufschwung verhalfen, die jetzt schon eine überschüssige Armee von Bauarbeitern geschaffen hat, die den größten Teil des Jahres arbeitslos herumvegetieren und bei dem unvermeidlichen Krach am ärgsten mitgenommen werden? Das kann unser Bestreben nicht sein!

Folglich wird man die Hypothekenverstaatlichung und den billigen Bodenkredit auf die Bauern beschränken müssen. Bekanntlich keine leichte Aufgabe, weil die Grenzen des bäuerlichen Grundbesitzes nach der Beschaffenheit des Bodens und der Art seiner Bewirtschaftung sehr wechselnde sind und eine betrügerische Ausnutzung dieser Begünstigung durch schlaue kapitalistische Unternehmer sich schwer vermeiden lässt. Aber selbst angenommen, es sei durch eine geschickte Fassung und eine Kombination von Strafgesetzen gelungen, diese Maßregel allein dem Bauerntum zuteil werden zu lassen, was würden die Folgen sein?

Die Zinsenlast der Bauern würde zunächst bis zu einem bestimmten Grade vermindert werden, aber die Schulden würden bleiben und auch die Ursachen, die eine immer weitere Verschuldung des Bauerntums verursachen. Die bürgerlichen Ökonomen, die in der hauptsächlichen unmittelbaren Veranlassung der bäuerlichen Verschuldung, in den Erbteilungen die Grundursache dieser Verschuldung sehen, fordern deshalb als weitere Ergänzung der billigen Bodenkredite die gesetzliche Regulierung der Erbteilungen. Sollen wir auch das gleiche tun? Dann würden wir uns aber statt der Sympathien der Bauern ihren bitteren Hass zuziehen.

Damit wäre der Verschuldung auch gar nicht abgeholfen worden. Denn dass der Bauer schließlich immer der Ausbeutung durch Hypothekengläubiger verfällt, ist bloß eine Folge dessen, dass es schon früher indirekt vom Kapital ausgebeutet wurde. Wie eine proletarische Reservearmee so schafft das Kapital auch eine überschüssige Bauernbevölkerung. Es hat die Bauernfamilie dazu gebracht, dass sie hungernd und darbend kaum ihr Leben fristet. Die Parzelle, die die Eltern nicht zu ernähren vermochte, reicht nun vollends nicht aus für die zahlreichere Nachkommenschaft. Am Lebensende des Bauern zeigt sich ihm das klar, wofür er sein Leben lang keine Augen gehabt hat, nämlich, dass er fortwährend mit einer Unterbilanz gewirtschaftet hat. Er setzte Kinder in die Welt, nicht aber zugleich die Mittel, um sie zu versorgen. So wird denn jetzt die Parzelle mit einer Hypothekarschuld beladen, um den Ausfall zu decken. Der eine Erbe bekommt die verschuldete Parzelle, die anderen den Geldbetrag.

Die Ursachen der Bauernverschuldung liegen also nicht in rechtlichen, sondern in wirtschaftlichen Verhältnissen und können folglich durch keine Rechtsnormen abgetan werden, so lange der ökonomische Druck besteht.

Das muss festgehalten werden, wenn man die weiteren Folgen ziehen will, die aus dem billigen Bodenkredit für den Bauern entspringen. Das und noch eins: je mehr zersplittert der Bauernbesitz und je mehr verschuldet er ist, desto größer die Last, die Sehnsucht der Bauern, Land zuzukaufen, und wenn es ihn auch eine neue Hypothek kostet. Denn der Bauer, zumal wenn in der Familie neue Arbeitskräfte heranwachsen, spekuliert darauf, dass das größere Grundstück auch einen größeren Ertrag abwerfe, mit den Kosten also auch der Nutzen wachse, folglich er eher aus der Not herauskommen würde. Er vergisst bloß, dass sein Betrieb ihm jetzt schon ein faktisches Defizit bildet, das er freilich nicht merkt. Andererseits auch der Bauer, der bei einer Erbteilung in bar ausgezahlt wird, weiß mit dem Gelde nichts Besseres anzufangen, als sich eine Parzelle zu kaufen, wiederum unter Aufnahme einer Hypothek. Und was soll er denn anderes mit dem etlichen tausend Mark tun, als etwa noch auszuwandern? Zur Gründung einer bürgerlichen Existenz reichen sie nicht aus, auch ist ihm diese Erwerbstätigkeit fremd, und statt in die Fabrik zu gehen zieht er es vor, bei der Landwirtschaft zu bleiben, in der er aufgewachsen ist. So zieht eine Hypothek eine andere zweite an anderer Stelle nach sich. Das sind die Ursachen der bekannten, so lange die kapitalistische Produktionsweise herrscht, unaufhaltbaren, unbezwingbaren Landgier des Bauerntums.

