MIA > Deutsch > Marxisten > Pannekoek
Aus: Funken 3, Nr. 1 (1952): S. 14–5.
HTML-Markierung und Transkription: J.L.W. für das Marxists’ Internet Archive.
Zu den Ausführungen des Genossen Kondor über Bürgerliche oder Sozialistische Organisation? in Nummer 7 der Funken vom Dezember 1951 möchte ich einige kritische und ergänzende Bemerkungen machen.
Wo er zuerst die heutige Rolle der Gewerkschaften (und Parteien) kritisiert, hat er ganz recht. Mit den Änderungen in der Wirtschaftsstruktur muß sich auch die Funktion der verschiedenen gesellschaftlichen Gebilde ändern. Die Gewerkschaften waren und sind unentbehrlich als Kampforgane der Arbeiterklasse unter dem Privatkapitalismus. Unter dem Monopol- und dem Staatskapitalismus, wohin die kapitalistische Entwicklung immer mehr steuert, werden sie zu einem Teil des führenden bürokratischen Apparates, der die Arbeiterklasse in das Ganze einzugliedern hat. Als von den Arbeitern selbst aufgebaute und gepflegte Organisationen sind sie besser als irgend ein Zwangsapparat geeignet, die Arbeiterklasse möglichst reibungslos als Glied in die soziale Struktur einzubauen. In der heutigen Übergangszeit tritt der neue Charakter immer stärker hervor. Diese Erkenntnis zeigt, daß es ein fruchtloses Bemühen sein wird, das alte Verhältnis wieder herzustellen. Aber sie kann zugleich dazu dienen, den Arbeitern eine größere Freiheit in der Wahl ihrer Kampfformen gegen den Kapitalismus zu geben.
Die Entwicklung zum Staatskapitalismus – in Westeuropa vielfach unter dem Namen Sozialismus propagiert – bedeutet nicht Befreiung der Arbeiterklasse sondern größere Unfreiheit. Was die Arbeiterklasse in ihrem Kampfe erstrebt, Freiheit und Sicherheit, Meister Sein über das eigene Leben, ist nur möglich durch Herrschaft über die Produktionsmittel. Staatssozialismus ist nicht Herrschaft der Arbeiter, sondern der Staatsorgane über die Produktionsmittel. Wenn zugleich demokratisch, bedeutet er, daß die Arbeiter selbst ihre Herren wählen dürfen. Direkte Verfügungsgewalt der Arbeiter über die Produktion bedeutet dagegen, daß die Belegschaften die Betriebe dirigieren und von unten auf die höheren und zentralen Organisationen aufbauen. Das ist es, was als System der Arbeiterräte bezeichnet wird. Der Autor hat daher vollkommen recht, wenn er diese als das neue und künftige Organisationsprinzip der Arbeiterklasse hervorhebt. Es steht als organisierte Selbstverwaltung der produktiven Massen scharf der Organisation von oben im Staatssozialismus gegenüber. Aber dabei soll man eins im Auge behalten.
„Arbeiterräte“ bedeutet nicht eine bestimmte sorgsam ausgeklügelte Organisationsform, die nun noch weiter im Detail auszuarbeiten wäre; es bedeutet ein Prinzip, das Prinzip der Verfügungsgewalt der Arbeiter selbst über Betrieb und Produktion. Seine Verwirklichung ist nicht Sache der theoretischen Diskussion über die beste praktische Ausführung; sie ist Sache des praktischen Kampfes gegen den Herrschaftsapparat des Kapitalismus. Die Losung der Arbeiterräte bedeutet heutzutage nicht brüderliches Zusammentreten zu genossenschaftlicher Arbeit; sie bedeutet Klassenkampf – die Brüderlichkeit findet in diesem Kampf ihren Platz – sie bedeutet revolutionäre Aktion der Massen gegen die Staatsgewalt. Revolutionen werden allerdings nicht gemacht; sie entspringen spontan aus unhaltbaren Verhältnissen, aus Krisenzuständen. Sie entstehen nur, wenn dieses Gefühl der Unhaltbarkeit in den Massen lebt, und wenn zugleich ein gewisses einheitliches Bewußtsein darüber vorhanden ist, was zu tun sei. Hier liegt die Aufgabe der Propaganda, der öffentlichen Diskussion. Und diese Aktionen können nur einen bleibenden Erfolg haben, wenn in breiten Schichten der Arbeiter Einsicht in Charakter und Ziel ihres Kampfes besteht. Darin liegt die Notwendigkeit, die Arbeiterräte zum Thema der Diskussion zu machen.
So erscheint die Idee der Arbeiterräte nicht als ein Programm zur praktischen Ausführung – morgen oder in ein paar Jahren –, sondern als eine Richtlinie für den langen und schweren Befreiungskampf, der der Arbeiterklasse noch bevorsteht. Zwar kennzeichnete Marx ihn einmal mit dem Worte: die Stunde des Kapitalismus schlägt; aber er hat keinen Zweifel darüber gelassen, daß diese Stunde eine ganze Geschichtsepoche bedeutet.
Zuletzt aktualisiert am 4. Januar 2020