Anton Pannekoek

 

Der Deutsche Syndikalismus

(29.11.1913)


Zuerst erschienen in der Presse Korrespondenz der „Bremer Bürgerzeitung“ vom 29.11.1913.
Abgedruckt in Claudio Pozzoli (Hrsgb.): Jahrbuch Arbeiterbewegung 1975“ Frankfurt a. M.: Fischer, 1975, S. 151–154.
HTML-Markierung und Transkription: J.L.W. für das Marxists’ Internet Archive.


Der Syndikalismus, der früher nur als eine speziell französische und italienische Erscheinung bekannt war, hat sich seitdem auch über andere Länder verbreitet und sich sogar neulich in einer internationalen Zusammenkunft eine Art gemeinsames Programm gegeben. In England und in Amerika wird eine starke syndikalistische Propaganda getrieben, die auf die Ideen des Proletariats sicher ihren Einfluss ausgeübt hat. In Deutschland ist der Syndikalismus wohl am schwächsten; und wenn das Wort in den letzten Jahren oft erwähnt wurde, so nur, weil dem linksradikalen Flügel der Partei dieser Name oft als Vorwurf an den Kopf geworfen wurde. Aber nicht nur durch seine Schwäche unterscheidet sich der deutsche Syndikalismus von dem ursprünglichen französischen, der die Theorie und die Prinzipien in voller Reinheit entwickelte, sondern auch durch seinen besonderen Charakter. In jedem Lande trägt die syndikalistische Richtung ein eigenes Gepräge; in England ist sie etwas ganz anderes als in Frankreich und enthält als wichtigsten Agitationspunkt die Forderung der Zentralisation der Gewerkschaften zu einem Riesenverband, also den Kampf gegen die Fachzersplitterung. Während der französische Syndikalismus als Reaktion und Gegensatz zu der Politik der sozialdemokratischen Partei emporgekommen ist, beruht die Existenz des deutschen Syndikalismus auf seinem Gegensatz zu der Zentralisation der großen Gewerkschaftsverbände. In Frankreich trat der Syndikalismus als Reaktion gegen den Ministerialismus und die Blockpolitik auf, die, auf demokratische Illusionen sich stützend, die freie Aktivität der Gewerkschaften durch Staatseinmischung zu regeln, d. h. zu hemmen versuchten. In der Abwehr formulierte die kämpfende Gewerkschaftsbewegung die Lehre, dass die Politik der Parlamente und Parteien nichts mit der Klassenbewegung des Proletariats zu tun habe, und dass nur diese Klassenbewegung, die sich in dem gewerkschaftlichen Kampf gegen das Unternehmertum äußerte, zur Befreiung von der Kapitalherrschaft führen könne. Die Tatsache, dass sozialistische Parlamentarier mit. den bürgerlichen Kollegen hinter den Kulissen verhandelten, mit ihnen einen Block bildeten und als Minister die Regierungsmacht teilten – alles Folgen der unentwickelten kleinbürgerlichen Verhältnisse – bewies schlagend, dass die sozialistische Partei keine Vertretung der in unversöhnlicher Feindschaft gegen das Kapital kämpfenden Arbeiterklasse sein konnte. Gegenüber der sozialdemokratischen Lehre, dass die politischen Parteien und ihre Kämpfe Vertreter der kämpfenden Klasse sind, stellte der Syndikalismus aus der französischen Praxis heraus den Satz auf: die Parteien vereinigen die Menschen mit gleichen Anschauungen, die Klassen die Menschen mit gleichen Interessen. Die Interessen können nur durch Klassenorganisationen vertreten werden; die Gewerkschaften haben den ganzen proletarischen Kampf in revolutionärer Weise gegen Unternehmertum und Staat zu führen. Dass diese Gewerkschaftsbewegung, wie es überall im Anfang der Entwicklung der Fall ist, noch wenig zentralisiert war, schwache Kassen hatte, auf spontane Ausbrüche und freiwillige Sammlungen zur Unterstützung rechnete, schien eine Wirkung der revolutionären direkten Aktion, wurzelte aber in Wirklichkeit in den unentwickelten wirtschaftlichen Verhältnissen mit stark zersplitterter Industrie.

In Deutschland ist es dagegen auch dem blödesten Auge erkennbar, dass die politischen Parteien und ihre Kämpfe Kämpfe der Klassen sind mit ihren widerstreitenden Interessen. Und noch viel klarer ist es, dass der parlamentarische Kampf der Sozialdemokratie ein Stück Klassenkampf des Proletariats ist. Die Theorie des Syndikalismus passt absolut nicht zu der deutschen Wirklichkeit; jeder sieht hier, dass sie falsch ist. Weil hier die Politik der Sozialdemokratie prinzipiell und nicht reformistisch ist, fehlt die politische Grundlage zu einem deutschen Syndikalismus; das antipolitische Prinzip entnimmt er einfach der französischen Theorie und er sucht seine eigene Kraft in seinen] Gegensatz zum Reformismus der deutschen Gewerkschaftsbewegung. Seine Anhänger mögen sich gelegentlich Syndikalisten nennen, um ihre Verwandtschaft mit jener Richtung in anderen Ländern auszudrücken; nach ihrer Praxis bezeichnen sie sich als „Lokalisten“ und drücken damit in dem Gegensatz zu der Zentralisation der großen Verbände ihr wichtigstes Agitationsprinzip aus.