Hält man das fest, so ist nicht schwer vorauszusehen, was eintreten wird.

Da seine Zinsenlast vermindert werden wird, wird die Landgier der Bauern erst recht entfacht werden, und weil der Kredit billiger geworden, so wird er sie desto eher befriedigen können. Er wird also Land zukaufen und also Staatsbankhypotheken aufnehmen. Desgleichen werden jetzt bei Erbteilungen größere Hypotheken aufgenommen werden, weil es ja im Interesse der einen Partei ist, möglichst viel Geld zu erhalten, und die andere es jetzt leichter tragen kann, weil der Zinsfuß geringer [ist]. Je größer aber die ausgezahlte Barsumme, desto größer die Möglichkeit, sich ein Bauerngut zu kaufen, wobei wiederum der billige Kredit zur Aufnahme einer Hypothek reizt.

Und das Schlussresultat?

Die Bodenpreise werden steigen, die Güterschlächterei wird gedeihen.

Die Verschuldung der Bauern wird enorm anwachsen.

Die Zinsenlast wird rasch auf die frühere Höhe und weit darüber hinaus anschwellen, weil zwar der Zinsfuß herabgesetzt, aber in noch höherem Grade die Schuldsumme gewachsen ist.

Wer würde aber den Nutzen haben von der ganzen Affäre? Außer allerlei Güterspekulanten unzweifelhaft das Großkapital.

Wenn der Staat zum Gläubiger der Bauern wird, so wird er selbst dadurch zum Schuldner des Großkapitals. Denn er muss doch Kapital haben, um die Hypotheken aufzukaufen. Sonst war der Bauernkredit zu zersplittert, als dass sich die große Finanzwelt mit Vorteil damit abgeben könnte. Jetzt, wo der Staat die unzähligen kleinen Kredite zu einer kolossalen Gesamtsumme vereinigt und selbst die Garantie übernimmt, wird das eine willkommene Beute sein für das Großkapital, das mit dem ewigen Fallen der durchschnittlichen Profitrate und der schon lange währenden industriellen Stockung alle Wege und Stege abläuft, um nur eine Anlagemöglichkeit zu finden. Es wird aber nicht bloß von der Verstaatlichung profitieren, sondern auch von der mächtig heranwachsenden Verschuldung.

Fassen wir den Sinn der Hypothekenverstaatlichung in kurzen Worten zusammen, so ist das – die staatliche Organisation der Ausbeutung des Bauerntums durch das Geldkapital!

Würde nun aber vielleicht dadurch die wucherische Ausbeutung des Bauern beseitigt sein? Auch nicht im Mindesten!

Beiläufig sei bemerkt, dass, wenn die Hypothek einmal angenommen und verbraucht worden ist, es dem Bauern ganz gleich ist, ob seine Zinsenlast deshalb so wuchtig, weil der Zinsfuss so hoch oder weil die Schuldsumme groß. Es kommt für ihn in Betracht die Gesamtsumme, die er zu entrichten hat. Und wenn man die Schuldsumme des Bauern vermehrt, so steigert man dadurch ebenso gut dessen kapitalistische Ausbeutung wie durch Erhöhung des Zinsfußes. Eine ungefähre, nicht genau passende Analogie bietet in der Industrie das Verhältnis zwischen Verlängerung der Arbeitszeit und Intensifikation der Arbeit. Doch dies, wie gesagt, nebenbei. Auch der Wucher in seiner angesprochenen Gestalt würde durch die Hypothekenverstaatlichung nicht aus der Welt geschafft werden.

Die Stärke des Wuchers liegt darin, dass er geringe Garantien fordert. Je exorbitanter sein Zinsfuß, desto mehr kann er riskieren. Die Bank, auch die Staatsbank, kann in dieser Beziehung mit dem Wucherer nicht konkurrieren. Je billiger der von den Staatshypothekenbanken gewährte Kredit sein wird, desto geringer ihre Beleihungsgrenze der Grundstücke. Ist nun der Bauer so weit, dass er nichts mehr von der Staatsbank bekommt, dann nimmt er die zweite Hypothek beim Privatgläubiger auf. Schließlich geht er zum Wucherer, dem alles gut ist, der alles beleiht, das Vieh, Pflug und Wagen, den Hausrat.

