Franz Mehring

 

Die Wende des Jahrhunderts

(20. Dezember 1899)


Die Neue Zeit, 18. Jg. 1899/1900, Erster Band, S. 385–388.
Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 316–319.
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Als der Kaiser und König Sigismund 1414 im Kleide eines Diakonus das Konzil von Konstanz eröffnete, auf dem der arme Hus verbrannt werden sollte, und in seiner Eröffnungsrede die hochwürdigsten Väter ermahnte, die fluchwürdige Spaltung auszurotten, die er nefanda schisma nannte, während es nefandum schisma hätte heißen müssen, erinnerte ihn sanft ein Kardinal: Domine, schisma est generis neutrius (Majestät, Schisma ist sächlichen Geschlechts). Der gute Kaiser aber erwiderte im ganzen Stolze seines Majestätsbewusstseins: Ego sum Rex Romanus et super grammaticum (Ich bin Römischer König und stehe über der Grammatik).

Die kleine Anekdote kommt uns unwillkürlich in den Sinn, da wir die Wende des Jahrhunderts feiern sollen, obgleich noch ein Jahr fehlt, ehe das Jahrhundert abgelaufen ist. Kaiser und Papst haben es so verfügt; sie sind Herren auch über den Kalender. Auch über den Kalender oder richtiger noch über den Kalender, gleichwie Kaiser Sigismund vor bald sechs Jahrhunderten noch mit dem grammatikalischen Geschlecht des schisma spielen konnte, aber mit dem schisma selbst nicht mehr fertig wurde. So auch können Kaiser und Papst den Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts um ein Jahr vorrücken, aber den Strom der Zeit beherrschen sie nicht mehr und würden ihn selbst dann nicht mehr beherrschen, wenn sie mit den Ketzern noch so kurzen Prozess machen könnten wie weiland Kaiser Sigismund in seinem geistlichen Habit.

Jedoch in dieser Kalenderfrage fügen wir uns gern ihrem Willen und begrüßen das zwanzigste Jahrhundert lieber zu früh als zu spät. Es wird ein Jahrhundert der Erfüllung sein, wie das neunzehnte Jahrhundert ein Jahrhundert der Hoffnung war. Ja, der Hoffnung: nicht der tränen- und weichseligen Hoffnung, die ihre Zukunft in die Hände übermenschlicher Mächte befiehlt, sondern der Hoffnung, die sich mit starker Hand rüstet, die Geschicke der Menschheit zu erfüllen. Überreich war dies Jahrhundert an Fortschritten auf allen Gebieten menschlicher Tätigkeit, an Fortschritten, die selbst die kühnsten Geister nicht einmal ahnten, als es zuerst aus der Zeiten Schoße herauf graute, aber sie alle überragt, wie die Krone des Baumes seinen Stamm und seine Wurzeln, der proletarische Emanzipationskampf als die nicht mehr mythische, sondern tatsächliche und wahrhaftige Erlösung des Menschengeschlechts. Die Feuertaufe dieses Kampfes, sein rasches und unwiderstehliches Vordringen, wenn auch noch nicht zum Siege selbst, so doch zur unerschütterlichen Gewissheit des Sieges, gibt dem neunzehnten Jahrhundert seine historische Weihe, die es hoch emporhebt über alle seine Vorläufer, gibt ihm seine weltgeschichtliche Stellung als Markstein, von wo aus erst die wirkliche Geschichte der Menschheit beginnt.