Allerdings liegt auch hier ein gewaltiger Unterschied zwischen Deutschland und Frankreich. Hier eine Industrie, die fast das ganze Land gleichmäßig bedeckt, und die nicht nur zahlenmäßig, sondern auch organisatorisch zu der höchst entwickelten der Welt gehört. Und dem entsprechend haben sich auch die Gewerkschaften mächtig erhoben, sind sie zu einheitlichen, für das ganze Land fest zentralisierten Riesenorganisationen mit starken Kassen geworden. Wie ist es nun möglich, dass demgegenüber ein primitives Organisationsprinzip, das zu unentwickelten Verhältnissen passt, im Ernste auch nur erwähnt und empfohlen werden kann? Um so mehr, da die praktische Entwicklung selbst den alten Kampf zwischen Lokalisten und Zentralisten als rein organisatorische Frage schon längst entschieden hat.

Der Grund liegt in den inneren Gegensätzen der Gewerkschaftsbewegung selbst. Wenn von der Seite der Lokalisten zur Bekämpfung des Prinzips der Zentralisation immer darauf hingewiesen wird, wie hier die Vorstände über die Lohnkämpfe zu beschließen haben, und dabei jedes Mal als Bremser auftreten, während die Arbeiter am Orte selbst, die kämpfen wollen, sich dem Diktat der Führer zu beugen haben – so treffen sie damit gerade die Stelle, wo sich die stärksten Reibungen zwischen Massen und Führern zeigen. Ihre Kritik knüpft gerade dort an, wo die größte Missstimmung und Opposition innerhalb der Verbände herrscht, und daher wäre es nicht ausgeschlossen, dass sie bei einer noch schärferen Zuspitzung dieses Kampfes gelegentlich mal bedeutenden Zuwachs erhalten könnten. Es zeugt jedoch von großer Oberflächlichkeit, wenn man die Quelle der mangelnden Kampfeskraft nur in der Kampfabneigung der Vor stände sucht. Die tiefste Ursache liegt in der stark gestiegenen Macht des Feindes, des Unternehmertums, das sich gegen die Arbeiter kräftig organisiert hat. So sehr wir innerhalb unserer Arbeiterbewegung darüber streiten, ob die Führer nicht zu ängstlich sind und ob mit mehr Angriffskraft nicht mehr zu gewinnen wäre, so kann man doch im allgemeinen sagen: Nicht weil die Führer ängstlich sind, wird weniger gekämpft und gewonnen, sondern weil durch die Verhältnisse mit den bisherigen Kampfmethoden wenig zu gewinnen ist, deshalb sind die Führer ängstlich. Nur wer wie der Syndikalismus das Symptom für die Ursache hält, kann glauben, dass durch einfache Beseitigung der Zentralisation und der Führermacht die alte Angriffskraft wieder hergestellt wird. Schlimmer noch; damit würde gerade das Gegenteil erreicht werden. Die Ursache unserer Schwäche ist die gestiegene Macht des Feindes; sollen wir nun unsere eigene Macht noch mehr schwächen, indem wir die großen fest gefügten Verbände in getrennte lokale Gruppen auflösen? Während die Konzentration und die Organisation des Kapitals so gewaltig wird, dass sie über die Macht der Arbeiterverbände hinauswächst, sollen wir zu der primitiven Organisationsform aus der Zeit des Kleinkapitalismus zurückkehren? Dieser Widersinn ist so augenfällig, dass sich dadurch auf einmal erklärt, weshalb der Lokalismus aus den inneren Zerwürfnissen der Gewerkschaftsbewegung doch so wenig Gewinn gezogen hat. Gelegentlicher Unmut kann nicht die Stimme zum Schweigen bringen, die aus Wirtschaft und Technik alltäglich zu den Arbeitern spricht.

Umgekehrt muss es sein. Nicht zurück, sondern vorwärts geht der Weg. Sind wir zu schwach gegen die stark gewachsene Macht des Unternehmertums, dann müssen wir uns stärker machen. Natürlich werden und müssen die Verbände noch größer und stärker werden, wie auch ihre Finanzen; darauf allein kann man sich allerdings nicht vertrösten lassen, da zugleich die Organisation und die Finanzkraft des Unternehmertums wächst, wahrscheinlich noch rascher wächst. Vor allem müssen die Formen für eine größere Aktionskraft gesucht werden. Denn nur durch Kampf, durch Aktion sind Erfolge zu erzielen. Wenn die Syndikalisten die revolutionäre Aktivität predigen, so ist das sicher ein gutes und notwendiges Prinzip; auch ist es richtig, dass die Quelle aller Aktionskraft in den Mitgliedern steckt, die die Ausbeutung direkt erleiden, und dass also der Einfluss der Mitglieder gestärkt werden muss. Wenn aber der Syndikalismus dazu die Verbände zerschlagen will, so wird zugleich die Kraft vernichtet, die allein das gute Prinzip erfolgreich machen kann. Jedes für sich allein genügt nicht; die revolutionäre Aktivität muss mit der Massenkraft der festen zentralen Organisation vereinigt werden – da liegt die Zukunft der deutschen Arbeiterbewegung, da liegt auch das Problem der Taktik, das jetzt so viele Köpfe bewegt.

Wenn auch die Kampfformen, die die Taktik der Gewerkschaften über die bisherigen Methoden erweitern werden, nicht aus dem Kopfe ersonnen werden, sondern nur aus der Praxis entstehen können, so zeigt die Praxis doch schon auf die Richtung hin, in der sie liegen. Nicht Einschränkung, sondern Erweiterung des Kampffeldes, Verallgemeinerung des Kampfes, – dorthin geht der Weg zur größeren Kraftentfaltung; Die größere Kraft liegt dabei nicht nur in den größeren Massen, die dann auftreten, sondern vor allem darin, dass diese Bewegungen über das rein gewerkschaftliche hinaus einen politischen Charakter bekommen, der ihnen eine größere Stoßkraft verleiht.


Zuletzt aktualisiert am 30. Dezember 2019