Wie jetzt oder vor 20 Jahren, wo noch die Zinsenlast viel geringer und eine große Verschuldungsmöglichkeit vorhanden war, so wird der Wucher auch nach der Hypothekenverstaatlichung bestehen bleiben.

Schließlich ein Moment von eminenter politischer Tragweite. Man vergesse nicht, dass wir in Preußen-Deutschland leben. Hier würde man durch die Hypothekenverstaatlichung die ländliche Bevölkerung mit gebundenen Händen der Regierung ausliefern. Oder glaubt man, dass der Bauer sich nicht Liebkind bei der Regierung wird zu machen sucht, wenn er weiß, dass es von Regierungsbeamten abhängt, ob und bis zu welcher Summe sein Grundstück beliehen und in vielen Fällen, ob ihm nicht etwa die Hypothek gekündigt werde?!

So werden wir selbst durch Verstaatlichung der Bauernhypotheken nur die Verschuldung und mit ihr die Not des Bauerntums steigern, dem Großkapital zu sicherem Profit verhelfen und die Landbevölkerung, statt unter ihr eine revolutionäre Massenbewegung zu erziehen, vielmehr der Regierung politisch in die Hände spielen.
 

[V. Nutzung und Eigentum]

{Parvus schreibt uns weiter:}

Der große Haufen der übrigen Forderungen des Agrarprogramms muss zunächst summarisch, seinem Geist nach gekennzeichnet werden, denn im Einzelnen geht es unter den Fingern auseinander.

Dieser Geist aber ist der Geist, der alles Entschiedene und Entscheidende vermeidet.

Man urteile selbst. § 13 z. B. lautet: „Bewirtschaftung der Staats- und Gemeindeländereien auf eigene Rechnung oder Verpachtung an Genossenschaften von Landarbeitern und von Kleinbauern oder, soweit sich beides nicht als rationell erweist, Verpachtung an Selbstbewirtschafter unter Aufsicht des Staates oder der Gemeinde.“

Was will nun die Kommission? Auf welchem Standpunkte steht sie? Was hält sie für richtig? Staatsregie und Gemeindebetrieb, was zwei verschiedene Dinge sind. Genossenschaften, bäuerliche „Selbstbewirtschafter“ (wie wir soeben im „Vorwärts“ lesen, soll das letztere nur in ganz bestimmten Ausnahmefällen geschehen, das bleibt ihr gleich. Geht’s nicht so, dann geht’s vielleicht so oder so, und wenn nicht – na, denn nicht. Aber das ganze soll doch eine Direktive abgeben für den Staat oder die Regierung? Wonach hat sich nun diese letztere zu richten?)

Wie steht es aber tatsächlich mit all diesen Möglichkeiten? Unter der Staatsregie, die sich kaum rentieren würde, würden die Landarbeiter ebenso ausgebeutet werden als sonst wo und wie es jetzt schon in den industriellen Staatsbetrieben der Fall ist. Was unter der „Bewirtschaftung der Gemeindeländereien unter eigener Rechnung der Gemeinden“ zu verstehen ist, ist etwas dunkel. Entweder handelt es sich um einen Lohnarbeiterbetrieb wie beim Staat, oder um einen Genossenschaftsbetrieb. Die ländlichen Produktivgenossenschaften nun haben eine noch geringere Existenzmöglichkeit bzw. sind noch eher dem Schicksal unterworfen, kapitalistisch auszuarten als die industriellen. Denn durch Vereinigung von proletarischen Landarbeitern und von Bauern bringen sie von vornherein wirtschaftliche Ungleichheit, Unterschiede und Gegensätze in das innere Gefüge der Genossenschaft hinein. Der bäuerliche „Selbstbewirtschafter“ vollends würde als Pächter der Staatsdomäne ebenso und vielleicht noch schneller seinem Ruin entgegengehen wie jetzt als Eigentümer einer Parzelle.

Wenn man Forderungen in ein politisches Programm aufnimmt, so muss man den Mut haben, ihre Konsequenzen zu ziehen. Wenn man z. B. die landwirtschaftlichen Genossenschaften dadurch unterstützen will, dass man den Staat verpflichtet, seine Domänen an sie zu verpachten, so ist es nur folgerichtig, versteht sich eigentlich von selbst, dass der Staat diesen Genossenschaften auch bei der Betriebseinrichtung Hilfe leisten sollte. Also Staatsbetrieb an Genossenschaften, die die Staatsdomänen pachten. Und warum dann nicht Staatskredit an landwirtschaftliche Genossenschaft überhaupt? Aber dann hätten wir wieder den längst außer Gebrauch gesetzten Lassalleschen Vorschlag ins Landwirtschaftliche übersetzt, und vor dieser Konsequenz ihrer eigenen Voraussetzung trat die Kommission selbst erschrocken zurück.