Es ist kaum weniger verkehrt, wenn radikale Naturforscher über den Begriff der „Weltgeschichte“ spotten, die doch nur eine winzige Spanne der Zeit ausfülle, seit der es organisches Leben auf der Erde gebe, als wenn der bürgerliche Philister sich mit der „Weltgeschichte“ abfindet durch den Trost, dass es, wenigstens im ganzen und großen, immer so gewesen sei und immer so bleiben werde, wie heute. Sowenig die Naturwissenschaft schon die absolute Länge des Lebens auf der Erde festzustellen vermag, sosehr die Schätzungen auseinander gehen von 25 bis 1.400 Millionen Jahre, so lässt sich doch die relative Länge der verschiedenen Erdperioden seit Entstehung des organischen Lebens ungefähr abschätzen, und sie ergibt, wenn man 100 Jahrmillionen als Minimalzahl annimmt, für das Zeitalter des Menschen mindestens ein Zehntel Million, also 100.000 Jahre; von denen wieder etwa 6000 auf die „Weltgeschichte“ fallen. Ein jüngerer Naturforscher hat neuerdings die Minimalzahl von 100 Jahrmillionen auf die Dauer eines Tages von 24 Stunden reduziert; dann entfallen auf die Periode des Menschen 2 Minuten und auf die „Weltgeschichte“ nicht mehr als 5 Sekunden. So geeignet diese Ziffern sind, den Philisterwahn zu erschüttern, als bestände die Philisterwelt von Ewigkeit zu Ewigkeit, sosehr können sie irreleiten, wenn sie dazu benutzt werden sollen, die historische Entwicklung des Menschengeschlechts zu verkleinern als ein winziges Nichts auf einem winzigen Stäubchen, wie der Erdball im Weltall sei.

Eben die Erkenntnis der Natur, die in diesem Jahrhundert so ungeheure Fortschritte gemacht hat, erwächst erst aus der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft, oder um diesem Gemeinplatz seinen bestimmten Sinn zu geben, aus den Klassenkämpfen, die den Inhalt dessen bilden, was wir Weltgeschichte zu nennen gewohnt sind. Die Spaltung der menschlichen Gesellschaft in Klassen löste die Nabelschnur, die den Menschen mit der Natur verband, und machte ihn aus ihrem Knechte zu ihrem Herrn: Mit jedem Fortschritt der Produktionsweise schritt die Naturwissenschaft vorwärts. Gewiss wirkte die Naturwissenschaft dann auch wieder befruchtend auf die Produktionsweise zurück, in jenem dialektischen Wechsel, der in der Geschichte wie in der Natur herrscht, aber den ursprünglichen Anstoß gab immer die historische Entwicklung der Produktionsweise. Dies Verhältnis verkennen heißt im letzten Grunde den Naturwissenschaften ihre befreiende Kraft nehmen, was sich rein äußerlich schon dadurch kundgibt, dass so manche bedeutenden Naturforscher sogar auf dem eigensten Gebiet ihrer Wirksamkeit zu Dunkelmännern geworden sind und übernatürliche Mächte in die Natur einzuführen versucht haben, oder aber sich in ohnmächtigem Zorne gegen das empören, was sie nur als unverbesserliche Dummheit der Menschen aufzufassen wissen. Deshalb ist es unzutreffend, in den Fortschritten der Naturwissenschaften, die das neunzehnte Jahrhundert gezeitigt hat, so gewaltig sie sind und so unermessliche Fernsichten sie eröffnen, seinen gipfelnden Punkt zu erblicken. Der Schwerpunkt des Jahrhunderts ist vielmehr der Emanzipationskampf des modernen Proletariats, der die Vorgeschichte der Menschheit abschließen, das nefandum schisma der Klassen aufheben, die Menschheit zur Herrin ihrer Produktionskräfte machen und damit auch erst den Naturwissenschaften jene vollkommen ebene Bahn eröffnen wird, auf der sie nicht mehr stolpern können.

Das moderne Proletariat ist der Träger der modernen Produktionsweise, der das neunzehnte Jahrhundert alle seine ungezählten Wunder verdankt. Die Frage, die vor achtzig Jahren St.-Simon aufwarf, woran Frankreich mehr verlieren würde, ob an dreitausend seiner hervorragendsten Fürsten und Prinzen, Generale und Minister, Geistlichen und Richter oder dreitausend seiner tüchtigsten Arbeiter, ist für die modernen Kulturländer längst keine Frage mehr. Keine Klasse der Bevölkerung ist für die Erhaltung und Fortbildung der menschlichen Kultur so unentbehrlich wie das Proletariat; auch die Leiter des Produktionsprozesses nicht, die je länger je mehr zu seinen nominellen Leitern werden oder schon geworden sind. Hierin wurzelt die völlige Unbesiegbarkeit des proletarischen Emanzipationskampfes; eher mag man noch glauben, dass sich die Rothschild zu mittelalterlichen Schutzjuden oder die Krupp zu hörigen Handwerkern zurückentwickeln werden, als dass sich die moderne Arbeiterklasse mit jener Rolle gut behauster, gut gekleideter und gut gemästeter Sklaven bescheiden wird, die ihre bürgerlichen Gönner ihr etwa einräumen möchten, nachdem sie eingesehen haben, dass die bürgerliche Herrlichkeit noch billiger nun schon gar nicht zu erhalten sein möchte.