Wenn die Sozialdemokratie bis jetzt für etwas anderes eingetreten ist, so tat sie es in vollem Umfange und auf die äußersten Konsequenzen. Aber halbe Maßregeln fordert die Agrarkommission, Viertelmaßregeln, Maßregeln, denen ihre Schärfe und ihr Inhalt genommen worden ist, bis auf einen winzigen Rest, der nun weder brennt noch kühlt.

§ 12 fordert: „Erhaltung und Vermehrung des öffentlichen Eigentums (Staats- und Gemeindeeigentums jeder Art, Allmende usw.), insbesondere Überführung des Besitzes der toten Hand, der Realgemeinden, der Wälder, der Wasserläufe usw. in öffentliches Eigentum unter Kontrolle der Volksvertretung. – Einführung eines Vorkaufsrechts der Gemeinden bezüglich der zu Zwangsversteigerung kommenden Güter.“

Offenbar haben wir es hier bezeichnenderweise als Ausnahme mit einer Forderung zu tun, die nicht auf den augenblicklichen Nutzen, sondern auf einen späteren Effekt berechnet ist. Ihr Sinn kann nur der sein, dadurch den Übergang zur sozialistischen Produktionsweise erleichtern zu wollen. Sie trägt also einen sozialistischen Anstrich, aber wie schwach und matt ist dieser und wie zaghaft der sozialdemokratische Geist, der daraus spricht!

Will man den öffentlichen Grundbesitz vermehren, so ist doch das Nächstliegende, die Verstaatlichung des Grund und Bodens zu fordern. Die bürgerliche Presse zeigt einen richtigen Spürsinn, wenn sie nach der ganzen Fassung des Agrarprogramms in ihm auch diese Forderung sucht. Wird ihr, wie bereits geschehen ist, entgegnet, ja das haben wir doch bereits in unserem prinzipiellen Teil, so ist die Entgegnung falsch. Denn das „gesellschaftliche Eigentum“ an den Produktionsmitteln, folglich auch an Grund und Boden, das dort gefordert wird, ist nicht gleich mit dem „Staatseigentum“ bzw. der „Verstaatlichung“. Sie setzt vielmehr voraus, dass wir den kapitalistischen Staats bereits abgelöst und durch eine andere politische Gesellschaftsordnung ersetzt haben. (Siehe Marx‘ Bürgerkrieg in Frankreich. Adresse des Generalrats der Internationale.) Aber wo kein Staat, da auch keine „Verstaatlichung“. Die „Staatsbetriebe“ werden ja auch vergesellschaftet werden müssen!

Der Unterschied wird am besten durch das Agrarprogramm selbst politisch klargelegt! Enthält es doch in seinen Hauptpunkten lauter „Verstaatlichungen“, die sämtlich überflüssig wären, wollte man sich auf die im prinzipiellen Teil geforderte Vergesellschaftung der Produktion berufen. Kurz, es kommt nicht darauf an, ob wir im Allgemeinen den Sozialismus erstreben, sondern ob nicht die Vergesellschaftung der Produktion durch Verstaatlichung des Grund und Bodens „im Rahmen der bestehenden Staats- und Gesellschaftsordnung“ vorbereitet werden soll? Und eine solche Forderung wäre allerdings vollkommen im prinzipiellen Geiste dieses Agrarprogramms, wenn es nur nicht gleichzeitig so kleinlich wäre.

Darum fordert es bloß die Vermehrung des öffentlichen, d. h. wenn es zur Ausführung kommt, doch hauptsächlich des staatlichen Grundeigentums. Aber da haben wir es ja doch. Denn was anderes als Verstaatlichung des Grund und Bodens ist es, wenn die Vermehrung des staatlichen Grundbesitzes gefordert wird? Nur hat das Programm eine allgemeine, klare und entschiedene Maßregel in eine kleinliche und unbestimmte verwandelt!

Warum tritt aber die Partei für die Verstaatlichung des Grund und Bodens nicht ein? Die Gründe sind bekannt. Erstens, weil dadurch in die Hände des kapitalistischen und speziell bürokratisch-militaristischen Staats ein ungeheure politische Macht gelegt wird, zweitens, weil ihm dadurch die Möglichkeit gegeben wird, das Volk finanziell auszubeuten, und drittens, weil das Schlussergebnis der ganzen Maßregel eine Umschreibung, keine Änderung der kapitalistischen Verhältnisse sein würde.

Aber wenn das für die Verstaatlichung des Grund und Bodens gilt, dann gilt es auch für die „Vermehrung des staatlichen Grundeigentums“, die nicht qualitativ, sondern quantitativ und durch ihre unbestimmte Fassung sich von dieser unterscheidet.

Die Kommission stellt unserer längst festgelegten Auffassung widersprechende Forderungen auf, wird sich aber dessen nur deshalb nicht bewusst, weil sie zugleich kleinlich sind.

Was nun die Gemeinde anbetrifft, ein Begriff, mit dem das Programm äußerst gerne operiert, so darf abgesehen schon von ihrer verschiedenen rechtlichen Stellung in den einzelnen Gegenden, nicht vergessen werden, dass auch in ihr die wirtschaftlichen Gegensätze und Streitigkeiten zum Ausdruck kommen. Meistens sind es die Großbauern, die in ihr die Herrschaft führen. Sie darf uns also als Ausdruck der Interessen der Bauernmasse nicht gelten.

Die „Erhaltung des öffentlichen Grundeigentums“ scheint harmlos zu sein. Sie ist es aber doch nicht ganz. Wenn z. B. die Gemeinden ihre Ländereien verkaufen, so haben sie triftige Gründe dafür, sei es, dass infolge der unter den Gemeindegliedern bestehen ökonomischen Verschiedenheit die gemeinsame Ausnutzung dieser Ländereien zu einem unleidlichen Zustand geworden ist, sei es, weil sie finanzielle Bedürfnisse dazu treiben. Und wer tritt dann als Käufer auf? Dieselben Bauern? Dieselben Bauern. Die würden sich aber bei uns schön bedanken, wenn wir ihnen diese Möglichkeit des Landzukaufs mit Gewalt wegnehmen würden. Im würdigen Anschluss daran wird in § 17 gefordert: Aufrechterhaltung und Erweiterung der bestehenden Waldnutzungs- und Weiderechte.

Wiederum die übliche Unbestimmtheit! Welche „Erweiterung“? Sollen wir die Waldnutzungs- und Weiderechte allgemein machen? Sollen wir den staatlichen und privaten Grundbesitz zwingen, sie den Bauern zu gewähren, zum großen Schaden für die rationelle Wildkultur und die rationelle Landwirtschaft.

Diese Rechte sind Überreste der früheren Gemeinwirtschaft, die der Entwicklung des kapitalistischen rationellen Großbetriebs im Wege stehen und deshalb von diesem bedrängt und verdrängt werden. In der sozialistischen Gesellschaft werden sie aber als besondere Rechtsinstitution nicht bestehen, weil wir dann eine gesellschaftliche Organisation der gesamten Landwirtschaft haben werden. Weshalb sollen wir uns nun in diesem Kampf der ökonomischen Entwicklung mit rechtlichen Überbleibseln einmischen, da wir, aus sozialpolitischen Gründen, uns hier nicht auf die Seite der vorwärts Drängenden stellen können?

Wie A[ugust] B[ebel] in seinem zweiten „Vorwärts“-Artikel hervorhebt, darf es für die praktischen Forderungen des Agrarprogramms maßgebend sein, dass „die natürliche Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft dadurch nicht gehemmt werde“. Und in der bürgerlichen Gesellschaft widersprechen die Waldnutzungs- und Weiderechte allerdings der „natürlichen Entwicklung“.

Der Rest der Forderungen des Agrarprogramms soll im nächsten Artikel besprochen werden.
 

[VII.]

{Wir veröffentlichen heute aus Parvus‘ Feder die Schlussbetrachtung:}

Das vorgeschlagene Agrarprogramm würde vor allem bedeutenden indirekten Schaden der Partei zufügen. Wir haben vorausgeschickt und dann im einzelnen nachgewiesen, dass durch die Stellung, die das Agrarprogramm der Landagitation gegenüber einnimmt, logischerweise auch unsere allgemeine Stellungnahme zu den verschiedenen Schichten der kapitalistischen Gesellschaft wird geändert werden müssen. Und das würde einen Bruch mit der bis jetzt eingeschlagenen, im Kampf bewährten und im Wesen des proletarischen Klassenkampfs begründeten sozialrevolutionären Taktik der Partei bedeuten.