Von dieser Illusion sollten verständige Politiker durch das ablaufende Jahrhundert gründlich kuriert worden sein. In seinen Anfängen waren die ehrlichsten Herzen und die erleuchtetsten Geister, die sich im Schoße der herrschenden Klassen je für das Los des Proletariats erwärmt haben, von dessen völliger Ohnmacht noch so gänzlich überzeugt, dass sie ihm nur durch den Aufbau einer Idealwelt helfen zu können glaubten; heute aber ist der proletarische Emanzipationskampf schon in allen Kulturvölkern zum Angelpunkt der ganzen Politik geworden. In der gesamten Geschichte findet sich kein zweites Beispiel dafür, dass sich eine unterdrückte Klasse so großartig und überwältigend zum Sturze ihrer Unterdrücker entwickelt hat; selbst die Bourgeoisie, die im revolutionären Vorwärtsmarschieren doch auch nicht gerade faul gewesen ist, kommt dagegen nicht entfernt auf: Nach den Kämpfen eines halben Jahrtausends ist sie trotz ihrer ungeheuren Machtmittel mit den Resten des Feudalismus noch immer nicht fertig geworden. Und wer will im Ernste behaupten, dass sich die modernen Arbeiter nach so ungeheuren, historisch schlechthin beispiellosen Erfolgen selbst um den Siegespreis prellen werden, an den sie schon mit der Hand rühren.

Erklärlich wird jene Illusion nur durch den äußerlich unscheinbaren Gang, den der historische Siegeszug des Proletariats dem oberflächlichen Beobachter darbietet. Solch ein Beobachter mag leicht nur viel Lärm hören und viel Staub sehen; für ihn wechseln kleine und unbedeutende Erfolge mit schweren Niederlagen; unter den kräuselnden Strudeln und Wellen der Oberfläche vergisst er, was in der purpurnen Tiefe des Stromes lebt und webt. Selbst wer mitten in der Bewegung steht, wird wohl durch die schwankenden Erscheinungen des Tages beirrt; unmöglich kann ein so ungeheurer Kampf, der die Truppen selbst erst schult, die schon um den Sieg kämpfen müssen, frei von manchen Zwischenfällen sein; je tiefer die ganze Gesellschaft von diesem Kampfe ergriffen wird, um so vielseitiger wirkt sie auf ihn zurück. Da ist denn nichts geeigneter, die Herzen von allen Sorgen und die Geister von allen Zweifeln zu befreien, als ein Blick auf die durchlaufene Bahn, von einer so hohen Warte aus, wie die Wende des Jahrhunderts immerhin ist.

Es ist mächtig vorwärts gegangen, und es wird je länger je mächtiger vorwärts gehen. Vielleicht nicht immer in ununterbrochenem, vielleicht auch nicht in so schnellem Siegeslauf, dass schon das zwanzigste Jahrhundert die Schlacht um den Birkenbaum sehen wird. Kein noch so zuversichtlicher Prophet kann darüber zuverlässige Auskunft geben. Aber mit freudigem Mute und stolzer Zuversicht überschreitet das klassenbewusste Proletariat die Schwelle des zwanzigsten Jahrhunderts. Wer zu seiner Fahne schwört, hat ein Ideal, wie es keine Vorzeit größer gekannt hat, und besitzt eine Bürgschaft des Sieges, wie sie der genialste Eroberer noch nie besessen hat. Er weiß, wofür er lebt, und im neuen Jahrhundert gilt ihm, wie im alten, der frohgemute Befreierruf: Es ist eine Lust zu leben!


Zuletzt aktualisiert am 11. Juni 2024