Unterstützt man das Bauerntum durch Versicherungen, Verstaatlichung und dergleichen mehr in seinem Konkurrenzkampf gegen das Kapital, so ist nicht abzusehen, warum man nicht auch in Bezug auf das Handwerk und den Kleinhandel ähnlich verfahren sollte? Und wenn man die landwirtschaftlichen Produktivgenossenschaften dadurch begünstigt, dass man den Staat zwingt, ihnen seine Ländereien zu verpachten, warum soll man dann nicht auch die industriellen Produktivgenossenschaften unterstützen, etwa durch Gewährung von Staatskredit?

Eine Anzahl Forderungen des Agrarprogramms hat auch von vornherein eine über die Landwirtschaft weit hinausgehende Tragweite. So die Verstaatlichung der Mobilien- und Immobilienversicherung“ und auch die Verstaatlichung der Hypotheken.

Aber das Agrarprogramm würde auch keinen direkten Nutzen bringen. Was wir an ihm am meisten auszusetzen haben, ist nicht, dass es zu praktisch, sondern dass es entschieden durchaus unpraktisch ist. Und es ist unpraktisch, weil es zu wenig sozialrevolutionär ist.

Selbst wenn es möglich gewesen wäre, auf dem von dem Agrarprogramm betretenen Wege die Lage des Bauerntums zu verbessern, was würde die Folge sein?? Es würde höchstens der ökonomische Zustand erreicht werden, an dem sich das deutsche Bauerntum etwa vor einem Vierteljahrhundert befand, wo es noch weniger verschuldet, sein Besitz weniger zersplittert und die Weltmarktkonkurrenz weniger entwickelt war. Dann würde in ihm wieder der alte, zähe Glaube erwachen, auf dem Boden des Privateigentums innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft ein ruhiges und gesichertes Dasein führen zu können. Dann hätten wir wieder den „dicken, antikollektivistischen Bauernschädel“ vor uns, der undurchdringlich ist. Und mit der Anhänglichkeit an den Privatbesitz würde auch Anhänglichkeit des Bauern zum herrschenden Staat entfacht werden, da es ja dieser wäre, durch dessen Hilfe die Verbesserung seines Zustandes erreicht wäre.

Aber es kann die Aufgabe der Sozialdemokratie als proletarische Partei nicht sein, das Bauerntum mit dem Privateigentum und dem kapitalistischen Staat zu versöhnen, sondern die Aufgabe kann nur die sein, das Bauerntum in den Kampf gegen das Privateigentum an den Produktionsmitteln und den kapitalistischen Staat zu führen.

Wie oft wurde gesagt, der Antisemitismus breite das platte Land für die Sozialdemokratie vor? Und nun gehen wir aus, um dem Antisemitismus das platte Land abzuringen. Zu diesem Zwecke das Agrarprogramm. Und was bringt es dem Landvolk? Ökonomisch genau das gleiche wie der Antisemitismus, nur in verdünnter Form!

Die Kardinalforderung unseres projektierten Agrarprogramms, die Verstaatlichung der Hypotheken, ist auch im Programm der antisemitischen Deutschsozialen Partei enthalten. Nur fordert diese dabei noch „eine wirksame Wuchergesetzgebung“. In einem antisemitischen Wahlprogramm zu den [18]93er Wahlen wurde außerdem gefordert: „Festsetzung eines exekutionsfreien Ländereivermögens und Mindesteinkommens“, während das uns vorgeschlagene Agrarprogramm dem gegenüber nur das Vorkaufsrecht der Gemeinden bei Zwangsverkäufen aufzuweisen hat. Die Verstaatlichung der Feuer- etc. Versicherung ist wiederum bei den Deutschsozialen zu finden. Und wenn das Agrarprogramm die „Übernahme der Kosten für Bau und Instandhaltung der öffentlichen Verkehrsmittel (Bahnen, Straßen, Wege, Wasserläufe) sowie für Deiche und Dämme auf den Staat und das Reich“ fordert, so fordern diese schlechtweg: „Möglichste Verstaatlichung aller öffentlichen Verkehrsmittel.“

Welche Veranlassung hätte denn der antisemitische Bauer, auf Grund dieses Agrarprogramms zur Sozialdemokratie überzutreten? Und der Bauer, der zwischen Antisemitismus und Sozialdemokratie zu wählen hätte, würde sicher den ersteren wählen, weil dieser auch politisch, religiös und überhaupt kulturell sich seiner eigenen Auffassung anpasst.

Aber mit diesen alten Ladenhütern der bürgerlichen Parteien lockt man überhaupt keinen Hund mehr hinter dem Ofen vor. Dass der Bauer an diese Reformarbeit keinen rechten Glauben mehr hat, dass er durch die ökonomische Entwicklung in eine immer schärfere Opposition zu der kapitalistischen Produktion und zum kapitalistischen Staat gedrängt wird, das ist es ja eben, was ihn in der letzten Zeit der sozialdemokratischen Agitation mehr zugänglich gemacht hat.

Das Agrarprogramm ist deshalb nicht einmal der Ausdruck der Augenblickswünsche des Bauerntums und könnte darum nicht einmal einen Augenblickserfolg haben. Die Vermehrung des öffentlichen Grundeigentums, die vielerlei Verstaatlichungen, ausgenommen etwa die Hypotheken, Feldbereinigung, das alles lässt den Bauern ziemlich kühl. Der Bauer selbst wird durch die Macht der Verhältnisse mehr sozialrevolutionär als es das Programm der sozialrevolutionären Sozialdemokratie sein will.

Es ist darum durchaus falsch, die erwähnten Forderungen als das Ergebnis des praktischen Lebens zu betrachten. Sie haben mit ihm nichts zu tun. Sie sind einfach am grünen Tisch und in der Stube des bürgerlichen Gelehrten ausgedacht worden. Sie sind deshalb bodenlos utopisch. Aber freilich, es gibt Utopien verschiedener Art, und diese gehört nicht zu denjenigen, die mit mächtigem Adlerschwung sich bis zu den Wolken erheben, sondern zu jenen, die, wie eine zahme Gans, kraftlos über Hof und Misthaufen herumflattern.

Man hat sich, um die vom Agrarprogramm in Angriff genommene Verbesserung des „Zustandes der Landwirtschaft“ zu rechtfertigen, darauf berufen, dass wir ja auch die Lage der Arbeiterklasse innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft zu verbessern suchen und das als sozialrevolutionär betrachten. Dieser Analogieschluss, ist, so allgemein gefasst, falsch, weil er nicht die Verschiedenheit der ökonomischen Verhältnisse berücksichtigt.

Diese ökonomische Verschiedenheit drückt sich politisch folgendermaßen aus: der Lohnarbeiter kämpft gegen das Kapital, weil er aufhören will, Lohnarbeiter zu sein – der Bauer aber rebelliert gegen die kapitalistische Produktion, weil sie ihm die Möglichkeit raubt, Bauer zu bleiben. Darum ist er stets bereit, sich mit dieser zu versöhnen, wenn der Druck nachlässt.

Dazu kommt, dass, weil der Bauer Privateigentümer und Warenproduzent ist, man ihn als solchen nur schützen kann, indem man zugleich das Privateigentum und die Warenproduktion unterstützt. Aus der Hypothekenverstaatlichung, aus der Verstaatlichung der Vermögensversicherung würden der Großgrundbesitzer, der Fabrikant und der große Kaufmann in gleicher Weise Vorteil ziehen wie der Bauer. Dagegen, um sofort die Parallele zu ziehen, betrifft die gesetzliche Beschränkung der Arbeitszeit die Fabrikanten, Großkaufleute und Hauseigentümer nicht. Nichts zeigt klarer als das den Unterschied zwischen Bauernschutz und Arbeiterschutz. Dasselbe Verhältnis bedingt es, dass der Schutz des Bauerntums zum Mittel der kapitalistischen Ausbeutung wird, wie wir bei der Hypothekenverstaatlichung nachgewiesen haben. Das gleiche gilt von fast allen Verstaatlichungen in der kapitalistischen Gesellschaft. Und die „Vermehrung des öffentlichen Grundeigentums“ würde zweifellos dem verschuldeten Agrariertum willkommene Gelegenheiten geben, profitable Geschäfte mit dem Staat zu machen. So wird der Schutz des Bauerntums zum Schutz des Kapitals.

Währenddem also das Agrarprogramm im allgemeinen sich im Widerspruch zu dem revolutionären Charakter der Arbeiterbewegung setzt, begeht es noch andererseits im besonderen den entgegengesetzten Fehler, unser Verhalten der Arbeiterklasse gegenüber schablonenmäßig auf das Bauerntum zu übertragen.

Wir können den Bauern innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft nur dort schützen, wo er aufhört, Bauer zu sein, d. h. nicht als Privateigentümer und Warenproduzent, sondern als Bürger und Steuerzahler. Das ist auch das Gebiet, auf dem sich das Bauerntum mit der Arbeiterklasse begegnet, folglich mit der Sozialdemokratie.

Denn die Sozialdemokratie ist eine Arbeiterpartei und keine Volkspartei in dem Sinne einer einheitlichen Vertretung der Interessen des gesamten arbeitenden Volkes. Aus dem einfachen Grunde nicht, weil es in diesem Entwicklungsstadium der kapitalistischen Gesellschaft eine solche Einheitlichkeit der Interessen gar nicht gibt. An diesem Widerspruch geht die bürgerliche Demokratie zu Grunde: Weil sie alle unter einen Hut bringen will, laufen ihr alle auseinander.

Die Sozialdemokratie aber beruht auf der Erkenntnis, dass erst das klassenbewusste Proletariat eine soziale Revolution, deren Anfang, nicht Ende, die Verstaatlichung der Produktionsmittel ist, zu vollbringen hat, damit die ökonomische Solidarität des arbeitenden Volkes zustande komme. Ihre erste Aufgabe ist deshalb – die soziale Revolution; die Klasse, die sie vertritt – das Proletariat, und nur als Verbündete des Proletariats, unter dessen sozialrevolutionärer Führung, organisiert sie die übrigen Schichten des Volks.

So kennzeichnet sich also das vorgeschlagene Agrarprogramm: Es würde eine Bresche legen in die sozialrevolutionäre Taktik der Partei, ohne dass auch nur die geringste Aussicht wäre, auf diese Weise das Bauerntum zu gewinnen. Es ist unpraktisch, utopisch und zum Teil schablonenmäßig zugeschnitten. Dabei ist es in seinen Forderungen kleinlich, zaghaft und unbestimmt. Es raubt der Partei in hohem Grade die Widerstandskraft gegenüber den feindlichen Angriffen und setzt sie noch obendrein dem Hohn und Spott der Feinde aus.

Nicht die Kommission trifft die Schuld an diesem Agrarprogramme. Denn auf dem Wege, den sie beschritten hatte, konnte sie nichts Besseres zu Stande bringen. Das Agrarprogramm bedeutet vielmehr ein entschiedenes Fiasko jener gesamten Richtung innerhalb der Partei, die glaubt, das Bauerntum dadurch für die Sozialdemokratie gewinnen zu können, dass sie es künstlich konserviert. Und dass die „positiven“ Forderungen so wenig entschieden und so unbestimmt sind, ist sogar als gesunde Reaktion gegen diese Richtung zu betrachten. Dass sie nicht schlimmeres schuf, das rechnen wir der Kommission zum Verdienst an.

Dieses Programm ist unannehmbar. Darum würde die Kommission am besten tun, dieses Programm zurückzuziehen, zumal sie keineswegs daran gebunden ist, ein Programm zu diesem Parteitag zu liefern.

Würde aber dieses Agrarprogramm, was wir allerdings für gänzlich ausgeschlossen halten, vom Parteitag angenommen, dann ist es so gut wie sicher, dass die Süddeutsche Volkspartei, die jetzt ebenfalls an der Erweiterung ihres Programms arbeitet, in der Agrarfrage die Sozialdemokratie weit überholen würde. Wollen wir uns diese Blamage zuziehen?

Die Rücksicht auf den Raum der Leipziger Volkszeitung und darauf, dass der Verfasser diesmal seine persönliche Meinung als Mitarbeiter und nicht die der Redaktion zu vertreten hat, zwingt ihn, mit diesem negativen Resultat seine Replik abzuschließen, obwohl er sehr gut weiß, dass jede Kritik unbefriedigt lässt, wenn sie nicht sagt, wie anders die Sache gemacht sein soll. Doch bekommt er vielleicht noch Gelegenheit, auseinander zu setzen, wie nach seiner Auffassung ein sozialdemokratisches Agrarprogramm und eine sozialdemokratische Landagitation sich zu gestalten haben.

Vorläufig nur eins: die Sozialdemokratie ist kein politischer Versicherungsverein, der auf dem steilen Wege der geschichtlichen Entwicklung Ruhebänke für die Müden und Zurückstehenden aufstellt. Nicht das ist sie, sondern die große Einpeitscherin, Stürmerin, Vorwärtsdrängerin, die die politische Entwicklung beherrscht, weil sie sie begriffen hat.


Zuletzt aktualisiert am 15. April 2024